Intime Bilder

Die Geschichte kunsthistorischer Radiographie

Auch wenn Röntgenbilder heute fast ausschließlich mit medizinischen Untersuchungspraktiken assoziiert sind, waren die X-Strahlen, wie Wilhelm Conrad Röntgen seine Entdeckung nannte, anfangs keineswegs auf eine solche Anwendung festgelegt. Das vermutlich erste Bild, das er im November 1895 mit Hilfe der „neuen Art von Strahlen“ (Röntgen) anfertigte, war nicht etwa die berühmte Durchleuchtung der Hand, bei der sich die Fingerknochen seiner Frau Bertha durch den Schatten der sie umgebenden Haut und Muskeln so gespenstisch abzeichneten, sondern eine veritable Farbanalyse: Es zeigt nämlich die Tür von Röntgens Labor, durch die er die neuen Strahlen geschickt hatte, um ihre Durchschlagskraft zu testen. Neben dem vermutlich erwarteten Schatten des Türknaufs erkannte Röntgen auf dem Bild auch einen mysteriösen dunklen Streifen, der durch ein Material mit hoher Absorptionsfähigkeit entstanden sein musste. Er entpuppte sich als eine Linie von Bleiweiß, die irgendwann unter einer Übermalung verschwunden und deren Existenz dann vergessen worden war. Röntgen hatte also selbst bereits die erste „Gemäldeuntersuchung“ durchgeführt!

 

Positivabzüge von Röntgens frühesten Bildern von 1895: Röntgens Labortür. Quelle: Vera Dünkel, Röntgenblick und Schattenbild. Genese und Ästhetik einer neuen Art von Bildern, Berlin 2016 ©

Positivabzüge von Röntgens frühesten Bildern von 1895: Hand mit Ringen. Quelle: Vera Dünkel, Röntgenblick und Schattenbild. Genese und Ästhetik einer neuen Art von Bildern, Berlin 2016 ©

 

Das Forschungsprojekt untersucht die Geschichte und Wirkung der Durchleuchtung von Kunstwerken mit Röntgenstrahlen. Ihm liegt die These zugrunde, dass die Einführung der radiologischen Untersuchung von Gemälden in den 1910er-Jahren – später auch von Skulpturen – einen Wandel in der kunsthistorischen Deutungspraxis auslöste: Konzentrierte sich das Erkenntnisinteresse zuvor auf die körperlose Bildoberfläche und ihre ikonographisch-ikonologische Ausdeutung, lenkten die Röntgenstrahlen den kunsthistorischen Blick tief in die Kunstwerke hinein und machten sie als dreidimensionale Körper erfahrbar. Damit geriet nun auch das Material, dessen physische Beschaffenheit und künstlerisch-manuelle Bearbeitung mehr in den Fokus der Analyse. Dieser Blick unter die Oberfläche ermöglicht neue Fragen an ein Kunstwerk, z.B. nach künstlerischen Vorlieben und Praktiken und deren Bedeutung. Damit schaffen Röntgenbilder neues Wissen von Kunst und von den Künstlern.

Die Entstehung und Nutzung dieses neuen Wissens wird in dem Forschungsprojekt aus dreifacher Perspektive untersucht:

a) Die verhältnismäßig kurze Geschichte der kunsthistorischen Radiographie – also dem Anfertigen von Röntgenbildern von Kunstwerken und künstlerischen Artefakten – und ihrer Entwicklung seit 1895 ist bisher nicht aufgearbeitet. Sie wird im Projekt anhand von historischen und aktuellen Fachveröffentlichungen, Originalröntgenaufnahmen und Archivalien erstmals rekonstruiert. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der medientechnischen und diskursiven Herstellung von Evidenz und von neuem Expertenwissen.

b) Wie sich das neue Wissen von der Materialität der Kunstwerke in der kunsthistorischen Literatur niedergeschlagen und somit die Perspektiven des Faches verändert hat, wird an zwei prominenten Fallbeispielen überprüft: Rembrandt van Rijn und Adriaen de Vries. Es wird die sowohl vor als auch nach dem Einsatz der Röntgenstrahlen entstandene Literatur zu beiden Künstlern untersucht, um die epistemischen Veränderungen in der kunsthistorischen Praxis herauszuarbeiten.

c) Da kunsthistorische Röntgenaufnahmen Bilder von ästhetischen Objekten sind, wird im Forschungsprojekt schließlich untersucht, welche Rolle ästhetische Überlegungen bei der Herstellung der Röntgenbilder Anders als medizinische Röntgenbilder, die immer nur einen Körperausschnitt zeigen, können Röntgenbilder z.B. von kleineren Skulpturen auch als eigenständige Bildschöpfungen angesehen werden. Zu ihrer indexikalischen kommt dann eine ikonische Qualität. Die spezifische Ästhetik der Radiographie und wie mit ihr in der Gegenwartskunst gearbeitet wird ist bisher bildtheoretisch zu wenig reflektiert.

 

Kunsthistorische Radiographien: Rembrandt: Selbstbildnis mit übermaltem Frauenkopf, Öl auf Leinwand, 1664, Gemäldegalerie Kassel. Quelle: Kurt Wehlte, Werkstoffe und Techniken der Malerei, Ravensburg 1967 ©

Kunsthistorische Radiographien: Adriaen de Vries: Jongleur, Bronzeguss, um 1612, Getty Museum Los Angeles. Quelle: Jane Bassett, The Craftsman Revealed. Adriaen de Vries, Sculptor in Bronze, Los Angeles 2008 ©

 

Die Röntgenbilder von Kunstwerken werden in diesem Forschungsprojekt vor allem als wissenschaftliche Bilder verstanden, wodurch sich eine Möglichkeit zur fachlichen Selbstreflexion eröffnet: Denn während sich die Kunstgeschichte schon länger für die wissenschaftlichen Bilder anderer Disziplinen interessiert, sind die eigenen wissenschaftlichen Bilder bisher noch nicht in den Fokus der Untersuchung gelangt. Diesem Desiderat begegnet das Forschungsprojekt und leistet damit einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte.

 

 

Zur Materialität von Kunstgegenständen siehe auch den Beitrag von Johannes Gramlich, Kunst und Materie. Dinghistorische Perspektiven auf den internationalen Kunstmarkt im 20. Jahrhundert, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 13 (2016), H. 3, Druckausgabe S. 404-425

 

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