Rezension: Die schönen Insel-Bilderbücher
„Weil es niemanden gibt, der sich 3 Jahre Zeit nimmt, um 7 Bilder zu malen – außer mir –, sollte auch das Kleid des Buches, das sie aufnehmen soll, aus einem Stoff sein, den es nicht mehr gibt, was nur heißen kann, daß man ihn eigens für dieses Buch erstellen müßte.“ (S. 95) Dies teilte die Künstlerin Anita Albus ihrem Verleger Siegfried Unseld mit, als sie 1977 über die Ausstattung der von ihr zusammengestellten und illustrierten Wiegenlied-Anthologie „Eia popeia et cetera“ (1978) verhandelte.
Die Forderung nach Qualität war den Künstlern und den Verlagsverantwortlichen der Reihe Ein Insel-Bilderbuch eingeschrieben. Der Insel-Verlag hatte sechs Jahre zuvor die Schriftstellerin, Lyrikerin und Übersetzerin Elisabeth Borchers gewonnen, um sein damals schon anspruchsvolles Bilderbuchprogramm inhaltlich und ökonomisch weiterzuentwickeln. 1971 bis 1991 hatte sie die Projektleitung inne, unter anderem mit dem Ziel, „das literarische und künstlerische Niveau der Bilderbücher für Kinder so zu halten, daß sie das Kindesalter überdauern und auch wertvoll für Erwachsene sind“ (1976, S. 14). In der Gründungszeit des Verlags war 1900 das außergewöhnliche, die Moderne ankündigende Bilderbuch „Fitzebutze: allerhand Schnickschnack für Kinder“ mit Versen von Paula und Richard Dehmel und Illustrationen von Ernst Kreidolf[1] erschienen.
Ab 1969 versuchte der Verlag, an dieses Erbe anzuknüpfen, indem er mit Künstlern und Autoren wie Walter Schmögner und Barbara Frischmuth oder Erich Kästner zusammenarbeitete. Diese Zeit charakterisierte der Bilderbuchforscher und Künstler Jens Thiele folgendermaßen: „Der pädagogisch-psychologische Perspektivwechsel im Bilderbuch hatte seine Wurzeln in der veränderten Sicht auf Kindheit und Jugend. Der Politisierungsschub um 1970 hatte das Erziehungssystem in der Bundesrepublik nachhaltig erschüttert […]. Auch im Bilderbuch tauchten nun veränderte Themen und Werte auf, die […] Partei für das Kind ergriffen […]. In den betont gesellschaftskritischen Ansätzen nach 1970 ging es immer stärker um die Stärkung kindlicher Identität, die sich in den Bilderbüchern in den Entwürfen von Autonomie und Selbstbewusstsein zeigte“ (2002, siehe S. 14). Als innovativ-bedeutsam wurde der Insel-Verlag neben zum Beispiel Middelhauve oder Beltz & Gelberg damals wahrgenommen.
„Schönheit kann man kaufen“, schrieb die Basler Nationalzeitung 1976 aus Anlass des Erscheinens von „Mit dir sind wir vier“ von Almut und Robert Gernhardt (S. 89). Anders als die meist überbordende Kritik reagierte jedoch das eher skeptische Sortiment, die Buchhandlungen, auf die hochpreisige und vom breiten Publikum nicht so häufig nachgefragte künstlerisch und literarisch hochklassige Ware (nicht kindgemäß, „elitär“, S. 130). Borchers selbst war sich dieses Dilemmas bewusst: „Die Dispositionslisten der Verlage sind unbestechlich“ (1978, S. 129); „Kein Wunder also, wenn sich die Augen der als fortschrittlich annoncierten Vertreter (vor allem Vertreterinnen!) des Kinderbuchgeschäfts beim Anschauen unserer Bücher auftaten“ (1972 nach dem Besuch der Kinderbuchmesse in Bologna, S. 132). Roland Stark schließt: „Diese Bilanzierung von Erfolg und Anspruch, von neuen Aufgaben und dem traditionellen Gebiet der klassischen Literatur führte zu dem allmählichen Ausdünnen und schließlich zum Versiegen dieses speziellen Programms.“ (S. 131) In den 20 Jahren, in denen Borchers die Programmleitung innehatte, erschienen 85-90[2] Erstveröffentlichungen sowie 26 Faksimiles von Bilderbüchern vor allem des 19. und frühen 20. Jahrhunderts dezidiert als Ein Insel-Bilderbuch.[3]
Darunter waren die Künstler und Illustratoren Anita Albus, Walter Schmögner, Wilhelm Schlote, Nicola Bayley, der Karikaturist Hans Traxler, der Comic-Künstler Mordillo oder die Insel-Autoren Günter Eich und Dieter Kühn. Bilderbuchadaptionen erfuhren die Klassiker Joyce, Wilde, Carroll oder R. Walser. Text/Bild-Kooperationen gingen mehrfach die Autoren und Illustratoren Borchers/Schlote sowie Almut und Robert Gernhardt ein. Elisabeth Borchers erzählte einige Puschkin-Märchen nach; sie erschienen mit Illustrationen von Ivan Bilibin. Die Faksimiledrucke entstanden meist aus der Zusammenarbeit mit dem ostdeutschen Verlag Edition Leipzig.
15 Werke erhielten Preise: Der Deutsche Jugendliteraturpreis ging 1976 an „Heut wünsch ich mir ein Nilpferd“ (Schlote/Borchers), 1983 an „Der Weg durch die Wand“ (Almut und Robert Gernhardt). Zwei weitere Bücher standen auf der Auswahlliste des Deutschen Jugendliteraturpreises. 13 Titel wurden in die „Fünfzig schönsten Bücher“ der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen, darunter: Anita Albus, Wilhelm Schlote, Almut und Robert Gernhardt. Ein anspruchsvolles und künstlerisch-literarisch erfolgreiches Programm, das – wohl aus ökonomischen Gründen – nach Borchers Ausscheiden aus dem Verlag keine Fortsetzung (außer Nachdrucken) erfuhr!
Entstehung und Entwicklung, künstlerische, literarische und pädagogische Aspekte sowie Buchmarktdaten (Produktionszahlen, Lizenzverhandlungen) der Bilderbuch-Sparte des Insel-Verlags, Resonanz und Kritik hat der Verfasser dieser Monografie[4] zusammengetragen und das Material, das vor allem auf der Auswertung des Siegfried Unseld Archivs (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach beruht, in 14 Kapiteln und einem bibliografischen und Bildteil (siehe unten) zu einem Gesamtbild aufbereitet: 1970-1990 war ein spannender Zeitraum in der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur, der Buchillustration und der allgemeinen Literatur. Die Programmverantwortliche Elisabeth Borchers, der Insel-Verleger Siegfried Unseld sowie Künstler und Autoren fanden – oft nach rigoros kämpferischen Auseinandersetzungen – zu einem Buchprojekt zusammen, das auch noch aus heutiger Sicht, lohnt zu entdecken. Diese Bücher werden von Stark mit dem aus den Verlagsakten gewonnenen Hintergrundwissen auch inhaltlich beschrieben. In der Bibliothek der ALEKI (dem Arbeitsplatz der Rezensentin) befinden sich 35 Insel-Bilderbücher aus den Jahren 1972 bis 1989; die meisten gelangten über eine Schenkung (Bilderbuchsammlung Schachta, Aachen) in unsere Bibliothek. Hier – wie natürlich auch in anderen Bibliotheken – kann man sie in die Hand nehmen (und als erwachsener Leser staunen).
Zum bibliographischen und Bildteil (S. 135-149) führt Stark die Bilderbücher des Insel-Verlags nebst einem Autoren- und Künstlerregister auf. Die Bibliografie nennt alle im Insel-Verlag erschienenen Bilderbücher (Reprints in Kursivschrift) von 1900 bis heute: 137 Titel, darunter 28 Faksimiledrucke. Auf S. 151-152 folgt das Literaturverzeichnis, S. 153-210 ein Bildteil mit 28 Farbtafeln (Umschlagbilder). Wie in der Besprechung zu Starks „Schaffstein-Monographie“[5] möchte ich zur Bibliografie vermerken: „Dem Buch des mit vielen Artikeln und Beiträgen speziell zur KJL der Jahrhundertwende um 1900 hervorgetretenen Autors Roland Stark hätte ich eine besser strukturierte Bibliographie und Titelnennungen mit größerer bibliothekarischer Genauigkeit gewünscht; wobei betont werden muß, daß die Fakten kenntnisreich zusammengetragen worden sind.“ Ein Manko im Text sind (gewollt?) fehlende oder falsch gesetzte Bindestriche (z.B.: Wal Geschichte, S. 50; Goethe Zitat, S. 93; freundschaftlich – kritisch, S. 57; Faksimile Ausgabe, S. 103). Das Buch bildet den 91. Band der mittlerweile neben Hans-Heino Ewers von Ute Dettmar (Institut für Jugendbuchforschung, Frankfurt) und Gabriele von Glasenapp (Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendmedienforschung, Köln) herausgegebenen Reihe Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien. Nahezu alle Bände dieser seit längerem schön gestalteten Reihe haben eine einladende Umschlagabbildung. Dieser – obwohl sie auf der Titelblattrückseite aufgeführt ist – nicht. Schade!
Roland Stark, Die schönen Insel-Bilderbücher, Peter Lang Verlag Frankfurt a.M. 2014, 210 S., Bibliographie und Register der Bilderbücher des Insel-Verlags, ISBN 978-3-631-64730-1, EUR 44.95
Quelle: Informationsmittel (IFB): Digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft
Diese Rezension ist eine Zweitveröffentlichung und zuerst auf dem Portal IFB erschienen. Wir danken Dr. Klaus Schreiber für die freundliche Genehmigung, den Text auf Visual History zu veröffentlichen.
[1] Vgl. Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur/ begr. von Theodor Brüggemann. – Stuttgart ; Weimar : Metzler. – 27 cm [1510]. – Von 1800 bis 1850 / Otto Brunken, Bettina Hurrelmann und Klaus-Ulrich Pech. [Mitarb.: Susanne Barth … Bibliographie: Maria Michels-Kohlhage …]. – 1998.- XLVI Sp., 2256 Sp. : Ill. – ISBN 3-476-00768-5 : DM 398.00. – Sp. 199 – 202, Nr. 172. – Rez.: IFB 98-1/2-026- Fitzebutze: 100 Jahre modernes Kinderbuch; eine Ausstellung des Schiller-Nationalmuseums und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar 18. Juni – 27. August 2000 im Humboldt-Saal des Deutschen Literaturarchivs / [Ausstellung und Katalog: Roland Stark. Unter Mitw. von Silke Becker-Kamzelak] – Marbach am Neckar : Deutsche Schillergesellschaft, 2000 (Marbacher Kataloge ; 54) – Rez.: IFB 00-1/4-035
[2] Die Zahl lässt sich nicht genau bestimmen, weil einige Titel erst in späteren Ausgaben die Reihenbezeichnung führen. Der KVK bzw. die Katalogisate der Bibliotheken lassen den Benutzer hier in Stich, weil häufig auf die Reihenangabe Ein Insel-Bilderbuch verzichtet wurde. Roland Stark verzichtet leider in seiner Bibliografie auch darauf.
[3] Darüber hinaus waren im übrigen Programm des Verlags (Insel-Bücherei, Insel-Taschenbücher) weitere Kinder- und Jugendbücher vertreten, bei den Taschenbüchern oftmals als Zweitverwertung.
[5] Roland Stark, Der Schaffstein-Verlag: Verlagsgeschichte und Bibliographie der Publikationen 1894-1973, Frankfurt a.M. 2003, S. 180-247 Verlagsbibliographie. Rez.: IFB 04-1-058.