Verhandeln statt Zeigen

Prozesse der Erinnerung in Dokumentarfilmen über Verbrechen des Nationalsozialismus

Vorführung von Filmdokumenten als Beweismittel während des Eichmann-Prozesses in Jerusalem am 8. Juni 1961. Quelle: YouTube The Eichmann Trial © Yad Vashem mit freundlicher Genehmigung

Begreift man Dokumentarfilme als Medien der Erinnerung,[1] lassen sich typische Erinnerungspraktiken erkennen, anhand derer auf verschiedene Art und Weise ein Bezug zur Vergangenheit hergestellt wird:[2] Dominant sind die Kompilation von Archivmaterialien, wie Fotografien oder Filmdokumente, das Interview mit Zeitzeugen oder Experten und die Nachstellung von Ereignissen mit Schauspielern in Form von Re-Enactments. In meiner medienwissenschaftlichen Dissertation folge ich der Annahme, dass sich diese Erinnerungspraktiken mit Verfahrensweisen vor Gericht zur Aufklärung von Verbrechen vergleichen lassen. Das wird deutlich, wenn man den Blick auf die darstellende Seite einer Gerichtsverhandlung lenkt:[3] Während eines Strafprozesses werden spezifische Tatkomplexe durch den Einsatz verschiedener Beweisdokumente (Bewertung von Akten, Betrachtung von Fotografien, Vorführung von Filmen) und durch kommunikative Interaktion (Befragung von Angeklagten und Zeugen oder die erneute Einnahme bestimmter Rollen) rekonstruiert. Diese Verfahrensweisen werden innerhalb einer formalisierten Rahmung (Anordnung und Ablauf im Gerichtssaal) vollzogen. Die vor Gericht zur Rekonstruktion eines Tathergangs eingesetzten Verfahren können daher auch als Übersetzung einer Tat in die Gegenwart der Verhandlung verstanden werden, der im Sinne des vor Gericht gültigen Öffentlichkeitsprinzips nicht nur eine aufklärende, sondern stets auch eine pädagogische, vermittelnde Funktion innewohnt.[4]

Die Verfahrensweisen vor Gericht sind aber nicht nur mit den beschriebenen Erinnerungspraktiken eines Dokumentarfilms vergleichbar. Dokumentarfilm und Gerichtsverhandlung teilen außerdem, insbesondere in Bezug auf den Holocaust, die Schwierigkeit, eine Form oder Sprache für Ereignisse solchen Ausmaßes finden zu müssen, dass jeglicher Versuch einer angemessenen Repräsentation oder Beurteilung von vorneherein aussichtlos erscheinen mag.[5] Ich verstehe das Gericht daher als Modell, das die öffentliche Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus beeinflusst und wichtige Voraussetzungen auf dem Weg zu einer Erinnerungskultur geschaffen hat.[6] Darüber hinaus gehe ich davon aus, dass einige wichtige NS-Prozesse und deren filmische Repräsentation auch spezifische Praktiken dokumentarfilmischer Erinnerung vorweggenommen und geformt haben.

In meiner Dissertation erfolgt zunächst eine theoretische Reflexion über den Zusammenhang von kollektivem Gedächtnis, Gericht und Dokumentarfilm. Darauf aufbauend, bildet der Zusammenhang zwischen frühen NS-Prozessen und den daraus hervorgegangenen dokumentarfilmischen Praktiken der Erinnerung den Schwerpunkt eines ersten Blocks detaillierter Filmanalysen. Am Beispiel von dokumentarischen Filmen und Fernsehsendungen über einige wichtige frühe NS-Prozesse aus den ersten zwanzig Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges, wie den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess oder den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem, werden die filmische Verwendung von Beweisdokumenten, die Auseinandersetzung mit Zeugnis und Zeugenschaft, die Auseinandersetzung mit Tätern sowie weitere darstellende Elemente einer Gerichtsverhandlung und deren filmische Repräsentation diskutiert. Ausgehend von der Annahme, dass sich nach Kriegsende zunächst jeweils spezifisch nationale Erinnerungskulturen entwickelt haben,[7] konzentriert sich die Arbeit auf Film- und Fernsehproduktionen aus den westlichen Besatzungszonen und der frühen Bundesrepublik.

Im Zentrum eines zweiten Blocks detaillierter Filmanalysen stehen Dokumentarfilme, die sich im Hinblick auf den bevorstehenden Übergang eines „kommunikativen“ in ein „kulturelles Gedächtnis“ positionieren.[8] Die Filme werfen daher Perspektiven in Bezug auf den siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges bevorstehenden Zeitpunkt auf, an dem keine an Personen gebundene Erinnerung mehr möglich ist, und reflektieren die zunehmende Mediatisierung kollektiver Erinnerungen.

Auch die beschriebenen Erinnerungspraktiken eines Dokumentarfilms, insbesondere der Einsatz von Filmdokumenten und Fotografien sowie die Befragung von Zeitzeugen, haben sich mittlerweile längst vom Gerichtskontext gelöst und in spezifische mediale Praktiken der Erinnerung ausdifferenziert.[9] Bei den an dieser Stelle zur Analyse ausgewählten Filmbeispielen wird aber auch weiterhin eine aufschlussreiche Verbindung zwischen Erinnerungspraktiken eines Dokumentarfilms und Verfahrensweisen vor Gericht erkennbar, wenn man das Gericht als Modell zur Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus begreift: Protokolle, Bilder, Film- und Tonaufnahmen von Gerichtsprozessen, die im Zusammenhang mit Kriegs- und NS-Verbrechen geführt wurden, oder Beweisdokumente, die in diesem Zusammenhang veröffentlicht wurden, bilden mittlerweile ein eigenes „Archiv“, das zur Thematisierung des Nationalsozialismus und dessen Nachleben herangezogen wird. Einige juristische Verfahrensweisen wie die Augenscheinnahme von Filmdokumenten und Fotografien oder weitere – weniger offensichtliche – performative Verfahrensweisen wie der Vorhalt spiegeln sich außerdem in den Erinnerungspraktiken der ausgewählten Filmbeispiele. Entsprechend einer seit den späten 1990er-Jahren zu beobachtenden „Kosmopolitisierung“ der Erinnerung an den Holocaust stehen an dieser Stelle nicht nur deutsche Film- und Fernsehproduktionen, sondern auch internationale Co-Produktionen im Zentrum.[10]

Ziel des Projektes ist eine vergleichende Gegenüberstellung von Dokumentarfilmen aus der Zeit, in der sich eine kollektive Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus geformt hat, und aktuellen Dokumentarfilmen, in denen die zunehmende Mediatisierung unserer kollektiven Erinnerung offensichtlich wird. Im Zentrum steht die medienwissenschaftliche Analyse ausgewählter paradigmatischer Beispiele. Zur Bildung des Korpus wurden zahlreiche Recherchen in internationalen Film- und Fernseharchiven wie dem Bundesarchiv-Filmarchiv, dem Visual Center Yad Vashem und dem Fernseharchiv des Norddeutschen Rundfunks durchgeführt. Mit Blick auf kulturwissenschaftliche Gedächtnis- und Erinnerungstheorien, Theorien, die sich mit der Repräsentationsproblematik des Holocaust im Dokumentarfilm beschäftigen, und Theorien, die sich mit der darstellenden Seite von Gerichtsverhandlungen auseinandersetzen, gilt es aber nicht nur, eine spezifische Ästhetik dokumentarfilmischer Erinnerung herauszuarbeiten. Es gilt auch, den Einfluss gesellschaftspolitischer Rahmenbedingungen, wie der Etablierung eines in Deutschland vor Gericht gültigen Ton- und Filmaufnahmeverbots, und den generellen Wandel der Erinnerungskultur zu berücksichtigen. Teilweise werden daher auch nichtfilmische Quellen, wie Presseberichte und Produktionsmaterialien, für die Analysen herangezogen.

 

Diese Projektvorstellung ist eine Zweitveröffentlichung und zuerst in der Zeitschrift „Rundfunk und Geschichte“ 42 (2016) Heft 3-4 erschienen. Wir danken der Redaktion für die freundliche Genehmigung, den Beitrag auf Visual History zu veröffentlichen.

Vorführung von Propagandafilmen aus dem Warschauer Ghetto in Anwesenheit einer Überlebenden in dem Dokumentarfilm „Geheimsache Ghettofilm“ von 2010. Quelle: DVD „Geheimsache Ghettofilm“. ISR/D 2010, Regie: Yael Hersonski © absolut medien mit freundlicher Genehmigung

[1] Zum Zusammenhang von Medien und kollektivem Gedächtnis vgl. Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2011², S. 137-171.

[2] Vgl. Götz Lachwitz, Inszenierung des Undarstellbaren. Filmische Erinnerung zwischen Repräsentation und Abstraktion in „Aghet – Ein Völkermord“, in: Carsten Heinze/Thomas Weber (Hrsg.), Medienkulturen des Dokumentarischen, Heidelberg 2017 [i.E.].

[4] Vgl. beispielsweise Guido Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal. Ein rechtsvergleichender Beitrag zum Öffentlichkeitsgrundsatz im Strafverfahren, Baden-Baden 1999, S. 80-87.

[5] Zur Problematik der Repräsentation des Holocaust im Dokumentarfilm vgl. Brad Prager, After the Fact. The Holocaust in Twenty-First Century Documentary Film, New York/London 2015, S. 1-25.

[6] Zum Zusammenhang von früher Strafverfolgung und der Formung von Erinnerung aus historischer Perspektive vgl. Fritz Bauer Institut (Hrsg.), Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts 14 (2015), S. 16-39.

[7] Vgl. Daniel Levy/Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust. Aktualisierte Neuausgabe, Frankfurt a.M. 2007, S. 35-36 und S. 74-142.

[8] Vgl. Jan und Aleida Assmann, Das Gestern im Heute. Medien und Soziales Gedächtnis, in: Klaus Merten/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, S. 114-140.

[9] Zur zunehmenden Mediatisierung und medialen Transformation des Holocaust vgl. Ursula von Keitz/Thomas Weber (Hrsg.), Mediale Transformationen des Holocausts, Berlin 2012.

[10] Vgl. Levy/Sznaider Erinnerung im globalen Zeitalter, S. 35-36 und S. 155-224.

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