„Wissenschaftlicher Tourismus“ im Age of Empire
Koloniale Bilder in den Fotografien und Briefen Carl Heinrich Beckers 1900-1932
Der Islamwissenschaftler und preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker (1876-1933) ist in der Geschichte seines Fachs wie auch als Politiker der Weimarer Republik kein Unbekannter.[1] Eher unbekannt ist aber, dass er umfangreiche Fotobestände vor afrikanischen und asiatischen Kulissen hinterlassen hat. Das erste Konvolut entstand, als Becker von 1900 bis 1902 als angehender Orientalist weitgesteckte Forschungsreisen in den Nahen Osten unternahm. Die 200 bisher unbekannten Glas-Negative (Gelatine-Trockenplatten) aus einer privaten Überlieferung ergeben gemeinsam mit Briefen und Tagebuchaufzeichnungen ein faszinierendes Panorama großbürgerlichen gelehrten Lebens an der Wende zum 20. Jahrhundert – in kolonialen Ausweitungen.
Auf der Grundlage seiner sorgfältigen Aufzeichnungen und Reisefotografien entstand nicht nur die seinerzeit „zeitgeschichtliche“ Habilitationsschrift „Die Frau im Islam“ (Heidelberg 1901), sondern sein ganzes, auf der Integration zeitgenössischer Kultur und Religion beruhendes Wissenschaftsgebäude einer über philologische Fragestellungen hinausgehenden Islamwissenschaft.[2] Wissenschaftlich ambitionierte Privatpersonen wie Carl Heinrich Becker sind in der bisherigen kolonial- und kulturgeschichtlichen Literatur von Reisenden in institutionellem Auftrag bislang nur wenig sichtbar, was ihre Multiplikatorenfunktion in der Genese, Verbreitung und Verstärkung von Fremdbildern im „zivilisierten“ Westen völlig unterschätzt.[3]
Carl Heinrich Beckers großbürgerliche Orientreise wird in einer die Edition der Briefe und Fotografien beinhaltenden Analyse als ein Beispiel der Rezeption kolonialer Räume untersucht. Welchen gesellschaftlichen Einfluss hatten bei Becker das Dokumentieren, Sammeln, Auswählen, Bewerten und Beschreiben des Fremden? Denn nach seiner Rückkehr hielt er einen Lichtbild-Vortrag nach dem anderen. Wer waren die Zuhörer? Und was bekamen sie zu hören und zu sehen? Welche Publikationen flankierten das aktive Entwerfen von Fremd-Bildern im kolonialen Zeitalter? Der Blick auf die kolonialen Rückkoppelungen wissenschaftlich-generierter Bilder auf die europäischen Kolonialgesellschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist bei Becker besonders reizvoll, da sich bei ihm die (Nach-)Wirkung der mitgebrachten Bilder in Europa professionell ausdrückte: Er wurde 1908 (kaum zufällig) Professor für Kultur und Geschichte des Islam am Hamburger Kolonialinstitut, wo er eine integrative und praxisbezogene Islamwissenschaft u.a. mit Blick auf die muslimischen Bevölkerungen in Deutsch-Ostafrika institutionalisierte.
Carl Heinrich Becker wechselte 1913 an die Universität Bonn, folgte aber bereits 1916 dem Ruf in die Wissenschaftsbürokratie nach Berlin. Von 1919 bis 1930 war er Staatssekretär bzw. Minister im Preußischen Kultusministerium und stand damit fast synonymisch für die preußische Kultuspolitik der Weimarer Republik. Nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik nahm er das Angebot an, die Leitung einer Völkerbundkommission zu übernehmen, die China bereisen und Reformvorschläge für das dortige Bildungswesen erarbeiten sollte. Becker nutzte diesen Anlass, um eine ausgedehnte Weltreise zu unternehmen, die ihn über die Philippinen, Indonesien, Indien und Persien erneut in den vertrauten Nahen Osten führte. Die essayistischen Reisebriefe des auf eigene Kosten reisenden Wissenschaftlers liegen ediert vor.[4] Unter global- und kolonialgeschichtlichen Gesichtspunkten sind sie bisher nicht analysiert worden. Unbekannt ist zudem Beckers umfangreiche fotografische Dokumentation dieser Reise.
Auf fast 300 Aufnahmen tritt dem heutigen Betrachter der bereits im Jahr 1901 in Ansätzen erkennbare „benevolente Kolonialismus“[5] des Großbürgers Becker entgegen. Mit einem Bewusstsein für das nationale Erstarken Chinas sowie für die mehr als latente Emanzipation der indigenen Eliten des niederländischen bzw. britischen Südostasiens hielt der aufmerksame Beobachter die eigentliche Hochphase des europäischen Imperialismus in der Zwischenkriegszeit mit der Kamera fest. Die ansetzende Dekolonisierung ist in Beckers Beschreibungen und seinem Reiseerleben keine Deglobalisierung, sondern im Gegenteil eine Zeit sich verdichtender weltweiter Interdependenzen. Die eigene koloniale Identität als europäisch-weltbürgerlicher Islamwissenschaftler aus einer deutsch-niederländischen Kolonialhandelsdynastie prallt hier auf die Ambivalenzen des sprichwörtlichen „Imperial Overstretch“ im fernen und mittleren Osten und dem damit einhergehenden „Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter“.[6]
Im Abgleich mit den wissenschaftlichen und privaten Schriftwechseln Carl Heinrich Beckers bis 1930 sowie den wenigen Vorträgen und Publikationen nach seiner Rückkehr (Becker starb im Februar 1933) soll das Biografische eines Wissenschaftlerlebens im „Age of Empire“ anhand von zwei fotografisch außergewöhnlich breit und professionell dokumentierten Reisen auf Felder der Visual History ausgeweitet und im besten Sinne des Wortes „sichtbar“ gemacht werden.
[1] Vgl. u.a. Béatrice Bonniot, Homme de culture et républicain de raison. Carl Heinrich Becker, serviteur de l’Etat sous la République de Weimar (1918-1933), Frankfurt a.M. 2012; Guido Müller, Weltpolitische Bildung und akademische Reform: Carl Heinrich Beckers Wissenschafts- und Hochschulpolitik 1908-1930, Köln u.a. 1991.
[2] Alexander Haridi, Das Paradigma der „islamischen Zivilisation“ – oder die Begründung der deutschen Islamwissenschaft durch Carl Heinrich Becker (1876-1933): eine wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung, Würzburg 2005.
[3] Suzanne L. Marchand, German Orientalism in in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, New York 2009; Susanne Voss, Die Geschichte der Abteilung Kairo des DAI im Spannungsfeld deutscher politischer Interessen 1881-1929, Rhaden/Westf. 2013.
[4] Susanne Kuss (Hrsg.), Carl Heinrich Becker in China. Reisebriefe des ehemaligen preußischen Kultusministers 1931/32, Münster 2004.
[5] Vgl. Werner Kraus, Benevolenter Orientalismus? Linda Bandaras Bemühen um die javanische Musik, in: Volker Gottowik (Hrsg.), Die Ethnographen des letzten Paradieses. Victor von Plessen und Walter Spies in Indonesien, Bielefeld 2010, S. 241-265.
[6] Sönke Kunkel/Christoph Meyer (Hrsg.), Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter. Globalisierung und die außereuropäische Welt in den 1920er und 1930er Jahren, Frankfurt a.M. 2012.