Dinge als Bilder ihrer selbst
Das Beispiel Brasilia – materialisierter Raum und visualisierte Praxisanweisung
Konstitutiv für die Moderne sind Bilder und Visualisierungsprozesse, weil sie in der Lage sind, Interventionsbereiche überhaupt erst sichtbar und zugleich komplexe, abstrakte Zusammenhänge fassbar zu machen. Die Stärke von Bildern ist die Rahmung (framing). Wie bei einem Gemälde werden Formate geschaffen, um Beobachtungen abzugrenzen, zuzuschneiden und zu rahmen. Dadurch wird in den Blick gerückt und zugleich ausgeblendet, und erst so werden Verwerfungen identifiziert und bearbeitbar. Die Ergebnisse können anschließend visuell als verbildlichtes Narrativ einer erfolgreichen Krisenbewältigung repräsentiert werden, d.h. Bilder machen Probleme und Lösungen sichtbar. Für Neuzeithistoriker sollten Bilder deshalb nicht einfach als Illustrationen oder Informationsquelle dienen, sondern sie sollten als Akteur begriffen werden. Bestimmte Bilder zeigen nicht einfach, sondern sie stimulieren Handlungen. Das möchte ich im Folgenden thesenhaft am Beispiel Brasilias skizzieren: Ikonische Bilder der Moderne stimulierten die Gestaltung des Stadtraums, die Stadtskulptur wurde zum Bild ihrer selbst, und beides, materielle Realität wie ihre visuelle Repräsentation, zielte darauf, das Sozialverhalten ihrer Bewohner zu rekonfigurieren.
Brasilia war eines der ambitioniertesten Bauprojekte in der Geschichte des Städtebaus.[1] 1956 verkündete der künftige Präsident Brasiliens, Juscelino Kubitschek, den Baubeginn; der Eröffnungstermin wurde auf den 21. April 1960 festgelegt und in der Tat eingehalten. In nur dreieinhalb Jahren wurde in einer zuvor entleerten Fläche eine komplett neue Stadt hochgezogen. Die Ausschreibung für den Generalplan hatte Lúcio Costa mit einigen rudimentären Skizzen gewonnen;. Architekt für die meisten der Gebäude wurde Oscar Niemeyer. Der Kern der Stadt ist der Plano piloto, umgeben von mehreren Satellitenstädten. Der plano selbst ist durch die „Urgeste, das In-Besitz-Nehmen eines Territoriums durch das Kreuz“ gekennzeichnet, so Costa 1962. In der Mitte liegt die Monumentalachse mit den Ministerien in 18 gleichförmigen Scheibenhäusern und der Kathedrale, abgeschlossen vom Platz der drei Gewalten, an dem Nationalkongress, Oberster Gerichtshof und Präsidentenpalast situiert sind. An den beiden Flügeln Richtung Norden und Süden schließen sich in je neun Bändern insgesamt 120 Superquadras an. Sie bestehen aus drei- bis sechsstöckigen Wohnblöcken sowie Serviceeinrichtungen. In jedem Block leben 2-3000 Menschen, je vier Superquadras sind zu einer Nachbarschaftseinheit zusammengefasst. Die Flügel sind von je zwei mehrspurigen Schnellstraßen durchzogen. Veränderungen oder Erweiterungen am Plano pilato sind gesetzlich ausgeschlossen; zum Schutz ist er von einem Grüngürtel umgeben. Städtebauliche Dynamik findet man in einer Reihe von Satellitenstädten in 10 bis 50 Kilometer Entfernung, die ursprünglich nicht geplant waren, zumeist legalisierte Favelas. Das Zentrum ist für 500.000 Einwohner ausgelegt, insgesamt wohnen in Brasilia etwa 2 Millionen Einwohner.
Brasilia ist eine mustergültige CIAM-Stadt[2] und als ein großes anthropologisches Umerziehungsprogramm gedacht gewesen. Die einzelnen Funktionsbereiche wie Arbeiten, Wohnen, Freizeit und die Verkehrswege sind, der „Charta von Athen“ (1943) folgend, strikt getrennt und in Sektoren zusammengefasst. Fortbewegungsmittel sollte vor allem das Auto sein, für die ärmeren Schichten und die Bewohner der Satellitenstädte gab es ein eher schlecht funktionierendes Bussystem. Durch diese Architektur sollte das Sozialverhalten der Bewohner komplett rekonfiguriert werden – als Vorbild für die gesamte brasilianische Gesellschaft. Dazu sollte die Architektur die Menschen systematisch befremden. Das fing mit der extremen Abstraktion des Raumes an. Superquadras und Straßen waren mit Codes versehen, sodass sich die Bewohner eine neuartige Wahrnehmung des Raumes aneignen mussten.
Außerdem wurden die Bewohner zugleich vereinzelt wie vergemeinschaftet. In zentralisierten Gemeinschaftseinrichtungen sollten sie sich treffen, die in Brasilien üblichen Orte der informellen Kommunikation und Begegnungen waren dagegen gezielt eliminiert worden. Es gab beispielsweise keine Straßenecken und damit keine „street corner societies“, auch keine Hinterhöfe, keine Gehwege, die von Geschäften und Wohnhäusern flankiert waren. Soziale Beziehungen, die nicht in den Gemeinschaftsanlagen stattfinden sollten, mussten also in den privaten Raum der Wohnungen verlegt werden; das verhinderte Spontanität und stellte eine hohe Hürde dar. Die Schaufensterseiten der Geschäfte waren den Superquadras zugewandt, damit sollte das in Brasilien übliche Handelsleben auf der Straße unterbunden werden. Die gleichförmigen Fassaden der Wohnblöcke sollten soziale Unterschiede und jede Form der Selbstdarstellung von Individualität und Status auswischen. Eine Broschüre aus dem Jahre 1963 drückte das Ziel so aus: Die Menschen würden gezwungen, wie in einer großen Familie zu leben, in perfekter sozialer Koexistenz, was den Kindern dienen werde, die das Brasilien des Morgen bilden würden.
Warum dieses Projekt nicht funktionierte, ist an anderer Stelle herausgearbeitet worden.[3] Entscheidend ist, dass Brasilia nicht nur Architektur gewesen ist, sondern immer auch ein Bild seiner selbst. Das fing bereits mit Costas Plänen an, die berühmt geworden sind, und setzt sich fort im Grundriss des Plano piloto, der gerne aus der Luft und als Vogel oder Flugzeug wahrgenommen wird. Nicht zufällig beginnen Erzählungen Brasilias deshalb in mehreren Publikationen mit dem Anflug, ob kritisch oder affirmativ: Aus der Luft wirkt die Stadt monumental (auf der Erde trist oder wie ein Signal aus der Zukunft).[4]
Dieser Fliegerblick bzw. das Flugzeug sind Insignien der funktionalistischen Moderne; der Auto-Blick ist die zweite zentrale Perspektive auf die funktionalistische Stadt, die Architekten wie Le Corbusier oder Ludwig Hilberseimer bereits in ihren radikalen Stadtplanungsphantasien der 1920er-Jahre imaginiert und visualisiert hatten. Der Architekt nutzte Flug und Autofahrt als ärztliches Besteck, um aus der kritischen Diagnose eine neue Stadt erwachsen zu lassen,[5] in der dann Landeanflug und Schnellstraße das Bewusstsein der Besucher und Einwohner heilsam verändern würden. Diese Imagination war in Brasilia architektonisch kongenial realisiert. Brasilia zeigte sich als Bild aus zwei avantgardistischen Perspektiven, und jeder sollte wissen, dass diese Stadt modern ist, wie in ihr zu leben ist.
Brasilia wurde also nicht einfach abgebildet, sondern die Abbildungen beglaubigten den modernen Charakter der Stadt, der in ihnen ikonenhaft verdichtet und damit mythisiert wurde. Das zeigen zum einen Bildbände bekannter Fotografen wie René Burri oder Lucien Clergue, zum anderen Bildstrecken in den wichtigen Magazinen wie „Paris Match“ oder „Atlantis“. In vielen dieser Aufnahmen wurde der bewusst skulpturale Charakter Brasilias regelrecht zu Piktogrammen verdichtet. Sie zeigen das Brasilia als eine Art „Reinraum“, in dem ein großartiges soziales Experiment realisiert wurde. Der gebaute Raum wurde durch seine künstlerisch-ästhetische Überhöhung als Propagandabild seiner eigenen Fortschrittlichkeit vermarktet. Ähnlich wie andere Bilder der Moderne – etwa die klinisch sauberen Turbinenhallen der Wasserkraftwerke oder die harmonische Symbiose von Technik und Landschaft durch Parkways und Autobahnen – visualisierte Brasilia als und im Bild konkrete Erfolge und Zielvorgaben, war die Stadt selbst Abbild und Anweisung zugleich. Brasilia wurde, wie die übrige Welt der Funktionalisten, zugleich auf seine materiellen wie visuellen Qualitäten hin gestaltet, um konkrete (körperliche) Folgen, nämlich die Rekonfiguration von Sozialbeziehungen und alltäglichen Verhaltensweisen, realisieren und legitimieren zu können.
Man kann das an den beigefügten Abbildungen sehen. Sie stammen aus der großformatigen und großzügig aufgemachten Zeitschrift „L’Architecture d’Aujourd’hui“ aus den Jahren 1960 und 1962, aus jeweils langen Artikeln über die Stadt im Bau.[6] Abbildung 1 zeigt oben Wohnungen, die für die Bauarbeiter errichtet wurden, in der Mitte Sozialwohnungen, unten Reihenhäuser für den Mittelstand. Besonders die obere Fotografie erinnert, auch in der Bildregie, stark an das Ideal des funktionalistischen Zeilenhausbaus der späten 1920er- und der 1930er-Jahre: Aus dunkler Umgebung heben sich helle, klare, lineare Strukturen ab, die als Bauten eine nicht länger utopische, rationalisierte, hygienische, moderne Form des Wohnens repräsentieren.
Diese Klarheit ist in Abbildung 2 aufgegriffen, auf der wir oben ein Viertel mit Superquadras sehen, unten eine Kleinfamilie, die aus ihrer hypermodernen Wohnung heraus ihr modernes Wohnumfeld betrachtet. Äußeres und Inneres der Superquadras korrespondieren in ihrem funktionalistischen Purismus.
Abbildung 3 bietet oben einen Blick auf die Monumentalachse, die ebenfalls dem Prinzip der Serialisierung unterliegt. Die Skizze und das untere Bild verdeutlichen das Verhältnis zwischen Menschen und Architektur sowie den Primat des Rasters, das nur in den Repräsentationsbauten der Macht (Kathedrale, Parlament, Präsidentenpalast) durch plastische Skulpturalität durchsetzt ist. Unkontrolliert erscheinen auf diesen Fotografien allein die nicht im Raster abgestellten Autos sowie die Körperhaltung der Besucher (die Flächen zwischen den Gebäuden sind noch nicht gestaltet).
Abbildung 4 unterstreicht den Charakter des klinisch Reinen. Der Raum besteht im Wesentlichen aus Fläche und Block, also heraufragendem Wohn- und plattem Zwischen-Raum, der auf dem Weg zu anderen Blöcken, Institutionen oder zur Arbeit gekreuzt oder in dem auf abgezirkelten Plätzen gespielt wird.
Diese Abbildungen sind Teil eines Bildprogramms in unterschiedlichen Medien, das zeigt, wie aus dem Staub einer wüsten Steppenlandschaft, den ungepflasterten Baustraßen, schiefen Holzhütten, dem ameisengleichen Gewühl der Arbeiter, aus einem Gewirr rostiger Armierungseisen und robuster Holzgerüste sich allmählich die majestätische und zugleich filigrane Skulptur einer perfekten Stadt herausschälte, die dann von den Arbeitern bestaunt, aber nicht mehr behaust wurde. Dort wohnte ausweislich der Bilder nur noch eine bestimmte Spezies, die von Körper, Haltung und Kleidung her präzise in ihre Stadt eingepasst war, als würde diese Ganzheit eine Werbebroschüre ihrer selbst sein. Staub, Unordnung, die Arbeitersiedlungen und Satellitenstädte sind in eigene Bilder ausgelagert, die mit dem Plano piloto nichts mehr zu tun haben, fast schon wie ein Gegenprogramm, das die Reinheit des eigentlichen Brasilias unterstreicht.
René Burri selbst hat 1960 zwei aufwendige Bildberichte geliefert: Im „Paris Match“ die Überhöhung der Skulptur Brasilia, in „Praline“ den Alltag der Arbeiter.[7] Noch heute scheint diese Purifizierung des Raumes zu faszinieren. Lina Kim und Michael Wesely haben Brasilia 2003 in Langzeitbelichtungen aufzunehmen begonnen, auf denen die Menschen regelrecht ausradiert sind, die Stadt zur Geister-Stadt geworden ist. „Beides sind utopische Unternehmen – der Wunsch, eine ideale Stadt bauen zu wollen, ebenso wie der Wunsch, das Phänomen Brasília in Bildern zu fassen. […] Die künstliche Anmutung der Aufnahmen spiegelt sozusagen die Ungreifbarkeit des Ortes wider“, der pars pro toto für den abstrakten Menschheitstraum der idealen Stadt steht.[8]
Dass dieses Bildprogramm Brasilia – zumindest in der Wahrnehmung – regelrecht gestaltet und nicht bloß die Qualität einer Abbildung besitzt, wird an der Gegenprobe deutlich, für die eben diejenigen Bilder dienen mögen, auf denen Menschen auftauchen, die mehr als Beiwerk sind. Wenn die Modernität Brasilias durch die ikonische Überhöhung eindeutig festgeschrieben wurde, so finden wir beispielsweise die Härte der Arbeit oder den Eigensinn der Straßenhändler systematisch ausgeblendet. Einige Fotos bilden zwar Arbeiter und Händler ab, hier aber doch eher als bloßes Abbild, nicht als gestaltete Botschaft. Selbst dann, wenn Betrachter bildliche Gegenüberstellungen kritisch deuten könnten, sind sie durch die Bildtexte entschärft: „Wir alle müssen Essen, ob Tourist, Arbeiter oder hübsche Regierungsangestellte“, heißt es zu drei Bildern, die eine gepflegte Angestellte, einen gut gekleideten Touristen und einen Arbeiter zeigen. Die beiden sitzen in Restaurants, der Arbeiter hockt mit einem Blechnapf in der Erde vor einer Superquadra.[9] Ein anderes Bild zeigt eine „Familie unter den eleganten Bögen des Palácio do Planalto, 1960. Einer der 30.000 am Bau von Brasilia beschäftigten Arbeiter zeigt seiner Frau und den vier Kindern stolz das Resultat seiner Arbeit“[10] – das ihnen freilich immer versperrt bleiben wird. Wenn Baustellen und Straßenhändler gezeigt wurden, so bildete das die Welt vor dem Zustand klinischer Reinheit ab: So würde Brasilia nicht bleiben, es würde nicht „brasilianisch“ werden (also traditionsverhaftet, korrupt, chaotisch).
Vielleicht ist es kein Zufall, dass Lucien Clergue, als er das erste Mal versehentlich in der Regenzeit nach Brasilia reiste, keine Aufnahmen machte, einen alternativen Blick also bewusst vermied. Erst später entdeckte er die Siedlungen und Gräber der Arbeiter und die sozialen Hierarchien in Brasilia, ohne dass das aber seine Ikonisierung der Stadt unterlief. Es handelt sich um eine Welt jenseits des Plano piloto, wie durch Zufall im selben Bildband.[11]
Fotografische Gegenprogramme zur inszenierten Moderne – „The Moon’s Backside“: die verfallende Rückseite der Stadt[12] – scheinen jedenfalls selten gewesen zu sein. Brasilia wurde kaum visuell dekonstruierend beobachtet. Das wäre möglich gewesen, denn immerhin einige Bilder der Einweihung im April 1960 lassen ein Brasilia aufscheinen, auf denen die Bewohner mehr als die für die Landschaftsmalerei wichtigen Staffagefiguren sind, sondern sich die Stadt aneignen. Sie spazieren zu Hunderten auf den scharfkantigen Bauten herum und bringen die architektonische Komposition der Stadt aus den Fugen (obwohl sie natürlich in eine neue fotografische Gesamtkomposition eingefügt wurden).[13]
Sicherlich muss man den Kontext aller dieser Bilder genau prüfen, die Transformation des Negativs in das gedruckte Bild, welche Intentionen Fotografen oder Bildredaktionen bei der Komposition bzw. Auswahl der Fotos hatten, ob sie die Agenda der Architekten bewusst fortsetzten oder selbst von dieser Architektur übermächtigt wurden und eine sozialpolitische Agenda künstlerisch überhöhten, ohne es zu bemerken. Wer z.B. hat im Bildband mit den Fotografien René Burris die Bilder einer Arbeitersiedlung und einer entstehenden Superquadra auf einer Doppelseite positioniert? Die Arbeitersiedlung besteht aus individuell errichteten, provisorischen Holzhütten; von der Form erinnert das an die engen Mietskasernenviertel der industriellen Großstädte. Die klar abgezirkelten Blöcke der Superquadras stehen in größerem Abstand und hellweiß in einer dunklen Landschaft, ähnlich dem funktionalistischen Zeilenhausbau der 1920er-Jahre. Weil die umgebende Landschaft unspezifisch erscheint, könnte man die beiden Bilder für eine Vorher-Nachher-Gegenüberstellung halten, die in der Tradition der funktionalistischen Stadtkritik steht und die Intentionen der Planer Brasilias illustriert: Die Slums weichen der Moderne. Ausweislich der Bildtexte handelt es sich jedoch um zwei unterschiedliche Gegenden – woher stammt also diese Komposition?[14]
Und sollen Bilder von Arbeitern das „wahre“, „ungebändigte“, die der Bewohner des Plano das in Konventionen eingepresste Leben zeigen? Man kann die Bilder so deuten, wenn man die Arbeiterbevölkerung in alltäglichen Situationen und einem vergleichsweise ungeordneten und ungeplant gewordenen („natürlichen“) Raum sieht, dagegengestellt diese Spezies, die zum dekorativen Element des eigenen („künstlichen“) Habitats mutiert zu sein scheint. Auf welcher Seite die Fotografen damals standen, ist jedoch nicht ausgemacht. Lucien Clergue beispielsweise war mit Oscar Niemeyer befreundet. Zu sehr ähneln außerdem die Luftbilder der Verkehrsachsen Brasilias der ästhetischen Überhöhung bundesdeutscher Autobahnen, und, wie erwähnt, die Architekturfotografie dem optimistischen Bildprogramm der Funktionalisten der Zwischenkriegszeit. Warum sollte man in einer positiv begriffenen Umwelt deren Bewohner für Opfer halten?
Trotzdem scheint mir die These hinreichend gesichert, dass das Bildprogramm – zumindest das stilbildender Fotografen und einflussreicher Magazine – insgesamt den Traum der Architekten spiegelte, Brasilia zur schönsten und modernsten Stadt der Welt zu machen. Die neusachliche Magazinfotografie und der funktionalistische Skulpturalismus der Stadt konvergierten, zwei ikonische Ansätze trafen aufeinander und wurden durch Fotografien des Alltags in Brasilia gerade nicht unterlaufen.
Bereits in der Frühen Neuzeit hatten der Französische und der Englische Garten Vorstellungen von der Ordnung der Welt transportiert; von den Gartenstädten des 19. Jahrhunderts bis zu den Superquadras der Nachkriegszeit waren Planer von klaren Strukturen und kontrollierten Räumen beseelt; Stadt und Stadtplan mussten Ordnung schaffen und als Bild repräsentieren. Dupliziert wurde diese Sehnsucht – und das war eine Innovation des 20. Jahrhunderts – in der fotografischen Überhöhung, ein zugleich gebautes und abgelichtetes Gegenbild zur Uneindeutigkeit der Welt. Deshalb ist Brasilia ein gutes Beispiel dafür, wie Raum und Bild eine regelrechte Symbiose eingehen können. Natürlich ist der materiell gestaltete Raum die notwendige Voraussetzung für Bilder und haben Bilder eine illustrierende Funktion. Doch darüber hinaus verlieh die materiell-visuelle Symbiose dem politischen Programm, das Brasilia darstellte, erst Schlagkraft durch die Evidenz des Sehens.
[1] Vgl. die Literatur zu Geschichte und Kritik Brasilias zusammenfassend: Thomas Etzemüller, Brasilia als Experimentalraum und Gesamtkunstwerk, in: Stefan Böschen/Matthias Groß/Wolfgang Krohn (Hrsg.), Experimentelle Gesellschaft (i.E.). Hierauf bauen auch die folgenden Abschnitte auf, die den Aspekt der Bildlichkeit Brasilias vertiefen.
[2] Der CIAM – die „Internationalen Kongresse Moderner Architektur“ – bildete von 1928 bis 1959 eine Denkfabrik wichtiger Architekten der Moderne; vgl. jüngst Evelien van Es u.a. (Hrsg.), Atlas of the Functional City. CIAM 4 and Comparative Urban Analysis, Bussum 2015.
[3] Die einflussreichste Analyse ist nach wie vor James Holston, The Modernist City. An Anthropological Critique of Brasília, Chicago 1989.
[4] Vgl. z.B. Marshall Berman, All that Is Solid Melts into Air. The Experience of Modernity, Harmondsworth 1988 (urspr. 1982), S. 6, unter http://monoskop.org/images/1/1a/Berman_Marshall_All_That_Is_Solid_Melts_into_Air_The_Experience_of_Modernity.pdf; Robert Cohen, Künftiger Ruhm der Retortenstadt Brasilia. Aus Anlass von Oscar Niemeyers 100. Geburtstag, in: Das Argument 50 (2008), Nr. 274, S. 83-92, hier S. 83.
[5] So Le Corbusier 1930 in São Paulo: Carsten Krohn, Ordnung und Fortschritt. Der Stadtplaner Oscar Niemeyer, in: Ingeborg Flagge/Paul Andreas (Hrsg.), Oscar Niemeyer. Eine Legende der Moderne / A Legend Of Modernism, Basel 2003, S. 37-44, hier S. 38.
[6] L’Architecture d’Aujourd’hui 31 (1960), H. 90, S. 24 (Abb. 2), S. 28 (Abb. 1); ebd. 33 (1962), H. 101, S. 27 (Abb. 3), S. 33 (Abb. 4).
[7] Arthur Rüegg (Hrsg.), René Burri. Brasilia, Zürich 2011, S. 193-197. Vgl. auch S. 202-209.
[8] Anette Hüsch (Hrsg.), Archiv Utopia/Archive Utopia. Das Brasília-Projekt von Lina Kim und Michael Wesely, Heidelberg, Berlin 2011, S. 7; die Aufnahmen S. 58-103.
[9] Vgl. Peter Scheier, Brasilia vive!, o.O. o.D. [ca. 1962], S. 38f.
[10] Rüegg, René Burri, S. 148f., der Bildtext auf S. 214.
[11] Vgl. Eva-Monika Turck/Lucien Clergue, Brasília, Ostfildern 2013, S. 23f., 154. Hunderttausend weitere Aufnahmen des werdenden und ungeordneten Brasilia schlummern im Distriktsarchiv; einige wurden zur Jahrtausendwende von Lina Kim und Michael Wesely restauriert und publiziert: Hüsch, Archiv Utopia/Archive Utopia, S. 116-145.
[12] So der Titel einer zweiseitigen Bildstrecke in einer Architekturzeitschrift: Colin Buchanan, The Moon’s Backside, in: RIBA Journal 74 (1967), H. 4, S. 159f.
[13] Vgl. z.B. Rüegg, René Burri, S. 122; Ludger Derenthal/Samuel Jr., Titan (Hrsg.), Brasiliens Moderne 1940-1964; José Medeiros Thomaz Farkas, Marcel Gautherot, Hans Gunter Flieg. Fotografien aus dem Instituto Moreira Salles, Bielefeld 2013, S. 127.
[14] Vgl. Rüegg, René Burri, S. 14f., 211.
Zitation
Thomas Etzemüller, Dinge als Bilder ihrer selbst. Das Beispiel Brasilia – materialisierter Raum und visualisierte Praxisanweisung, in: Visual History, 18.04.2016, https://www.visual-history.de/2016/04/18/dinge-als-bilder-ihrer-selbst-das-beispiel-brasilia-materialisierter-raum-und-visualisierte-praxisanweisung/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok.5.1215
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