Der ethnografisch-anthropologische Blick
Fotografie und die visuelle Entdeckung Zentralasiens im späten Zarenreich
Das 19. Jahrhundert war ein Zeitalter der technischen und wissenschaftlichen Innovation. Besonderer Popularität unter den Erfindungen jener Epoche erfreute sich die Fotografie: Mithilfe des neuen Mediums ließ sich nicht nur ein anschauliches Bild von den Gesellschaften der europäischen Metropolen entwerfen, sondern auch von den überseeischen Kolonien und ihren indigenen Bewohnern. Fotografien schienen ganz besonders geeignet, um visuelle Einblicke in exotische Welten zu liefern und das Verlangen der Europäer nach Wissen über fremde Völker und Kulturen zu stillen.
Auch in Russland geriet die Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden zunehmend in den Fokus der imperialen Öffentlichkeit. In der zweiten Jahrhunderthälfte begannen russische Fotopioniere, die imperialen Randgebiete zu bereisen und die beeindruckende Diversität der indigenen Bevölkerung zu dokumentieren. Gegenüber ihren westeuropäischen Kollegen hatten die russischen Fotografen einen klaren Vorteil: Auf ihrer Suche nach „exotischen“ Motiven brauchten sie keine Ozeane zu überqueren, denn „Russlands Orient“ begann im kontinentalen Vielvölkerimperium nur einige Tagesreisen südöstlich von Moskau.
Das Dissertationsprojekt „Der ethnografisch-anthropologische Blick: Fotografie und die visuelle Entdeckung Zentralasiens“ beschäftigt sich mit der Frage nach der visuellen Inszenierung der indigenen Völker Zentralasiens im Russländischen Imperium. In diesem Zusammenhang soll untersucht werden, inwiefern Bilder zur Konstruktion ethnischer Identitäten und Herstellung ethnografischen Wissens benutzt wurden und inwiefern die Fotografie als Strategie zur Erforschung und Aneignung des Fremden diente. In welchem Maße sich die visuelle Inszenierung des Fremden mit der Erfindung der Fotografie veränderte und welche Besonderheiten sich hinsichtlich der fotografischen Darstellung für den russischen imperialen Kontext konstatieren lassen, wird anhand verschiedener Bildmedien und Verwendungskontexte analysiert.
Während sich der erste Teil mit der Tradition der ethnografischen Skizzen auseinandersetzt und die Kontinuitäten und Brüche in der visuellen Darstellung nicht-russischer Völker vor und nach Erfindung der Fotografie verfolgt, richtet sich der Fokus im zweiten Teil auf die Herstellung und Verwendung fotografischer Bilder in den neuen wissenschaftlichen Disziplinen der Ethnografie und physischen Anthropologie. Im abschließenden dritten Teil wird nach der Verwendung und Wirkung ethnografischer Bilder über die Grenzen der Wissenschaft hinaus gefragt und Publikationen wie Reiseführer, Enzyklopädien und Postkarten bezüglich ihrer Darstellung der asiatischen Peripherie des Imperiums analysiert.