„The Family of Man“: Zur Bildsprache der Internationalen Organisationen im Mid-Century
„Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert“ hat Annette Vowinckel[1] jüngst vielfältig diskutiert und in diesem Zusammenhang auch zahlreiche Fotografen wie Lee Miller, David Seymour, Robert Doisneau und Eric Schwab benannt, die in der Regel schon aus dem Spanischen Bürgerkrieg oder als Armeefotografen von den europäischen Kriegsschauplätzen berichtet hatten. Auch in der ikonischen, von Edgar Steichen für das New Yorker Museum of Modern Art (MOMO) kuratierten Ausstellung „The Family of Man“ aus dem Jahr 1955, die am Beginn der Erfindung einer innovativen, humanistischen Bildsprache steht und sich engagiert in den Dienst der neuen Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg stellte, waren sie prominent vertreten.
Wenig bekannt dagegen ist das oftmals nur wenige Monate umspannende, vielfach aber von großer Überzeugung getragene Engagement dieser Fotografen für die Internationalen Organisationen (WHO, UNESCO) in den 1950er Jahren. Dabei sind es vor der flächendeckenden Einführung des Fernsehens in der Regel diese Akteure gewesen, welche mit ihren Bildern sowohl die einschlägigen Modemagazine („Vogue“), mit ihren Reportagen die einflussreichen Magazine für Fotojournalismus („LIFE“) wie auch, unter dem Schlagwort Picturing health, die hausinternen Publikationen der WHO und anderer Sonderorganisationen der UN bespielt haben.[2]
Mit dem Fotografen David Seymour war ein prominenter Forschungsreisender beauftragt worden, die Lage der Kinder im Nachkrieg umfassend zu dokumentieren.[3] Seymour, geboren 1911 in Polen und nach dem Studium der Fotografie in Leipzig und Paris unter dem Pseudonym Chim eine der großen Gründergestalten der Fotoagentur MAGNUM, war bereits 1948 im Auftrag der in Paris beheimateten United National Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO)[4] in die Tschechoslowakei, nach Polen, Deutschland, Griechenland und Italien gereist ist, um die Lebensumstände der Kinder im Nachkrieg umfassend zu dokumentieren.[5] Es war dies seine erste Reise nach Osteuropa, seit er Polen 1932 verlassen und seine Familie im Holocaust verloren hatte. Das ikonische Foto von Tereska, „a child in a residence for disturbed children, grew up in a concentration camp“, das von der UNESCO in vielfältigen Zusammenhängen in ihren Publikationen Verwendung finden sollte,[6] steht bis heute exemplarisch für die Geschichte der „child survivors“ und die Folgen der Verfolgung.[7]
Ausgehend von der These, dass die Internationalen Organisationen im Zeitalter der Dekolonisation nach 1945 auf die Erfindung einer neuen Bildsprache angewiesen waren, die uns bis heute zutiefst vertraut ist und inzwischen selbstverständlich anmutet, fragt das Projekt nach Akteuren, Politik und Praxis des Fotojournalismus im Mid-Century. Die Geschichte der Internationalen Organisationen ohne ihr Bildprogramm erklären zu wollen, läuft daher zumindest für die nach unserem heutigen Verständnis naiv-optimistischen 1950er Jahre ins Leere: Bilder waren die Sprache, welche weltweit verstanden werden konnte, und sie waren – vieles weist darauf hin – anders als die „Weltsprachen“ Englisch oder Französisch zumindest zeitgenössisch als herrschaftsfreie Ausdrucksformen weitgehend akzeptiert.
[1] Annette Vowinckel, Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016. – Mein Dank gilt André Mühling und Reynald Erard, die mich auf der Suche nach den Spuren der Kriegskinder im fotografischen Gedächtnis sachkundig geführt haben.
[2] Vgl. Burcu Dogramaci, Fotografieren und Forschen. Wissenschaftliche Expeditionen mit der Kamera im türkischen Exil nach 1933, Marburg 2013; Marie de Thézy, La photographie humaniste 1930-1960. Histoire d’un mouvement en France, Paris 1992.
[3] Vgl. das nachgelassene Werk von David Seymour aus den Jahren 1936-56 in der Französischen Nationalbibliothek (Richelieu). Zu seiner Biographie Carole Naggar, David Seymour. Vies de Chim, Biarritz 2014.
[4] Einschlägig jetzt Poul Duedahl (Hrsg.), A History of UNESCO. Global Actions and Impacts, Basingstoke 2016; siehe auch Isabella Löhr/Andrea Rehling (Hrsg.), Global Commons im 20. Jahrhundert. Entwürfe für eine globale Welt, München 2014.
[5] David Seymour, Children of Europe, Paris 1949, S. 5.
[6] David Seymour, „Quelque part en Europa“. Le visage tragique de l’enfance victime de la guerre. Reportage photographique UNESCO, in: Courrier de l’UNESCO 2 (1949), Nr. 1, S. 1 und 6-8.
[7] Thérèse Brosse, Enfants sans foyer. Compte rendu des travaux de la Conférence des directeurs de communauté d’enfants Trogen-Heiden, Suisse, o.D. Weiterführend: Joanna B. Michlic, Rebuilding Shattered Lives. Some Vignettes of Jewish Children’s Lives in Early Postwar Poland, in: Dalia Ofer u.a. (Hrsg.), Holocaust Survivors. Resettlement, Memories, Identities, New York/Oxford 2012, S. 46-87; Rakefet Zalashik, Differenziertes Tauma. Die (Wieder) Entdeckung der „Child Survivor“-Kategorie, in: José Brunner/Nathalie Zajde (Hrsg.), Holocaust und Trauma. Kritische Perspektiven zur Entstehung und Wirkung eines Paradigmas, Göttingen 2011, S. 116-133; Ben Shephard, Die frühen Befunde der Psychiatrie zum Holocaust (1945-1950), in: ebd., S. 72-85; Judith S. Kestenberg/Charlotte Kahn (Hrsg.), Children Surviving Persecution. An International Study of Trauma and Healing, Westport 1998.
Zitation
Claudia Mosiel, „The Family of Man“: Zur Bildsprache der Internationalen Organisationen im Mid-Century, in: Visual History, 05.02.2018, https://visual-history.de/project/the-family-of-man-zur-bildsprache-der-internationalen-organisationen-im-mid-century/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2745
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