Imaginierte Kolonien im Treptower Park

Koloniale Ikonen auf Bildpostkarten zur Ersten Deutschen Kolonialausstellung 1896

Der Journalist Paul Lindenberg betrat 1896 durch ein „phantastisch mit verzerrten Masken und Palmwedeln“ geschmücktes Torhaus die Erste Deutsche Kolonialausstellung im Treptower Park, wie er es in dem kurz darauf veröffentlichten „Pracht-Album photographischer Aufnahmen der Berliner Gewerbe-Ausstellung“ beschrieb.[1] Eine Abbildung dieses Torhauses findet sich auf einer Postkarte des Berliner Verlags Johannes Miesler. Mitte der 1890er Jahre war die Kunstanstalt J. Miesler eines der erfolgreichsten Unternehmen in der Anwendung des chromolithografischen Druckverfahrens, durch das „die Bildpostkarte zum visuellen Massenmedium der Individualkommunikation wie zum Propagandamedium aufstieg“.[2] Miesler war 1896 offizieller Werbepartner der Kolonialausstellung, die zwischen dem 1. Mai und dem 15. Oktober als Teil der Berliner Gewerbe-Ausstellung im Treptower Park stattfand.[3]

Die Historikerin Anne Dreesbach zeigte in ihrer kulturgeschichtlichen Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung und Inszenierung der Ausstellung von Menschen in Deutschland zwischen 1870 und 1940, dass durch die Erste Deutsche Kolonialausstellung einerseits „die breite Bevölkerung für den kolonialen Gedanken begeister[t]“ und andererseits „einem Publikum aus Wirtschafts- und Handelskreisen die großen Möglichkeiten wirtschaftlicher Erschließung der Kolonien vor Augen“ geführt werden sollten.[4]

In den 1890er Jahren wandelte sich die Diskussion um die „koloniale Sache“ aufgrund wirtschafts- und außenpolitischer Faktoren.[5] Die bereits seit den Anfängen des deutschen Kolonialismus um 1884 vorhandenen kritischen Stimmen in einigen Parteien, insbesondere bei den Linksliberalen und der SPD, erhielten immer mehr Zuspruch. Die Veranstalter der Ausstellung, Angehörige politischer und wirtschaftlicher prokolonialer Kreise, wollten dieser Entwicklung entgegenwirken.[6] Der propagandistische Charakter der Ausstellung geht unter anderem aus dem Buch „Deutschland und seine Kolonien im Jahre 1896“ hervor, das die Veranstalter als „Amtlichen Bericht“ veröffentlichten: „[W]ährend auf der einen Seite die leider noch immer vorhandene Unkenntnis grösserer Kreise zu besiegen war, konnte man auf der anderen die Hoffnung hegen, die Gegner der kolonialen Sache von der Unrichtigkeit ihrer Ansichten zu überzeugen.“[7]

Im Rahmen der Ausstellung sollten rund zwei Millionen Besucher:innen sowohl durch die Kulissen im Treptower Park als auch durch Abbildungen auf Werbemedien wie den Karten Mieslers von der „kolonialen Sache“ überzeugt werden. Wie jedoch versuchte die Kunstanstalt, die in ihrer Rolle als Werbepartner den Zielen des Veranstalters verpflichtet war, für die „koloniale Sache“ und gleichzeitig für einen Besuch der Veranstaltung zu werben?

Auswahl und Zusammenstellung der einzelnen Motive waren die entscheidenden Faktoren. Sie hoben die Unterscheidungen zwischen der Repräsentation kolonialer Imaginationen und der Realität der Kolonialausstellung auf, indem die Kolonien über die Sujets der Bildpostkarten direkt in den Treptower Park versetzt wurden. Die Postkarten bildeten nicht nur die kunstvoll ausgestalteten Kulissen der Ausstellung ab, sie erschufen ein imaginiertes Idealbild der deutschen Kolonien. Die in der Ausstellung lediglich abstrakt zu greifende Veranschaulichung der Kolonialgebiete wurde in den Abbildungen zu einer scheinbar authentischen und geschlossenen Lebenswelt aufgewertet. Der vorliegende Text zeigt diese Verbildlichung eines „idealen“ Kolonialreichs am Beispiel einer Postkarte, auf der indigene Kulturgüter und -praktiken dargestellt und mit der „zivilisatorischen Mission“ an die Besucher:innen verknüpft wurden, weitere Kolonialgebiete zu erobern.

 

Besucher:innen als „Conquerors“

Der Soziologe George Steinmetz stellte in seiner Arbeit über die Gewerbeausstellung folgende These auf: „Visitors to the 1896 colonial exhibit were […] given multiple opportunities to identify with the colonial empire, to absorb specific messages, and to imagine themselves playing diverse roles in the colonies.“[8] Eine dieser Rollen war laut Steinmetz die des „conqueror“, der in fremde Gebiete „vordrang“, sie in „Besitz nahm“, „zivilisierte“, das deutsche Kolonialreich somit ausweitete und seine Wirtschaftsmacht stärkte.

Um den Prozess des „Eroberns“ im Treptower Park erlebbar zu machen, brauchte es eine Inszenierung, in der die Besucher:innen scheinbar fremdes, „unzivilisiertes“ Territorium betraten. Die erste Hälfte der Kolonialausstellung, die sogenannten Eingeborenen-Dörfer, sollte diesem Zweck dienen. Bei einem Besuch des „Dualla-Dorfs“, der „Togo-Hütten“, der „Wohnstätten der Papuas“ sowie der Festung „Quikuru qua Sike“ ließ sich ein imaginiertes Kolonial-Reich erkunden.[9] So schrieb beispielsweise der Schriftsteller Julius Stinde 1897 aus der Sicht einer fiktiven Besucherin der Ausstellung über das Nacherleben eines imaginierten Sieges der deutschen Kolonialtruppen beim bloßen Anblick der Kulissen der „Quikuru qua Sike“: „Der Sieg war unser und die Kriegsentschädigung wurde in Elfenbein ausgezahlt. Aus dem Elfenbein werden Klaviertasten gesägt und die Klaviere gehen wieder nach Afrika zur Verbreitung der Kultur.“[10]

Auch die Bildpostkarten Mieslers sollten Gefühle dieser Art hervorrufen. Die Karte, die in diesem Text untersucht wird, bildete das Eingangsportal zu den „Eingeborenen-Dörfern“ in Form einer kolorierten Zeichnung ab. Die Auswahl und Zusammenstellung der einzelnen Motive waren auch in diesem Fall entscheidend für die beabsichtigte Wirkung der Bildinhalte. Gleich der Ausstellungskonzeption erweckten sie den Eindruck eines fremden, „unzivilisierten“ Landes, in das die Besucher:innen vordringen konnten; das ungeahnte Reichtümer barg und nur darauf wartete, von den Deutschen kolonisiert zu werden.

 

Das Torhaus

Gezeichnete Postkarte, auf der Schrift, eine Hütte und ein Mann mit Bastrock, Schild und Speer zu sehen sind.

Abb. 1: Digitalisat einer der Postkarten Mieslers aus dem Online-Archiv des Museum of Fine Arts Boston:
Deutsche Kolonial-Ausstellung, Berlin 1896, MFA Boston, Prints and Drawings, 2014.6725,
https://collections.mfa.org/objects/626255/deutsche-kolonialausstellung [10.01.2025]

Der (zu dieser Zeit wahrscheinlich männliche) Grafiker konzentrierte sich bei der Erstellung der Postkarte auf drei gezeichnete Bildelemente: Erstens ist zentral in einem kreisförmigen Rahmen ein Torhaus abgebildet, dessen Giebel ausladend und mit Girlanden geschmückt über das Strohdach hinausragen. Die Front ist mit blauroten Ornamenten verziert; ein stabiler Palisadenzaun schließt sich links und rechts an das Gebäude an. Zweitens wird das linke Drittel der Karte von der Darstellung einer Person scheinbar indigenen Ursprungs mit Holzspeer, Lederschild, Kopfschmuck und Lendenschurz eingenommen, die auch vor dem Torhaus in der Mitte steht und hier noch einmal vergrößert abgebildet ist. Ihre Pose erinnert an einen Wachsoldaten; seine freundlichen Gesichtszüge scheinen die Besucher:innen willkommen zu heißen. Drittens finden sich auf der rechten Seite der Karte die künstlerisch gesetzten Schriftzüge „Deutsche Kolonial-Ausstellung“ und „Berliner Gewerbe Ausstellung 1896“. Hinter diesen zentralen Bildelementen sind subtropische Pflanzen und weitere Strohdächer angedeutet. Nur ein einziges Element ist im Hintergrund der Karte deutlich zu erkennen: ein Pfahl, an dem drei Totenschädel befestigt sind.

„Kunstvoll geschnitzte, groteske Südseetanzmasken und andere ethnologische Merkwürdigkeiten zierten die Front eines den Eingeborenenhäusern von Neu-Guinea nachgebildeten Hauses. Mit einiger Phantasie konnte man es mit seinen Giebelspitzen aus der Ferne einem gewaltigen, eben im Auffliegen begriffenen Vogel oder fabelhaftem Geschöpf vergleichen, und der Eindruck von etwas Phantastischem wirkte noch lange nach. Dieses Haus sah schon täuschend echt aus, und der Kenner freute sich, wenn er für den Umfassungszaun ostafrikanische Boritis (Stämme aus Mangroveholz) und Hirsestengel, die fast so dick wie Bambus waren, verwendet fand.“[11]

So beschrieben die Veranstalter im „Amtlichen Bericht“ das Gebäude, das in der Mitte der Postkarte abgebildet war und den Eingang zur Kolonialausstellung und den „Eingeborenen-Dörfern“ darstellte. Diese Beschreibung war ebenso wie die Zusammenstellung an Motiven auf der Karte Ausdruck einer Darstellung indigener Kulturen, in der undifferenziert Baumaterialien, Stile und Symbole verschiedener Provenienz miteinander kombiniert wurden, „zur bloßen Kulisse degradiert und als exotische Staffage passend in Szene gesetzt“.[12]

Das Torhaus als Zeichensymbiose war dabei keiner und gleichzeitig allen durch das Deutsche Reich kolonisierten Kulturen zuzuordnen. Es bediente sich an der Architektur der kunstvoll geschmückten neuguineanischen Pfahlbauten, vermeintlich ostafrikanischer Befestigungsanlagen sowie diverser Zierelemente ungeklärter Herkunft. Das Ergebnis war in keiner Hinsicht Abbildung einer außereuropäischen Realität, konnte bei den Besucher:innen jedoch Assoziationen mit den größten zu diesem Zeitpunkt bestehenden deutschen Kolonien hervorrufen.[13] Der Pfahlbaustil wies auf Deutsch-Neuguinea hin, der Boritis-Zaun auf Deutsch-Ostafrika. Die Herkunft der Holzart war jedoch den wenigsten Besucher:innen bekannt, weshalb der Zaun gleichermaßen als Platzhalter für die Kolonien in Kamerun und Südwestafrika diente. Die Form des Gebäudes, die die Veranstalter im „Amtlichen Bericht“ als die eines „eben im Auffliegen begriffenen Vogel[s] oder fabelhaftem Geschöpf[s]“ herausstellten, kann als Analogie zu einer der grundlegenden Ideen der Ausstellung verstanden werden: Trotzdem das Deutsche Reich bereits verschiedene Gebiete kolonisiert hatte, stünde es als Kolonialmacht noch am Anfang.

 

Die Wache

Ergänzt wurde das Bild des Torhauses durch die Zeichnung einer vermeintlich authentisch gekleideten indigenen Wache auf der linken Seite. Die Darstellung auf der Bildpostkarte blieb dabei nah an der Realität der Ausstellung im Treptower Park. So postierten die Veranstalter einen Mann mit Speer, Schild und Lendenschurz am Eingang zu den „Eingeborenen-Dörfern“, wie auf zeitgenössischen Bildern zu erkennen ist (Abb. 2).

Es ist nicht mehr auszumachen, wer die „Wache“ vor dem Torhaus im Treptower Park war. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um einen der 103 Menschen, die in den Kolonialgebieten für die Ausstellung angeworben wurden und die beschwerliche Reise nach Berlin antraten – teilweise nicht freiwillig oder unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Trotz ärztlicher Betreuung starben mindestens drei von ihnen aufgrund der Witterungsbedingungen und der grundsätzlich widrigen Lebensumstände.[14]

Links: Fotografie einer Hütte; rechts: Menschen stehen vor einem Holzhaus

Abb. 2 links: Zeichnung aus der Reihe „Bilder der Kolonialausstellung“ des Malers Rudolf Hellgrewe. Publiziert in: Paul Lindenberg, Pracht-Album Photographischer Aufnahmen der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896 und der Sehenswürdigkeiten Berlins und des Treptower Parks, Berlin 1896, S. 40-41, online unter https://archive.org/details/gri_33125010345417/page/40/mode/2up [10.01.2025]

Abb. 3 rechts: Fotografie einer Gruppe „ausgestellter“ Menschen aus dem „Amtlichen Bericht“: Gustav Meinecke, Deutschland und seine Kolonien im Jahre 1896. Amtlicher Bericht über die Erste Deutsche Kolonial-Ausstellung, Berlin 1897, S. 39, online unter https://archive.org/details/deutschlandundse00deut/page/n13/mode/2up [10.01.2025]

Die Ausführung des Speers sowie die Dekoration des Schildes auf der Postkarte wurden in der Ausstattung der „Wache“ vor dem Torhaus im Treptower Park nachempfunden. Die Abbildung ähnelt den „vom Geist der ‚Rassenkunde‘ geprägten ethnografischen Typenbilder[n]“ aus den Koloniallexika. Sie machten „schwarze Körper zum Objekt einer (pseudo)wissenschaftlichen […] Wissensbildung, die hauptsächlich an der Fremd- und Andersartigkeit interessiert war.“[15]

Wie bei dem Torhaus vermischten sich auch bei der Darstellung der Person, die davor Wache hielt, Symbole verschiedener Provenienz. Während das Schild in der Form an Abbildungen von Kulturgegenständen der Massai erinnert, die unter der deutschen Kolonialherrschaft entstanden sind, könnte der Lendenschurz der traditionellen Kleidung der OvaHerero nachempfunden sein.[16] Grafiker und Aussteller schufen – durch die vom europäischen Rassismus geprägte, undifferenzierte Vermischung südwest- und ostafrikanischer Kultursymbole – mit der „Wache“ am Tor die imaginierte Repräsentation eines Kolonisierten, der die deutschen Schutzgebiete als scheinbar Unterlegener bewachte und seine Kolonisatoren an deren Eingang gefügig passieren ließ.

Eine offizielle „Schutztruppe“, für die größtenteils Indigene rekrutiert wurden, existierte ab 1891 in Deutsch-Ostafrika und ab 1894 in Kamerun und Deutsch-Südwestafrika. Unter dem verharmlosenden Begriff verbarg sich eine bewaffnete Kolonialtruppe, die zur Aufrechterhaltung des Gewaltmonopols der Kolonisatoren eingesetzt wurde. Sie verfügte über einheitliche Uniformen, die sich von der traditionellen Kleidung der Kolonisierten unterschieden.[17] Die „Wache“ auf der Postkarte symbolisierte in ihrer Position vor dem Torhaus die „Schutztruppen“. Aus der eurozentristischen Perspektive schien sie den Besucher:innen, den „conquerors“, in ihrer vermeintlich traditionellen Kleidung, fast nackt und nur mit Schild und Speer bewaffnet, unterlegen zu sein.

Wie aus Berichten hervorgeht, führten die Menschen, die für die Ausstellung aus ihrer Heimat in den Treptower Park gebracht worden waren, ihre „Nationaltrachten“ sowie Ausrüstungsgegenstände wie Werkzeuge oder Waffen in vielen Fällen mit sich nach Berlin und nutzten sie dort für ihre „Auftritte“, was auch auf diversen Abbildungen in dem „Amtlichen Bericht“ zu erkennen ist (Abb. 3).[18] Die Ausstattung der „Wache“ vor dem Torhaus konnte anhand des Bildmaterials keiner der dort anwesenden Gruppen zugeordnet werden und entsprang vermutlich der Fantasie der Grafiker und Veranstalter, die vor dem Eingang zu den „Eingeborenen-Dörfern“ ihre Vorstellung des Stereotyps eines solchen „Eingeborenen“ platzierten. Sie evozierten mit der Darstellung der freundlichen Wache mit scheinbar authentischer, traditioneller Ausrüstung das Bild des „tumben Tor und [des] mangelhafte[n] Wesen[s], das der Hilfe bedürfe, mithin der Zivilisierung durch die Weißen“, wie es der Historiker Jürgen Zeller beschreibt.[19]

 

Die Totenschädel

Torhaus und „Wache“ symbolisierten die Kolonialgebiete und ihre Bewohner:innen, die vielfältigen Kolonien, die unter deutscher Herrschaft standen sowie die vermeintliche Bereitwilligkeit der Kolonisierten, die kolonialen Bestrebungen des Kaiserreichs zu unterstützen. Ihre scheinbare zivilisatorische Unterlegenheit kam dabei jedoch nicht nur durch die Abbildung vermeintlich indigener Architektur (Strohdach und Holzzaun) und Ausrüstung (Lendenschurz, Speer und Schild) zum Ausdruck. Der Pfahl mit den Totenschädeln, zwischen der Wache und dem Torhaus abgebildet, unterstrich nochmals die Andersartigkeit der kolonisierten und noch zu kolonisierenden Kulturen. „Zierelemente“ dieser Art fanden sich zwar nicht am Torhaus, jedoch waren sie in den „Eingeborenen-Dörfern“ im Treptower Park an einigen Häusergiebeln angebracht.

Der Journalist Paul Lindenberg beschrieb sie in seinem Bericht über die Ausstellung: „[…] während rechts einige seltsame Hütten an den Teich herangebaut worden sind, aus Birken und Palmblättern hergestellt, an ihren grellbemalten Giebeln mit Hörnern und verbleichten Thier- und Menschenschädeln ‚verziert‘.“[20] Die Zurschaustellung der Menschenschädel in der Ausstellung und auf der Postkarte kann als Hinweis auf das in kolonialen Kontexten zur Diskreditierung der Indigenen genutzte Motiv des Kolonisierten als „Menschenfresser“ gelesen werden.[21]

Auf der Postkarte ließ sich die Praktik des Kannibalismus keiner spezifischen Kultur zuordnen. Vielmehr deutete der Grafiker durch die Darstellungsart an, dass jedes kolonisierte Volk, ob in Neuguinea oder in Afrika, theoretisch Kannibalismus praktizieren könne. Der Pfahl mit den Totenschädeln diente als verbindendes Element zwischen der „Wache“ und dem Torhaus. Die Repräsentation der Kolonialgebiete in Afrika und im Pazifik sowie ihrer als unterlegen und treu ergeben dargestellten Einwohner:innen wurde somit visuell mit einer „zivilisatorischen Mission“ an die Besucher:innen überschrieben: Die Ikonisierung des Kannibalismus forderte sie dazu auf, sich als „conqueror“ in die Kolonien zu begeben und die „wilden Kannibalen“ zu „zivilisieren“.

Die von der Kunstanstalt Miesler 1896 publizierten Karten inszenierten die in den Treptower Kulissen ausgestellten Imaginationen als koloniale Realität. Die Schriftzüge „Erste Deutsche Kolonial-Ausstellung“ und „Berliner Gewerbe Ausstellung 1896“ wiesen zwar auf die Verortung der Sujets im Osten der Reichshauptstadt hin. Das Torhaus, die „Wache“ und der Pfahl mit den Totenschädeln wurden im Kontext der Karte jedoch vor subtropischer Vegetation dargestellt. Den Betrachter:innen sollte durch die Kombination der Bildelemente vor diesem Hintergrund vermittelt werden, dass sie mit einem Besuch der Ausstellung die deutschen Kolonien mitsamt ihrer „Schrecken“ und „Potenziale“ erfahren konnten. Die „Wache“ begrüßte sie mit freundlichem Blick und wartete aufgrund der zur Schau gestellten vermeintlichen Unzulänglichkeiten (Architektur, Ausrüstung) und Verfehlungen (Kannibalismus) nur darauf, „zivilisiert“ zu werden.

Die visuelle Interpretation des Eingangs zur Ausstellung passte zu den propagandistischen prokolonialen Narrativen, die durch den Verlag Miesler auf anderen Postkarten zur Kolonialausstellung inszeniert wurden.[22] So zeigten Karten der Kunstanstalt beispielsweise die angeblichen wirtschaftlichen Chancen, die die potenzielle Erschließung neuer Kolonien mit sich bringen sollte. Die Abwertung der fremden Kulturen im Kontext der Ausstellung schuf aus visueller Perspektive die Grundlage, um weitere Länder und Kulturen zu kolonisieren und weitere Menschen auszubeuten.

 

 

[1] Paul Lindenberg, Pracht-Album photographischer Aufnahmen der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896 und der Sehenswürdigkeiten Berlins und des Treptower Parks, Berlin 1896, S. 54, online unter https://archive.org/details/gri_33125010345417 [11.12.2024].

[2] Gerhard Paul, Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel, Göttingen 2016, S. 47. Bezüglich der Nutzung visueller Medien als koloniales Propagandainstrument siehe unter anderem: Volker Langbehn, Der Sarotti-Mohr, in: Jürgen Zimmerer (Hg.), Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt a.M. 2013, S. 119-133; Joachim Zeller, Weiße Blicke – Schwarze Körper. Afrikaner im Spiegel westlicher Alltagskultur, Erfurt 2010; Joachim Zeller, Bilderschule der Herrenmenschen. Koloniale Reklamesammelbilder, Berlin 2008; Kaspar Maase, Popular Culture, in: Matthew Jefferies (Hg.), The Ashgate Research Companion to Imperial Germany, Farnham 2015, S. 209-224.

[3] Der Text schließt an einen Beitrag zu dem im transcript Verlag erschienenen Sammelband „Berlins Weg in die Moderne“ an, der aus der gleichnamigen Tagung im September 2023 in Berlin hervorging, in dem zwei Postkarten aus dem Verlag Miesler analysiert werden: Daniel Jankowski, Chromolithografische Kulissen. Ikonen kolonialer Sehnsüchte auf Johannes Mieslers Bildpostkarten zur Ersten Deutschen Kolonial-Ausstellung im Treptower Park 1896, in: Samuel Eleazar Wendt/Felix Töppel/Lilja-Ruben Vowe/Klaus Weber (Hg.), Berlins Weg in die Moderne. Koloniale Warenströme und Sehnsüchte, 1713-1918, Bielefeld 2025, S. 285-303, online unter https://www.transcript-verlag.de/media/pdf/2f/94/09/oa9783839475102.pdf [10.01.2025].

[4] Anne Dreesbach, Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870-1940, Frankfurt a.M. 2005, S. 255. Zu Miesler siehe: Helmfried Luers, The Postcard Album 25/2011, Rastede, S. 9-12. Zur Ersten Deutschen Kolonialausstellung siehe außerdem: Hilke Thode-Arora, Völkerschauen in Deutschland. Eine Einführung, in: Stadtmuseum Dresden/Christina Ludwig/Andrea Rudolph u.a. (Hg.), Menschen anschauen. Selbst- und Fremdinszenierungen in Dresdner Menschenausstellungen, Dresden 2023, S. 14-23, hier S. 16; Gerhard Schneider, Das Deutsche Kolonialmuseum Berlin und seine Bedeutung im Rahmen der preußischen Schulreform um die Jahrhundertwende, in: Historisches Museum Frankfurt a. M. (Hg.), Die Zukunft beginnt in der Vergangenheit. Museumsgeschichte und Geschichtsmuseum, Frankfurt a.M. 1982, S. 158-165; Daniela Schnitter, Zur ersten Deutschen Kolonialausstellung im Rahmen der Berliner Gewerbeausstellung 1896, in: Bezirksamt Treptow von Berlin (Hg.), Die verhinderte Weltausstellung. 100 Jahre Gewerbeausstellung 1896 in Treptow, Berlin 1996, S. 115-118.

[5] Vgl. u.a. Dirk van Laak, Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, S. 74; Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008, S. 27-28.

[6] Beispielsweise der Kolonialbeamte Hermann von Wissmann, der Kolonialgouverneur Jesko von Puttkamer und der Leiter der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt Paul Kayser.

[7] Gustav Meinecke (Red.), Deutschland und seine Kolonien im Jahre 1896. Amtlicher Bericht über die Erste Deutsche Kolonial-Ausstellung, Berlin 1897, S. 1, online unter https://archive.org/details/deutschlandundse00deut/page/n13/mode/2up [10.01.2025].

[8] George Steinmetz, Empire in three Keys. Forging the Imperial Imaginary at the 1896 Berlin Trade Exhibition, in: Thesis Eleven 139 (2017), H. 1, S. 46-68, hier S. 61.

[9] Bei den hier aufgeführten Bezeichnungen handelte es sich um teils weitgefasste und oft nichtzutreffende Oberbegriffe für eine Vielzahl an Gebäuden, die jeweils verschiedensten Ethnien zugerechnet wurden. So war die „Quikuru qua Sike“ beispielsweise die europäische Nachbildung einer ostafrikanischen Festungsanlage, in deren Inneren wiederum Hütten in Anlehnung an die der OvaHerero und Nama platziert wurden. Vgl. Meinecke, Deutschland und seine Kolonien im Jahre 1896, S. 13-23.

[10] Julius Stinde, Hotel Buchholz. Ausstellungs-Erlebnisse der Frau Wilhelmine Buchholz, Berlin 1897, S. 203, online unter https://archive.org/details/htelbuchholzau00stin [10.01.2025].

[11] Meinecke, Deutschland und seine Kolonien im Jahre 1896, S. 13.

[12] Zeller, Weiße Blicke – Schwarze Körper, S. 36.

[13] Van Laak, Über alles in der Welt, S. 66-81.

[14] Vgl. Alexander Honold, Ausstellung des Fremden – Menschen- und Völkerschau um 1900, in: Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004, S. 170-190; Dreesbach, Gezähmte Wilde, S. 260-261.

[15] Zeller, Weiße Blicke – Schwarze Körper, S. 79.

[16] Vgl. Zeller, Weiße Blicke – Schwarze Körper, S. 24, 79, 82.

[17] Vgl. Stefanie Michels, Schwarze deutsche Kolonialsoldaten. Mehrdeutige Repräsentationsräume und früher Kosmopolitismus in Afrika, Bielefeld 2009, S. 13-17.

[18] Meinecke, Deutschland und seine Kolonien im Jahre 1896, S. 29. In vielen Fällen wurden die Menschen dazu gezwungen, nicht mehr zeitgemäße oder nicht mehr mit ihrem Glauben zu vereinbarende „Stammeskleidung“ zu tragen. Vgl. Dreesbach, Gezähmte Wilde, S. 261.

[19] Zeller, Weiße Blicke – Schwarze Körper, S. 75.

[20] Lindenberg, Pracht-Album photographischer Aufnahmen, S. 52.

[21] Zu vermeintlichen Kannibalismus-Praktiken in Deutsch-Neuguinea und der Bewertung durch die Kolonisatoren siehe unter anderem: Simon Haberberger, Kolonialismus und Kannibalismus. Fälle aus Deutsch-Neuguinea und Britisch-Neuguinea 1884-1914, Wiesbaden 2007.

[22] Daniel Jankowski, Chromolithografische Kulissen.

 

 

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