Biografische Bildpolitik – Erich Honecker und das zeitlose Herrscherporträt
Vor neutralem Hintergrund ist ein grauhaariger Mann unbestimmten Alters in korrekter Kleidung zu erkennen, dessen durch eine Hornbrille verschatteter Blick ausdruckslos auf den Betrachter gerichtet ist: das Gesicht der Gesichtslosigkeit kommunistischer Herrschaft. So hing das Bild des von Erich Honecker verkörperten SED-Regimes fast zwanzig Jahre lang in den Amtsstuben der Parteistellen und Dienstbehörden des zweiten deutschen Staates. Das ausdruckslose Herrscherporträt war politisches Programm als Ausdruck einer alterslosen Macht, die sich nicht auf eine in Wahlen errungene Zustimmung von Wählermassen stützte und auch nicht auf die mitreißende Begeisterungskraft eines Volkstribunen, sondern allein auf die Stärke der sozialistischen Einheitspartei und ihrer bürokratischen Gewalt.
Dieses Bild ist biografisches Programm: Nicht die Kraft des Einzelnen, sondern die Macht des Kollektivs stand im Zentrum kommunistischer Herrschaftsrepräsentation. Von der Gewissheit, dass die Partei „immer recht“ habe, bis hin zu ihrer Ausstattung mit anthropomorphen Zügen reicht die Sakralisierung des Kollektivs im Allgemeinen und der Partei im Besonderen in der kommunistischen Bewegung. Während die charismatische Aura des faschistischen Diktators in der propagierten Einzigartigkeit der Führerpersönlichkeit zur Geltung kam, verehrte die politische Kultur des SED-Regimes noch im Individuum das Ganze: „Unser Ruf den Feinden entgegenhalle: Walter Ulbricht – das sind wir alle!“[1]. Das Porträt präsentiert eine selbstgewisse Herrschergestalt, die zugleich von individuellen Zügen gereinigt ist. Honecker erscheint in seinen zahllosen Varianten nahezu alterslos und durch Retuschierung aller individualisierenden Züge so weit beraubt, dass selbst die unverwechselbare Narbe auf der linken Stirnseite in den öffentlich verbreiteten Porträtfotos nicht mehr zu erkennen war.
Honeckers Herrscherporträt zeigt in seinen zahllosen einzelnen Varianten weder Emotionen, noch ist es räumlich oder zeitlich klar zuzuordnen. Die Botschaft, die es aussendet, ist abstrakt: Das SED-Parteiabzeichen an Honeckers Revers führt dem Betrachter die kollektive Kraft der kommunistischen Partei vor, lässt in seiner korrekten Kleidung die staatsmännische Handlungssicherheit erkennen und strahlt im unverwandten Blick die ruhige Selbstgewissheit der Herrschaftselite aus. Wenn die Visualisierung des bürgerlichen Politikers im 20. Jahrhundert in seiner Körperlichkeit nacheinander Würde, Leistung und Glaubwürdigkeit präsentierte, wie Thomas Mergel dies am Beispiel deutscher Politikerfotos beschrieben hat,[2] so stellt das kommunistische Funktionärsporträt die überindividuelle Gesetzmäßigkeit der sozialistischen Ordnung vor.
In Honecker scheinen sich politische Anforderung und persönliche Wesensart zur Lebensgeschichte eines blassen Diktators zu ergänzen. Entsprechend statten die vorliegenden Biografien das Bild Erich Honeckers bevorzugt mit den lebensgeschichtlich gleichbleibenden Zügen eines emotional verarmten, intellektuell zurückgebliebenen Kümmerlings aus: „[…] ein zu hoch gestiegener Apparatschik, ideenlos, irgendwie peinlich und vor allem eins: mittelmäßig. Das Talent zur Selbstdarstellung fehlte ihm fast völlig.“[3] Dieser Gesamteindruck biografischer Konturenlosigkeit kann sich auf niemand Geringeren als Helmut Schmidt berufen. „Mir ist nie klar geworden, wie dieser mittelmäßige Mann sich an der Spitze des Politbüros so lange hat halten können“, wunderte sich Helmut Schmidt noch nach dem Tod seines innerdeutschen Gegenspielers.[4] Schmidt formulierte damit einen eigentümlichen Widerspruch, den schon zahlreiche Biografen in den letzten fünfzehn Jahren als das „im Wesen Honeckers verborgene Paradoxon“[5] zu entschlüsseln versucht haben: „Wie konnte ein äußerlich so unscheinbarer Mensch, ein intellektuell überforderter und rhetorisch unbegabter Politiker die Machtfülle, die er besaß, erringen und über so viele Jahre sich erhalten?“[6]
Aber wird diese Beschreibung Erich Honecker überhaupt gerecht? Oder beruht das wieder und wieder behauptete Paradoxon der mächtigen Mediokrität womöglich auf Gründen, die mehr im Auge des Betrachters als im Wesen des Betrachteten zu suchen sind? Zu fragen ist, ob das Bild des monotonen Silbenverschluckers, dessen intellektuelle Strahlkraft sich in schlichten Weisheiten wie dem Bebel-Satz „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf“ erschöpft, mehr ist als ein Klischee, das die Bildregie des SED-Staates für die lebensgeschichtliche Realität nimmt.
Nicht nur wohlgesonnene Beobachter hatten noch nach Jahrzehnten ganz andere Erinnerungen an Honeckers mitreißendes Auftreten in den alltäglichen politischen Auseinandersetzungen im Saarland bewahrt. Ein ungefähr gleichaltriger Widersacher von der SPD, später stellvertretender Chefredakteur der „Saarbrücker Zeitung“, wusste noch 1977 von der auffallenden und vor allem rhetorischen Durchsetzungskraft des saarländischen Jungkommunisten Erich Honecker zu berichten, der dank seines Redetalents schon als Schüler einen bleibenden Eindruck hinterlassen habe: „Er war immer schon damals gut angezogen, machte einen sehr guten Eindruck, sah gepflegt aus.“[7] Honecker konnte gewandt für seine Sache streiten;[8] er „war ein guter Redner, und vor allen Dingen war er […] von dem, was er sagte, selbst überzeugt“.[9]
Andere Zeugnisse von Weggefährten und Widersachern bestätigen die Vermutung, dass die biografische Blässe Erich Honeckers auf einer nachträglichen Blickverschiebung beruht – sie ist offenbar kein individuelles Faktum, sondern ein kollektives Konstrukt. Unschwer lässt sich allein aus dem überlieferten Bestand an zufällig entstandenen oder selbst inszenierten Porträtaufnahmen das Bild eines engagierten kommunistischen Nachwuchspolitikers gewinnen, der mit Kraft und Selbstbewusstsein für seine Sache streitet und im Bewusstsein seiner Ausstrahlung von dandyhaften Zügen keineswegs frei ist.
Gleiches gilt für die private, der Öffentlichkeit bis 1990 verborgene Seite im Leben Erich Honeckers. Auch in den beiläufigsten Schnappschüssen von Bootsausflügen auf märkischen Seen oder später von Erholungsurlauben an der Ostsee tritt ein gewinnender und attraktiver Ehemann und Familienvater hervor, der wenig mit der ältlichen Kleinbürgerlichkeit des durch den Spreewald paddelnden oder auf dem Leipziger Turnerfest posierenden Staatsratsvorsitzenden Ulbricht zu tun hat. Die Bilder von Honecker präsentieren vielmehr einen selbstsicheren Mann, der nach überstandener Scheidung von seiner bisherigen Ehefrau zusammen mit seiner schönen und jungen Gefährtin eine Liebesehe eingeht, die wie ein ostdeutsches Gegenstück zur Glamour-Ehe der Kennedys erscheint – Vilm an der Ostsee statt Cape Cod am Atlantik.
Diese Fotos eines unbeschwerten Familienglücks waren in der DDR aus gleich mehreren Gründen nicht vorzeigbar: Die idyllische Bootspartie unternahm ein Parteifunktionär, der mit dem Mauerbau vom 13. August 1961 dafür sorgte, dass auch einfache Segeljollen mit dem Stigma des möglichen Fluchtinstruments gebrandmarkt waren. Das ungestörte Dünenglück von Vilm entfaltete sich auf einer Funktionärsinsel, die in empörendem Gegensatz zum kommunistischen Egalitätsanspruch allein der Erholung der Machtelite vorbehalten und zur Abwehr von ungebetenen Besuchern auf keiner Landkarte der DDR verzeichnet war. In ihrer Unbefangenheit sprechen diese Bilder von einer genussorientierten Leichtigkeit, die sich mit der inszenierten Vorbildrolle des ernsten Parteiarbeiters in keiner Weise zur Deckung bringen ließ.
Seine Bildbiografie lässt erahnen, wie stark der Rollendruck war, der Erich Honecker und seine Frau in ihrem politischen Aufstieg begleitete und beide zu persönlichen Einschränkungen im Tausch mit dem Erwerb von Macht drängte. Nach und nach wurden die Spielräume der persönlichen Entfaltung kleiner und reduzierten sich allmählich auf kleine Rollenfluchten, wie sie exemplarisch ein Schnappschuss von Honecker als Matrose festhält.
Dieses Foto nahm – wie zahlreiche andere auch – das Ministerium für Staatssicherheit unter Verschluss. Es belegt in der verlegenen Haltung des Porträtierten, dass die Mesalliance von Politik und Körper fortbestand, die seit dem berühmten Skandalfoto von Ebert und Noske 1919 in der Badehose zu einem festen Bestandteil der deutschen im Unterschied etwa zur italienischen Politikkultur zählte.[10] Fortan zeigte sich Honecker auch bei Schwarzmeerausflügen erkennbar rollenbewusster.
Seine Flucht aus dem DDR-Alltag hatte er zu dieser Zeit längst in den geschützten Raum der Jagd verlegt, die ihm aufgrund ihrer naturbedingten Abgeschiedenheit und zugleich langen diplomatischen Tradition zumindest außerhalb der offiziellen Staatsjagden jenen Abstand von der rollengerechten Machtrepräsentation bot, den ihm seine politische Funktion als erster Repräsentant der SED-Herrschaft versagte.
Bilder machen Biografien. Um die biografische Erzählkraft der Honeckerschen Bildwelt eingehender analysieren zu können, lassen sich drei Akteure und Akteursgruppen voneinander abgrenzen: erstens der autobiografische Ich-Erzähler selbst, der Bilder von sich erzeugt und überliefert; zweitens die Gruppe der Biografen von den Verwandten bis zum Parteiapparat, die Bilder freigibt und propagiert oder vernichtet und unterdrückt; und schließlich drittens das Publikum, das sich sein Honecker-Bild durch Auswahl und Veränderung des vorhandenen Materials formt oder auch selbst erzeugt.
Honeckers Biografie formte sich durch den lautlosen Bilderstreit, den diese drei Gruppen miteinander ausfochten. Die besten Waffen dabei besaß Honecker und mit ihm die Partei, die das biografische Bilderarsenal über Honeckers eigene Bildüberlieferung und ihre Archivhoheit sowie natürlich das staatsoffizielle Bildmonopol von ADN hüten und immer weiter ausbauen konnte. Mit der erodierenden SED-Herrschaft am Ende der 1980er-Jahre ging diese Macht verloren, und es traten andere Akteure auf den Plan: zunächst die oppositionellen Diktaturgegner mit ihrer entlarvenden Bildsprache und spätestens mit dem Fall der Berliner Mauer immer stärker die Medien.
Die bildliche Begründung der Kontinuitätsbiografie
Im Zentrum stand dabei die Bildmacht des SED-Regimes, das Honeckers Kontinuitätsbiografie bildlich beglaubigen wollte und in zahlreichen Publikationen mit opulenten Bildstrecken zum Leben des Staatsratsvorsitzenden erzählte. Zentraler Bezugspunkt war das zeitlose Herrscherporträt, das in der 1980 erschienenen Autobiografie Erich Honeckers gleich zweimal auf die Lektüre einstimmt, nämlich auf dem Schutzumschlag und dann noch einmal zusammen mit der beglaubigenden Unterschrift hinter dem Titelblatt. Ganz im Sinne dieses zeitlosen Leitbildes schildert die im Text dargebotene Lebensgeschichte die Vita eines sich von Anfang bis Ende treuen puer senex, der sich laut eigener Aussage „an keinen Augenblick in meinem Leben erinnern (kann), da ich an unserer Sache gezweifelt hätte“.[11]
Die erzählerische Entzeitlichung des eigenen Lebens machte den unerhörten Vorgang überhaupt erst möglich, dass ein SED-Chef ohne Not der Welt seine Autobiografie vorlegt – im vollem Bewusstsein, dass er damit eine autobiografische Wette auf die Wahrheit seiner Lebenserzählung eingeht, die zu verlieren ihn das Amt und die DDR die Existenz hätte kosten können. Aber Honecker glaubte seine Ich-Erzählung. Im September 1990 um eine knappe Selbstcharakterisierung gebeten, erteilte er dem ihn untersuchenden Gefängnisarzt die lakonische Auskunft: „Ich war Kommunist, bin Kommunist und werde Kommunist bleiben.“[12] In der Tat behielt Honecker sein Leben lang denselben politischen Zielhorizont vor Augen, und er formulierte seinen mit Frieden, Obdach, Nahrung und Arbeit umrissenen politischen Forderungskatalog noch 1989 nicht anders, als er es sechzig Jahre zuvor getan hatte,[13] was schon den nur wenige Jahre jüngeren Hermann Axen befremdete: „Erich hat noch im Alter die Ideale aus den dreißiger Jahren gehabt: Der hat zum Beispiel einmal jungen Leuten erzählt: ‚Hättet ihr 1945 gedacht, daß wir heute solche Wohnungen bewohnen können?‘ Bloß haben diese Leute damals noch nicht gelebt. Für Erich war wichtig, ein Dach überm Kopf zu haben, genug zu essen, warme Kleidung, genug Geld für eine Eintrittskarte fürs Kino am Wochenende und ein Kondom.“[14]
Die parallele visuelle Erzählung war zu einer solchen rückblickenden Entzeitlichung des eigenen Lebens naturgemäß nur begrenzt in der Lage; sie konnte nicht umhin, der imaginierten Zeitlosigkeit des Herrscherporträts die Vetokraft des fotografischen Bildmaterials in seiner physisch und physiognomisch ablesbaren Zeitlichkeit gegenüberzustellen. Tatsächlich zeigen gleich mehrere Abbildungen in seiner Autobiografie Honecker als Jugendlichen im Kreise seiner Familie. Dennoch zerstört die Bilderauswahl nicht die ikonische Zwingkraft des zeitlosen Herrscherporträts. Denn es handelt sich um illustrative Bilder von hoher Zeichenhaftigkeit, die das Narrativ des zeitlosen Repräsentanten der sozialistischen Gesetzmäßigkeit nur mit wenigen konkreten und immer kontrollierten Zügen ausstatten: die sorgende Mutter, das Vatervorbild, die kommunistische Sozialisation. Mit anderen Worten: Die häufig reproduzierten Kindheits- und Jugendbilder überführen die Zeitlosigkeit des Honecker-Porträts nicht in die Zeitlichkeit des Alterns, weil sie eine im Grunde nicht wiedererkennbare Person zeigen, die Erich Honecker heißt, aber visuell nicht mit dem Herrscherporträt identifizierbar ist.
Unter Verschluss hingegen blieben Porträts, die gerade durch ihre physiognomische Ähnlichkeit mit dem Herrscherporträt einen ungewollten Verfremdungseffekt hätten auslösen können. So ist seine Autobiografie mit acht Kinder- und Jugendporträts[15] aus der Zeit von 1915/16 bis 1935 ausgestattet, der vier Bilder aus der Zeit von 1946 bis 1958[16] folgen sowie 18 aus der Zeit von 1971 bis 1980 – aber kein einziges aus den Jahren 1959 bis 1970. Eine ähnliche Verteilung zeigt ein beigefügter Bilderanhang auf Fotopapier. In ihm stehen dem Übergewicht von 45 Porträts aus der Amtszeit des immer gleich visualisierten Generalsekretärs lediglich sieben Bilder aus der Zeit von 1931 bis 1970 gegenüber, und von ihnen schlägt ein einziges aus dem Jahr 1961 eine Brücke zwischen dem Jungkommunisten und dem Generalsekretär.
Fast gänzlich sparte Honeckers Autobiografie Bilder aus, die dem kanonisierten Porträt gerade durch ihre nur leichten Abweichungen von den gewohnten Zügen die Aura der Zeitlosigkeit hätten nehmen können – so etwa Aufnahmen, die ihn mit seinen Eltern in den sechziger Jahren zeigen, aber auch Porträtbilder aus dieser Zeit, die den künftigen Generalsekretär in seiner zeitlosen Haltung bereits erahnen lassen und daher in ihrer nur dezenten Unvertrautheit umso irritierender auf den Betrachter wirken.
Dass die Bedeutung des biografischen Bildereinsatzes Honecker und seinen Medienlenkern völlig bewusst war, steht im Übrigen außer Frage. Wie man Porträts zur politischen Entmachtung nutzen kann, bewies schon gleich nach Honeckers Aufstieg an die Spitze des Staates ein Aufsehen erregendes Foto im „Neuen Deutschland“, das die Geburtstags-Gratulationscour des Politbüros vor dem eben entmachteten Walter Ulbricht festhielt: Es zeigt einen behende auf den Jubilar zugeeilten Generalsekretär Erich Honecker, der zur Gratulation mit beiden Händen den Arm seines matt im Sessel verharrenden Vorgängers ergreift. Das Foto wurde schon von zeitgenössischen Beobachtern als Ausdruck einer gezielten Diskreditierungsstrategie verstanden, gegen die sich Ulbricht bis zu seinem Tode 1973 vergeblich zu wehren suchte: Die visuelle Botschaft, die alterslose Frische gegen verbrauchte Hinfälligkeit setzte, erwies sich als übermächtig.
Nach Honeckers Rücktritt tauchten im November 1989 auf den Leipziger Montagsdemonstrationen auch Bildcollagen auf, die sein Herrscherporträt nutzten, um den ehemaligen Staatschef in Zuchthauskluft vorzuführen und damit ihrer Forderung nach seiner Verhaftung Nachdruck zu verleihen. Doch es war nicht die karikaturistische Delegitimation des Staatsporträts, die die herrschaftliche Zeitlosigkeit des Honecker-Porträts am erfolgreichsten als verlogene Pose demaskierte. Weit durchschlagender wirkte, dass sich in den Herbstwochen des Diktaturzusammenbruchs eine visuell beglaubigte Gegenerzählung etablierte, die die imaginierte Zeitlosigkeit des Staatschefs durch die dokumentierte Vergänglichkeit des Gerontokraten Honecker konterkarierte.
In der seit dem Herbst 1989 rasant wachsenden Beliebtheit von Verfallsporträts spiegelt sich, wie sehr die Menschen im revolutionären Umbruch danach verlangten, die historische Überholtheit von Honeckers Herrschaft nicht nur verbal, sondern auch visuell beglaubigt zu wissen. Die Bildzeugnisse von Honecker auf seinen einsamen Spaziergängen und vor Gericht entlarvten den vermeintlich zeit- und alterslosen Machthaber als störrischen Greis, der die Zeichen der Zeit nicht mehr zu verstehen vermochte und in seiner Hinfälligkeit das Traditionsbild der zeitlosen Stärke im wörtlichen Sinne dementierte, also durch ein Bild der Demenz ersetzte.
Die im Herbst und Winter 1989 aus der entrückten Zeitlosigkeit in die Zeitlichkeit zurückgeholte Persönlichkeit des gestürzten Diktators erfuhr in den Folgejahren entsprechend den einzelnen sich formierenden DDR-Erzählungen durchaus unterschiedliche Konturierungen. In den Enthüllungen des Diktaturgedächtnisses über das Luxusleben von Wandlitz gewann ein Persönlichkeitsbild Oberhand, das Honecker als korrupten Privilegieninhaber und verschwenderischen Landesverderber illustrierte, der sich nicht anders als der weiland Reichsjägermeister Hermann Göring das Wild im Dutzend vor die Büchse treiben ließ und in seinen luxuriösen Jagddomizilen in der Schorfheide Schusswaffen, Range Rovers und Pornokassetten hortete.
Das gegenläufige Erzählmuster besonders früherer DDR-Eliten suchte Honecker als verfolgten Helden zu zeichnen, der von der Rachsucht der Sieger von einem Ort zum anderen getrieben wurde, aber einem Hannibal gleich auch in der Fremde zur Fortsetzung des Kampfes um eine gerechte Gesellschaft aufrief. In dieser Bildpolitik erschien Honecker vor allem als unbeugsame Kämpfernatur, die in der Bedrängung durch die bürgerliche Justiz zu ungeahnter Stärke fand und aus der Verteidigung der sozialistischen Idee und ihres vom Westen übernommenen Staates bewundernswerte Kraft schöpfte. Allerdings waren der Visualisierung dieses heroischen Kämpfernarrativs angesichts des raschen Fortschritts von Honeckers tödlicher Krebserkrankung enge Grenzen gesetzt. Manche Bilder, die den Eindruck einer ungebrochenen Vitalität vermitteln sollten, erzielten außerhalb des engsten Getreuenmilieus ungewollt eher das Gegenteil ihrer Wirkungsabsicht.
Nach der Einstellung des Gerichtsverfahrens gegen Erich Honecker und dessen anschließender Übersiedlung nach Chile büßten beide Narrative und ihre Bildhaushalte allmählich an Strahlkraft ein. Mehr und mehr setzte sich stattdessen eine Bildsprache durch, die sich von allen anklagenden oder beschwörenden Zügen gelöst hat, aber den ungebrochenen Bekanntheitsgrad des einst ubiquitären Herrscherbildes als Versatzstück einer ironisch postpolitischen Bildsprache nutzt. Besonderer Beliebtheit erfreut sich dabei das Spiel mit der Zeitlichkeit, das den angeblich von Gorbatschow und in Wahrheit von seinem Pressesprecher Gennadi Gerassimow geprägten Satz zum 40. Jahrestag der DDR „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ in neue Kontexte montiert.
Nicht weniger beliebt ist der zitative Bezug auf die Brüderküsse sozialistischer Staatschefs, der von dem besseren Wissen des Betrachters über das Ende des sozialistischen Imperiums lebt und so in authentischer oder verfremdeter Form die Obszönität der unaufrichtigen Despotenkumpanei beleuchtet. Nicht zuletzt hat auch die Ostalgie sich Honeckers bemächtigt und wirbt etwa mit einem grotesk überzeichneten Herrscherbild für einen Kräuterlikör namens „Erich’s (sic!) Rache“.
Der Strom fotografischer Bilder Erich Honeckers war hingegen nahezu abgerissen, seitdem Honecker im Januar 1993 unmittelbar nach der Haftentlassung Berlin in Richtung Santiago de Chile verlassen hatte. Schnappschüsse des auf seinem Sitzplatz an Bord der Maschine in Berlin-Tegel auf den Start wartenden oder später in Santiago de Chile spazieren gehenden Exilanten lichten einen erschöpften Rentner ab, der in Habitus und Kleidung nur noch von ferne an den Machtpolitiker von einst erinnert und der in seinem Bedürfnis nach Schutz vor der Konfrontation mit der Welt von gestern an die Selbstanonymisierung der 1945 nach Südamerika entkommenen NS-Täter erinnert.
Auf letzten privaten Fotos, die die Honeckers in dieser Zeit noch an saarländische Familienangehörige übermittelten, wirkt Honecker als ein zur Puppenhaftigkeit erstarrter alter Mann, dessen verschlossener Mund an der Kommunikation mit der Welt nicht mehr teilnimmt. Erst in diesen letzten Bildern wird der über viele Jahrzehnte hinweg von wechselnden Bildpolitiken inszenierte Erich Honecker zu einer Figur, die nichts mehr bedeuten will und niemandem mehr etwas zu bedeuten hat.
[1] Otto Gotsche, Unser Genosse Vorsitzender, zit. n. Carola Stern, Ulbricht. Eine politische Biographie, Köln/Berlin 1963, S. 286ff. u. 289.
[2] Thomas Mergel, Propaganda in der Kultur des Schauens. Visuelle Politik in der Weimarer Republik, in: Wolfgang Hardtwig, Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933, München 2007, S. 531-560.
[3] Jan L. Lorenzen, Erich Honecker. Eine Biographie, Reinbek 2001, S. 9.
[4] Helmut Schmidt, Weggefährten, Berlin 1996, S. 505. Ebenso „Wie konnte ein äußerlich so unscheinbarer Mensch, ein intellektuell überforderter und rhetorisch unbegabter Politiker die Machtfülle, die er besaß, erringen und über so viele Jahre sich erhalten?“ Norbert F. Pötzl, Erich Honecker. Eine deutsche Biographie, München 2002, S. 7.
[5] „Es ist dieses im Wesen Honeckers verborgene Paradoxon, das seine Biographie so spannend macht.“ Lorenzen, Erich Honecker, S. 1.
[6] Pötzl, Erich Honecker, S. 7.
[7] BStU, MfS HA IX/11, SV 19/77, Bd. 10, Mitschnitt von: Ernst Steinke, Auf den Spuren eines saarländischen Kommunisten. Sendung zum 65. Geburtstag Erich Honeckers, 21.8.1977, Interviewäußerung Erich Voltmer.
[8] „Honecker […] war also kein Brüller, kein Schreier, er hat versucht, nicht wahr, durch Argumente zu überzeugen. Insofern […] war er eine große Ausnahme gegenüber seinen jungen kommunistischen Genossen.“ Ebd.
[9] Ebd., Interviewäußerung Bier.
[10] Auf eben diese Tradition bezog sich die skandalisierende Überschrift in der Pressemeldung, mit der die Bild-Zeitung den überraschenden Bilderfund in der BStU mitteilte: „Fotos aus Mielkes Geheimarchiv. So haben Sie Honecker noch nie gesehen. Staatsratsvorsitzender der DDR jetzt mit nackten Beinen“, in: Bild-Zeitung, 8.6.2010.
[11] Erich Honecker, Aus meinem Leben, Berlin (O) 1981, S. 9.
[12] Archiv der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin, 2 Js 26/90, Bd. 7, K.-J. Neumärker/J. Morgner/G. Schott, Nervenfachärztliches Gutachten Erich Honecker, 2.9.1990, S. 43.
[13] „Hatten nicht bei uns alle zu essen und zu trinken? Ja! Hatten nicht bei uns alle die Möglichkeit, sich sowohl für den Sommer, den Herbst, den Winter und das Frühjahr zu kleiden? Ja! Gab es in der DDR Obdachlose? Nein“. Noch den Verweis auf die „permanente Mangelsituation im Konsumsektor“ parierte Honecker ungerührt mit der Überzeugung, „daß zum Beispiel auf textilem Gebiet die Modefrage eine entscheidende Rolle bei der Profitmaximierung in der kapitalistischen Welt spielt […]. Bei uns konnten alle satt werden.“ Reinhold Andert/Wolfgang Herzberg, Der Sturz – Erich Honecker im Kreuzverhör, Berlin 1990, S. 418 u. 424.
[14] Interviewäußerung Hermann Axen, 17.12.1991, in: Margarita Mathiopoulos, Rendezvous mit der DDR. Politische Mythen und ihre Aufklärung, Düsseldorf/Wien 1994, S. 56.
[15] Davon ein Passbild von 1935 gleich zweimal (S. 60 u. 76).
[16] U.a. Erich Honecker als FDJ-Vorsitzender, mit Maurerlehrlingen, Wahlkandidat.
Zum Weiterlesen:
Martin Sabrow, Der führende Repräsentant. Erich Honecker in generationsbiographischer Perspektive, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 10 (2013), H. 1
Gerhard Paul, Das Mao-Porträt. Herrscherbild, Protestsymbol und Kunstikone, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 6 (2009), H. 1
Zitation
Martin Sabrow, Biografische Bildpolitik. Erich Honecker und das zeitlose Herrscherporträt, in: Visual History, 20.03.2017, https://www.visual-history.de/2017/03/20/biografische-bildpolitik-erich-honecker-und-das-zeitlose-herrscherportraet/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok.5.1207
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