Was ist deine Arbeit wert?

Lohnzettelabgleich, 1957 Volkswagenwerk Wolfsburg; Foto: Günter Franzkowiak © mit freundlicher Genehmigung

Es ist auf den ersten Blick erkennbar, wer auf dieser Aufnahme des Hobbyfotografen Günter Franzkowiak aus dem Jahr 1975 die Hauptrolle spielt: ein Lohnzettel, oder, um genau zu sein, gleich drei davon. Die Blicke der drei Arbeiter des Volkswagenwerks in Wolfsburg lenken auch den des Betrachters unweigerlich auf jenen Papierstreifen, den der Arbeiter im Arbeitskittel am linken Bildrand in den Händen hält. Mit prüfendem Blick, sein Kinn berührt dabei fast seine Brust, scheint er Zeile für Zeile die Zahlen zu studieren, wirkt es doch so, als gleite sein rechter Daumen an diesen entlang, um sich vom ordnungsgemäßen Zustand derselben zu überzeugen.

Bemerkenswert ist, dass er sich dabei gewissermaßen über die Schulter blicken lässt, denn direkt neben ihm, zur Bildmitte hin, nimmt auch ein Kollege den Lohnstreifen in Augenschein. Es mutet an, als habe dieser selbst nur wenige Momente zuvor die eigene Verdienstabrechnung kritisch studiert, die er etwas angespannt mit beiden Händen festhält. Für diese Lesart spricht, dass er den Umschlag der Lohnabrechnung zwischen Mittel- und Ringfinger der linken Hand geklemmt hat: geschwind den Umschlag aufgerissen, den Lohnzettel herausgefischt und nachgesehen, was unter dem Strich herausgekommen ist. Ob die beiden ihr paralleles Zahlenstudium auch kommentierten? Denkbar wäre es.

Der Dritte im Bunde scheint dagegen noch in einer abwartenden Position zu verharren. Auch er aber hat bereits seinen Gehaltszettel geprüft, möglicherweise etwaige gezahlte Zuschläge für Schichtarbeit oder sonstige Zulagen wohlwollend zur Kenntnis genommen und scheint nun der Aussagen der Kollegen zu harren, um sich seinerseits in den Austausch einzubringen. Damit hat der Fotograf Günter Franzkowiak – vermutlich sogar unbemerkt – einen Moment der Kollegialität und Offenheit eingefangen, der in dieser Form wohl nicht oft fotografisch dokumentiert worden ist.

Dass ihm eine solche Aufnahme gelingen konnte, lag wohl wenigstens an zwei Aspekten: Zum einen war Günter Franzkowiak selbst Werkzeugmacher im Volkswagenwerk in Wolfsburg. Als solcher wurde er von seinen Kollegen auch wahrgenommen – und eben nicht als Fotograf und Fremdkörper. Womöglich hat er seinerseits nur wenige Augenblicke zuvor seinen Gehaltszettel ausgehändigt bekommen, war möglicherweise bis eben selbst noch Teil der Gruppe. Zum anderen war Franzkowiak aber auch weit über die Halle der Werkzeugmacher hinaus für seine Passion für die Fotografie bekannt, wurde er doch immer wieder auch von Vorgesetzten um Aufnahmen bei Verabschiedungen oder zu besonderen Anlässen gebeten. Es ist anzunehmen, dass ihn seine Kollegen nicht ohne Kamera bestückt kannten.

Der Umstand, dass der Hobbyfotograf noch bis in die 1970er Jahre hinein überhaupt in den Produktionshallen fotografieren durfte, lässt uns nicht nur zu stillen Zeugen des Austauschs und Abgleichs über das jeweilige Monatsentgelt werden, sondern öffnet darüber hinaus ein Fenster in die Arbeitswelt neben der Arbeit. Wir sehen: einen Kalender und verschiedene großformatige Fotografien, die im Bildhintergrund sichtbar und möglicherweise an der Rückwand einer kleineren Schweißkabine angebracht sind, Ausdruck des Bemühens, den Arbeitsort persönlicher zu gestalten. Auf der Ablage liegt eine Zeitung. Die am rechten Bildrand abgebildete Thermoskanne, ganz Kind der 1970er Jahre, könnte gerade abgestellt worden sein. Die zwei offenbar leeren Bierflaschen auf dem Werkzeugschrank, ganz an die Wand geschoben, lassen darüber hinaus erkennen, dass der Genuss von Bier während der Arbeitszeit offenbar nicht verboten war, wären die Flaschen doch sonst nicht derart sichtbar platziert. Direkt über dem Kopfhaar der mittleren Person hat ein „Werkzeug“ an der Trennwand seinen Platz gefunden, das nicht wirklich zum Werkzeugbestand der Halle gehörte: ein einfacher Flaschenöffner.

Die Existenz dieser Alltagsdinge deutet an, es könnte sich beim Aufnahmeort um einen Platz handeln, der von den Kollegen zu einem Pausenraum umfunktioniert wurde, zumindest als Treffpunkt diente. So wird die Momentaufnahme Günter Franzkowiaks zu einer Mittlerin, die uns an einen eher unscheinbaren Ort des Arbeitsalltags führt, der für das Miteinander der Arbeitenden aber von elementarer Bedeutung scheint. Hier war Raum für den einvernehmlichen Austausch – selbst über das Thema, bei dem Freundschaft, wie es sprichwörtlich heißt, normalerweise aufhört.

 

Die Bilder von Günter Franzkowiak sind vom 29. Mai bis zum 20. Juni 2019 in der Bar Lissabon in Braunschweig zu sehen.

 

Dieser Beitrag ist ein leicht überarbeiteter Nachdruck; die Originalveröffentlichung findet sich in: Das Archiv. Zeitung für Wolfsburger Stadtgeschichte, Nr. 13, April 2019, S. 16, online unter https://www.wolfsburg.de/kultur/geschichte/izs-neu/izs-aktuelles/das-archiv. Wir danken Alexander Kraus für die Genehmigung.

 

 

Zitation


Alexander Kraus, Was ist deine Arbeit wert?, in: Visual History, 20.05.2019, https://www.visual-history.de/2019/05/20/was-ist-deine-arbeit-wert/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1354
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