Vom Grauen des Übersehens
Ein Foto aus einem Album aus Auschwitz
„Grauen“ kann – folgen wir dem „Grimmschen Wörterbuch“ – sowohl ein „sittliches Entsetzen“ als auch eine „scheue Erregung“ sein und hat oft eine physische Seite. Grauen ist ein Schauer, der uns lähmend überkommt oder den wir lustvoll zulassen.
Natürlich gibt es Bilder der Shoa, die voll des Grauens sind und auf den ersten Blick Einhalt gebieten. Die Gewalt, die in ihnen ist – die Gewalt, die die Bilder zeigen und/oder die das Machen der Bilder ausdrückt – springt sofort ins Auge. Der Fotograf oder (viel seltener) die Fotografin war Teil der Tat oder stand den Tätern nahe. Die Kamera war zur Waffe geworden, die die Betroffenen zusätzlich entwürdigte. Oft ist die abgebildete Gewalt solcherart, dass die Betroffenen sie nicht überlebt haben können. Sie können also ihre Zustimmung zum Zeigen der Fotos nicht mehr gegeben haben. Doch wurden auch jene, die überlebt haben, in der Regel nicht gefragt, was sie von einer Veröffentlichung der Fotos halten.
Ob wir diese Fotos zeigen und „Das Leiden anderer betrachten“ (so ein Titel von Susan Sontag[1]), darüber können wir streiten. Die Positionen hat Michaela Christ anlässlich einer Ausstellung über Massenerschießungen in der Topographie des Terrors 2016 klar zusammengefasst.[2] Überdies überdeckt die Diskussion, dass das Nicht-Zeigen und das Nicht-Beachten von Fotos bzw. ihr Gebrauch in einem illustrativen Sinn den Bildern (und den abgebildeten Menschen) ebenfalls Gewalt antun kann. Vernachlässigung muss ja auch als eine Form der Gewaltausübung betrachtet werden.
Viele Fotos, die von den Tätern der Shoa aufgenommen wurden, blenden die Gewalt ja bewusst aus. Die vom Bildungswerk Stanisław Hantz der Öffentlichkeit übergebenen Fotoalben des SS-Mannes und Massenmörders Johann Niemann zeichnen sich zuallererst durch die jegliche Vorstellung sprengende – bewusste – Auslassung von Gewalt aus.[3] Wir sehen Menschen mit Biergläsern. Wir sehen Männer an einem Biertisch im Hof eines Gebäudes. Nur durch sorgfältige Kontextualisierung wissen wir, dass es sich hier um Massenmörder im Vernichtungszentrum Sobibor handelt.
Ähnlich die Fotos aus dem sogenannten Höcker-Album, das vom Adjutanten des letzten Kommandanten vom Stammlager in Auschwitz angelegt und nach ihm benannt worden ist. Nur mit dem Wissen, wer dort wann auf der Wiese an einer kleinen Holzbrücke zusammensteht und feiert, bekommt das Foto von Bernhard Walter eine wesentliche Erkenntnis. Erst dann erweckt es – zumindest bei mir – ein Schaudern sowie Zorn auf die zur Schau gestellte oder tatsächliche Fröhlichkeit zur Feier eines abgeschlossenen Massenmords schrecklichsten Ausmaßes.[4]
Ein anderes Foto hat mich – und meine Freunde und Kollegen Tal Bruttmann und Stefan Hördler – tief bewegt und emotional verunsichert. Zu sehen sind Frauen und Kinder, die aus großer Nähe fotografiert werden. Die Menschen sind etwas ärmlich, aber beileibe nicht abgerissen gekleidet. Im Vordergrund ist beispielsweise ein Junge zu sehen, der das viel zu große Jackett eines Erwachsenen trägt und die Ärmel umgekrempelt hat. Dahinter sitzt eine größere Gruppe von Frauen und Kindern im Gras. In dieser Gruppe ist ein kleines Kind zu erkennen, das einem anderen Kind – möglicherweise seinem Bruder – einen Löwenzahn reicht. Die Pflanze lässt eine Datierung auf den Mai oder frühen Juni 1944 zu.
Daneben sitzt ein anderer Junge mit gefalteten Händen. Fast sieht es so aus, als ob er betet. Vielleicht reibt er sich aber auch nur die Hände. Hinter den Sitzenden ist viel Bewegung. Eine Frau in der Bildmitte bleibt stehen und schaut den Fotografen an, während sie ihre Hände in die Hüften stützt. Am rechten Bildrand schaut ein Junge in einer schwarzen Jacke, der sich gerade etwas in den Mund steckt, den Fotografen ebenfalls an. Der Fotograf sorgte offenbar für viel Aufmerksamkeit. Nur einige gelbe Sterne auf Jacken und einige eckige, weiße Pfähle im Hintergrund weisen darauf hin, dass das wir keine Idylle betrachten.
Grauen gewinnt das Foto durch den Kontext. Es ist Teil des Lili-Jacob Albums,[5] das der bereits erwähnte SS-Fotograf und Leiter des Erkennungsdienstes der Politischen Abteilung im KZ Auschwitz Bernhard Walter zusammen mit seinem Assistenten Ernst Hofmann im Auftrag des langjährigen Kommandanten Rudolf Höß anlegte, um den Erfolg der größten Massenmordaktion in der Geschichte von Auschwitz-Birkenau zu inszenieren. Das Foto ist im Album in dem Kapitel „Nicht mehr einsatzfähige Frauen“ platziert. Bei den Abgelichteten handelte es sich also ausnahmslos um Personen, die die SS als nicht mehr arbeitsfähig betrachtete. Das Bild zeigt Menschen, die sich ausruhen. Ohne es zu diesem Zeitpunkt zu wissen, werden sie bald darauf in die Gaskammern gebracht, um dort ermordet zu werden.
Die Rekonstruktion der Serie ermöglicht es, den Ort, an dem das Foto geschossen wurde, einzugrenzen: Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es eine kleine Fläche zwischen der Lagerstraße und der Umzäunung des Lagers B Ia, das seit 1942 als Frauenlager fungierte. Im Hintergrund eines anderen zu der Serie gehörigen Fotos (mit der Nummer144) ist sogar die Rampe zu erkennen.[6] Es ist unklar, warum die Menschen gerade an dieser Stelle warten mussten. Das Gras, auf dem sie saßen, war in einem weitgehend unberührten Zustand. Keinesfalls hatten hier zuvor schon Tausende andere Menschen gekauert. Waren vielleicht an diesem Tag so viele Transporte angekommen, dass die Kapazitäten der Krematorien und der Rückhalteflächen ausgeschöpft waren? Oder hatte es unerwartete Störungen im Ablauf des Mordens gegeben? Wenngleich keine Wachen erkennbar sind, ist doch davon auszugehen, dass die Gruppe nicht unbeaufsichtigt gewesen war.
Wir wissen nicht, wie viel Zeit den Jüdinnen und Juden noch blieb, wann die SS die Menschen aufscheuchte und in den Tod trieb. Der Fotograf jedoch nutzte den Aufenthalt, um das Warten hohnlachend als arg- und ahnungsloses Picknick zu inszenieren! Während die Nähe des Fotografen zu den Fotografierten eigentlich für Vertrautheit spricht, ist sie in diesem Fall Ausdruck der unbegrenzten Macht – und auch Gewalt – des Fotografen Bernhard Walter oder seines Assistenten Ernst Hofmann.
Natürlich ist es nicht Ziel der Auseinandersetzung mit historischen Fotografien (oder auch historischen Quellen), Grauen zu generieren – auch wenn dies dann sittliches Entsetzen bedeutet. Doch ist es nicht auch gut, den Lernenden – wer auch immer dies sei – beizubringen, dass ein unschuldig daherkommendes Foto immer auch grauenvoll sein kann? Und dass dies für Fotos in öffentlichen Archiven genauso zutrifft wie auf Fotoalben im Familienbesitz.
Literaturempfehlung: Die Historiker Tal Bruttmann, Stefan Hördler und Christoph Kreutzmüller legen in ihrem Buch „Die fotografische Inszenierung des Verbrechens. Ein Album aus Auschwitz“ eine detailgenaue Analyse des „Lili Jacob-Albums“ vor. Zum ersten Mal werden alle Bilder des Albums, das die SS im Sommer 1944 während des „Ungarn-Programms“ in Auschwitz erstellte, in ihrer ursprünglichen Abfolge präsentiert und analysiert. So erscheinen die teils vielfach reproduzierten und teilweise zu Ikonen gewordenen Bilder in neuem Licht.
[1] Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, München 2003.
[2] Michaela Christ, Gewaltbilder Über das Zeigen und Betrachten von Fotografien der Extreme, in: Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Stiftung Topographie des Terrors (Hg.), Massenerschießungen. Der Holocaust zwischen Ostsee und Schwarzem Meer 1941-1944 (Mass Shootings. The Holocaust from the Baltic to the Black Sea 1941-1944), Berlin 2016, S. 302-316.
[3] Bildungswerk Stanisław Hantz/Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart (Hg.), Fotos aus Sobibor. Die Niemann-Sammlung zu Holocaust und Nationalsozialismus, Berlin 2020.
[4] Christophe Busch/Stefan Hördler/ Robert Jan van Pelt (Hg.), Das Höcker-Album. Auschwitz durch die Linse der SS, Darmstadt 2016, S. 210.
[5] Das Fotoalbum wurde von der Überlebenden Lili Jacob gefunden und bewahrt. Es wird deshalb nach ihr benannt. Verkürzt wird es zuweilen auch als Auschwitz-Album bezeichnet – obgleich es mehrere Alben aus dem KZ Auschwitz gibt.
[6] Tal Bruttmann/Stefan Hördler/Christoph Kreutzmüller, Die fotografische Inszenierung des Verbrechens. Ein Album aus Auschwitz, Darmstadt 2019, S. 229-233.
Zitation
Christoph Kreutzmüller, Vom Grauen des Übersehens. Ein Foto aus einem Album aus Auschwitz, in: Visual History, 02.03.2020, https://www.visual-history.de/2020/03/02/vom-grauen-des-uebersehens-fotoalbum-auschwitz/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1735
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