Der dritte Blick – fotografische Positionen einer Umbruchsgeneration

Ausstellung in der Stadtgalerie Kiel vom 12. März bis zum 8. Mai 2016

Ina Schoenenburg (Foto): ohne Titel, aus der Serie „Blickwechsel“, 2012-2015, Ina Schoenenburg ©

Ina Schoenenburg (Foto): ohne Titel, aus der Serie „Blickwechsel“, 2012-2015, Ina Schoenenburg © mit freundlicher Genehmigung

Ein Mann und eine Frau, schätzungsweise um die 60, sitzen in dicke Winterkleidung gehüllt in ihrem Auto. Der Innenraum ist hell erleuchtet und steht in harschem Kontrast zu der sie umgebenden tiefschwarzen Nacht. Die Karosserie des Wagens kann der Betrachter nur erahnen, Wasserflecken auf der Windschutzscheibe weisen auf einen kürzlich zurückliegenden Regenschauer hin und lassen die Welt außerhalb des Autos kühl und ungemütlich erscheinen. Die Blicke des Paares fixieren sich auf einen Punkt in der Dunkelheit, der sich unmittelbar hinter der Scheibe des Beifahrers befindet. In ihren Gesichtern spiegelt sich eine Kombination von Gleichgültigkeit, Sorge und Verbitterung wider. Das Auto scheint einerseits Schutz vor dem, was in der Nacht liegt, zu bieten. Gleichzeitig erzeugt das kalte Licht des Innenraumes aber eine Art in sich geschlossenen Raum, aus dem es kein Entrinnen gibt. Das Foto aus der Serie „Blickwechsel“ von Ina Schoenenburg macht das Alltägliche zum Besonderen und ist in der Lage, sich beim Betrachter einzuprägen.

 

Installation in der Stadtgalerie Kiel 2016, Vordergrund links: „Wandlitz“, rechts „Obersalzberg“, Andreas Mühe, Hintergrund: „Wüstungen“, Anne Heinlein. Foto: Nadja Smith ©

Installation in der Stadtgalerie Kiel 2016, Vordergrund links: „Wandlitz“, rechts „Obersalzberg“, Andreas Mühe, Hintergrund: „Wüstungen“, Anne Heinlein. Foto: Nadja Smith © mit freundlicher Genehmigung

Ina Schoenenburg ist eine von neun Fotografinnen und Fotografen, deren Arbeiten im Rahmen der Ausstellung Der dritte Blick – fotografische Positionen einer Umbruchsgeneration derzeit vom 12. März bis zum 8. Mai 2016 in der Stadtgalerie Kiel zu sehen sind. Zum Anlass des 25. Jubiläums der deutschen Einheit im Oktober 2015 zeigte der Verein Perspektive hoch 3 in Kooperation mit dem Freundeskreis Willy-Brandt-Haus die Ausstellung bereits letzten Herbst in Berlin, und mehr als 12.000 Besucherinnen kamen. Initiator des Projekts ist der beteiligte Fotograf und Mitglied der Perspektive hoch 3 Sven Gatter. Gemeinsam mit der Projektleiterin Nadja Smith entwickelte er das Ausstellungskonzept, das anschließend von Sabine Weier kuratorisch umgesetzt wurde. Die Ausstellung im Willy-Brandt-Haus wurde durch eine Förderung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ermöglicht.

Die Fotografinnen und Fotografen, die in den 1970er- und 1980er-Jahren in der DDR geboren wurden, sind Teil einer Generation, um die in den vergangenen Jahren unter Begriffen wie „Dritte Generation Ostdeutschland“ oder „Wendekinder“ eine Diskussion entstanden ist. Zu sehen sind Fotografien von Sven Gatter, Anne Heinlein, Margret Hoppe, Marc Marquardt, Andreas Mühe, Julian Röder, Ina Schoenenburg, Luise Schröder und Paula Winkler.

 

Anne Heinlein (Foto): „Zarrentin-Strangen, bebaut 1911, gewüstet 1972“ aus der Serie „Wüstungen“, 2010-2015, © Anne Heinlein

Anne Heinlein (Foto): „Zarrentin-Strangen, bebaut 1911, gewüstet 1972“ aus der Serie „Wüstungen“, 2010-2015, © Anne Heinlein mit freundlicher Genehmigung

Die Ausstellung fragt danach, wie die Umbruchserfahrungen der Fotografinnen und Fotografen im wiedervereinigten Deutschland ihr Leben und ihre künstlerische Praxis prägen. Welche Themen nehmen sie in den Fokus? Wie begreifen sie Herkunft, Identität und Globalisierung? Welche Reflexionsräume eröffnen sie über das Medium Fotografie? Filmische Kurzporträts von Dörte Grimm und Nadja Smith begleiten die Positionen und stellen Bezüge zu biografischen und gesellschaftspolitischen Ereignissen her.

Aufgrund seines dokumentarischen Charakters eignet sich das Medium Fotografie besonders für die Auseinandersetzung mit in diesem Kontext relevanten Themen, wie zum Beispiel Erinnerungskultur, Identität oder gegenwärtige soziale Realitäten. Eines der beliebtesten Sujets der aktuellen Kunst ist die Auseinandersetzung mit geschichtlichen Themen.

 

Sven Gatter (Foto): „Zwei Langstreckenschwimmer“, aus der Serie „Goitzsche“, 2010-2015, Sven Gatter ©

Sven Gatter (Foto): „Zwei Langstreckenschwimmer“, aus der Serie „Goitzsche“, 2010-2015, Sven Gatter © mit freundlicher Genehmigung

Dabei setzen die Künstler den Fokus vor allem auf die Vielschichtigkeit von Vergangenheit und Gegenwart (Luise Schröder „Arbeit am Mythos“), sie aktualisieren historische Themen durch Re-Inszenierungen (Andreas Mühe „Obersalzberg“) und durch investigativ-dokumentarische Projekte (Anne Heinlein „Wüstungen“). Des Weiteren setzen sich die Arbeiten mit architektonischen Erinnerungsträgern (Margret Hoppe „Die verschwundenen Bilder“ und Marc Marquardt „Lot“), der postkommunistischen Gegenwart und dem Verlust ganzer Industriezweige sowie dem Demografiewandel in ostdeutschen Regionen auseinander (Sven Gatter „Goitzsche“). Fragen der Identität in gesellschaftspolitischen und familiären Umfeldern (Paula Winkler „Centerfolds“ und Ina Schoenenburg „Blickwechsel“) oder Aspekte von Macht und Ökonomie in einer globalisierten Welt (Julian Röder „Mission and Task“) machen die Künstler ebenfalls zum Thema ihrer Werke.

So unterschiedlich die Themen, so abwechslungsreich sind auch die Arbeiten der Fotografinnen und Fotografen. Diese enorme Bandbreite an Ausdrucksformen und verschiedenen Perspektiven auf die gewählten Sujets macht die Ausstellung Der dritte Blick – fotografische Positionen einer Umbruchsgeneration zu etwas Besonderem. Die großzügigen und zugleich sinnlich angelegten Räumlichkeiten der Stadtgalerie Kiel sorgen für das entsprechende Ambiente und laden den Besucher zum Verweilen ein.

Mit ihren Positionen produzieren die Künstlerinnen und Künstler der Umbruchsgeneration neue Formen des gesellschaftlichen und kulturellen Wissens. Aus ihrer Praxis heraus entstehen alternative Perspektiven für eine Erinnerungskultur, die ansonsten vor allem in Form von Nationalfeiertagen oder starren Monumenten konstruiert wird. So liefern sie wichtige Kapitel für das kollektive Gedächtnis von morgen, Modi der Aufarbeitung und ihren vielleicht wichtigsten gesellschaftlichen Beitrag – kritische Bilder von Deutschland und Europa.

 

Infos zum Projektträger Perspektive hoch 3 e.V.

Details und aktuelle Termine zur Ausstellung Der dritte Blick – fotografische Positionen einer Umbruchsgeneration

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