Wir hatten ein normales Leben. Ukraine 2006-2022
Eine Ausstellung
Am 31. Mai 2022 wurde in Hamburg eine Open-Air-Ausstellung unter dem Titel „Wir hatten ein normales Leben. Ukraine 2006-2022“ eröffnet – zu sehen bis zum 3. Juli 2022. Es ist ein gemeinsames Projekt der Fotograf:innen-Agenturen Focus (Hamburg) und MAPS (Brüssel). Die Landeszentrale für politische Bildung Hamburg ermöglichte die Ausstellung durch ihre Förderung. Das Mahnmal St. Nikolai, Hamburgs zentraler Erinnerungsort für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, stellte den Raum zur Verfügung und unterstützte das Team bei der Ausstellung und beim Rahmenprogramm, das auch in Kooperation mit dem ZEIT-Verlag entstanden ist. Bei der Ausstellung wirkte ich als freier Co-Kurator mit.
Der erste Impuls kam vom „Focus“-Fotografen Sebastian Backhaus, der Mitte März 2022 aus der Ukraine zurückkehrte und seine Fotografien unbedingt einer breiteren Öffentlichkeit zeigen wollte. In einer gemeinsamen Kraftanstrengung und mit viel Unterstützung von allen Seiten ist es uns gelungen, innerhalb von nur zwei Monaten diese Ausstellung zu konzipieren, zu produzieren und zu eröffnen.
Aufgrund der Dynamik der Ausstellung und des noch laufenden Rahmenprogramms kann ich an dieser Stelle keinen ausführlichen Text schreiben, möchte aber einige Informationen und Details angeben, um die Leser:innen zu einem Besuch oder zur Einladung der Ausstellung in ihre Stadt zu bewegen.
Zum Aufbau
Bilder
Die Ausstellung beinhaltet ca. 100 Bilder von 21 internationalen Fotografinnen und Fotografen. Sie wurden auf sechsunddreißig 3,70 × 2 m großen LKW-Planen gedruckt und auf Bauzäunen aufgehängt, die zu zwölf Dreiecken zusammengestellt wurden. Diese Dreiecke bilden thematische Inseln, ohne dass sie explizit durch eine Überschrift o.Ä. benannt werden. Lediglich eine entsprechende Jahreszahl auf jeder Plane weist auf den Zeitpunkt der Entstehung der Bilder hin.
Es gibt eine grundsätzliche Aufteilung der zusammengestellten Bilder vor und nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022. Ausschlaggebend für die Auswahl der Archiv-Bilder war einerseits das zur Verfügung stehende Material und andererseits unsere Absicht, die Vielfalt des Lebens vor dem Krieg, die Heterogenität der ukrainischen Bevölkerung sowie die wichtigsten Ereignisse in der neuesten Geschichte der Ukraine in einer möglichst großen Breite zu zeigen.
Wir wollen dokumentieren, was durch den Krieg verloren gegangen ist. So sind in der Ausstellung Fotografien aus Reportagen und Projekten über das Alltagsleben zu sehen, über die Arbeit, die Freizeit, den boomenden Tourismus, den Umweltschutz, aber auch Dokumentationen über die Euromaidan-Proteste und die russische Annexion der Krim sowie die damit verbundenen Fluchtbewegungen und Zerstörungen. Auf der anderen Seite sollen die aktuellen Bilder das Ausmaß des Krieges, der Zerstörung, der Flucht sowie der Solidarität westlich der ukrainischen Grenze zeigen.
Texte
Die Ausstellung zeichnet sich bei dem textlichen Teil durch Zurückhaltung aus. Es gibt keinen theoretischen Überbau, keine historische Einordnung oder medienkritische Auseinandersetzungen. Ein Text des belgischen Journalisten Louis van Ginneken, Mitglied der Fotoagentur MAPS, führt lediglich in die Ausstellung ein.
Da der Krieg noch nicht beendet ist, haben wir uns entschieden, die Fotograf:innen sprechen zu lassen. Wir stellten ihnen zwei Fragen: „Was hat dich bei diesem Fotoeinsatz in der Ukraine am meisten berührt?“ „Welches der ausgestellten Bilder ist dir am wichtigsten und warum?“ Die Fragen sind sehr persönlich und die Antworten – wie auch viele der Bilder in der Ausstellung – emotional.
Nicht alle Fotograf:innen bezogen sich in ihren Antworten auf die Fragen; manche schrieben das, was ihnen auf dem Herzen lag, andere erklärten im Detail die Aufnahmesituation, einige konnten in der Kürze der Zeit keine Antwort geben, weil sie derzeit irgendwo in der Welt im Einsatz sind.
Darüber hinaus gibt es kurze Bildunterschriften zum Aufnahmeort, zur Zeit sowie zum Namen der Fotograf:innen und ihrer Agentur. Die Namen der abgebildeten Personen haben wir zu ihrer Sicherheit abgekürzt (Vorname + erster Buchstabe des Nachnamens). Nur an wenigen Stellen hielten wir es für erforderlich, mehr Informationen den Bildunterschriften hinzuzufügen, um den Kontext der Aufnahmen zu erläutern (beispielsweise beim Eingangsfoto zu den Bildern vom Euromaidan).
Obwohl es eine unserer obersten Prioritäten war, die Ausstellung möglichst schnell zu zeigen, nahmen wir uns die Zeit, um in diesem Zusammenhang gewohnte sprachliche Formulierungen zu hinterfragen und ggf. zu aktualisieren. Dies betraf insbesondere die Schreibweise (Transliteration) von ukrainischen Begriffen wie Vor-, Eigen- und Ortsnamen. Konkret ging es dabei um die Frage, ob wir die ukrainischen Namen nach russischer oder ukrainischer Schreibweise übertragen: Ein redaktionelles Detail wurde durch den Ausbruch des Krieges zu einem politischen Statement. Nach Rücksprache mit unseren Übersetzer:innen – die Ausstellung ist in deutscher, englischer und ukrainischer Sprache – und den beteiligten Lektor:innen haben wir uns entschieden, konsequent die Transkription aus der ukrainischen Sprache zu verwenden. Ein Zeichen dafür, wie wichtig die Kontextualisierung von Fotos ist, und dass sie nie für sich alleine stehen (können).
Insides
Krieg bleibt Krieg. Bilder vom Krieg bleiben Bilder vom Krieg
Trotz eines langjährigen Umgangs mit Kriegsfotografien war meine Auseinandersetzung mit den Kriegsbildern aus der Ukraine im Jahr 2022 plötzlich ganz anders und neu. Bilder eines Krieges zu kuratieren, der gerade stattfindet – in einer bisher für mich nicht bekannten Nähe –, war etwas anderes, als Ereignisse, die Jahrzehnte zurückliegen, in einer neuen Narration vorzustellen. Es war nicht mehr möglich, eine analytische Perspektive einzunehmen, und im Kurator:innen-Team wollte das auch keiner.
Unsere Treffen wurden von zahlreichen Gesprächen begleitet. Es gab viel Erfahrungsaustausch, und es gab auch viel Reibung. Insbesondere dort, wo sich Kunst, Dokumentation, Journalismus und Propaganda berühren.
Der Krieg und die Auseinandersetzung mit ihm zwang uns aber auch, sich mit seinen Bildern genau zu beschäftigen. Aus meiner soziologischen und historischen Perspektive heraus bin ich der Meinung, dass Bilder nicht das Grauen des Krieges wiedergeben und auch keine Kriege verhindern können – ganz gleich, wie schrecklich die abgebildete Situation auch sein mag, wie gewaltsam die Aussage eines Fotos ist, wie unerträglich sein Anblick. Irgendwann sind die Möglichkeiten eines Fotos erschöpft. Und diese Grenze kann auch nicht durch ein gesteigertes Ausmaß an abgebildeter Brutalität überwunden werden.
Fotos können aber durchaus etwas bewegen: Empathie wecken, Solidarität und Unterstützung stärken und auch politische Entscheidungen beschleunigen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Foto von Nick Út aus dem Vietnam-Krieg, an dessen Entstehung vor 50 Jahren vor Kurzem erinnert wurde. Um diese Kraft zu entfalten, brauchen die Bilder jedoch einen Nährboden, einen ideologischen Rahmen, im besten Fall ein politisches Bewusstsein. Bis sie als Ikonen tituliert werden können, muss allerdings viel Zeit vergehen. Ich bin mir sicher, dass es auch Ikonen aus dem gegenwärtigen Krieg in der Ukraine geben wird – je nach Ausgang und Seite unterschiedliche.
Die Frage nach dem Zeigen von drastischen oder gewaltsamen Bildern wurde ganz unterschiedlich beantwortet. Ich vertrete den Standpunkt, dass es wichtig ist, über den Umgang mit Bildern von Toten zu diskutieren und in der Vielzahl der Möglichkeiten einen eher zurückhaltenden Weg zu gehen. Es gibt in der Ausstellung also durchaus Bilder von Beerdigungen, wo die Toten würdig abgebildet sind, wo die Trauer der Hinterbliebenen im Fokus steht, aber nicht der Akt des Tötens oder auf der Straße liegende Körper. Wir waren uns auch einig, dass eine „Trigger-Warnung“ für einige Aufnahmen unabdingbar sei. Diese war bei der gewählten Präsentationsform aber nicht ohne Weiteres umsetzbar.
Flüchtende, Fotografinnen und Fotografen, die Kurator:innen – jed:er von uns hat bestimmte und unterschiedliche Bilder im Kopf: vom Leben, der Familie, von Leid und Krieg. Die Bilder aus Butscha ergaben bei mir eine Verbindung zu den Fotos von den Todesmärschen aus den NS-Konzentrationslagern 1945. Es war in etwa die gleiche Jahreszeit. Diese Fotografien aus Butscha dienen als wichtige Beweise für die begangenen Verbrechen. Aber sie eignen sich nicht für eine Ausstellung im öffentlichen, ungeschützten Raum.
Die unterschiedlichen Positionen zeigten sich am stärksten bei der Selektion einzelner Bilder. Vor allem Fotograf:innen, die sich als Dokumentar:innen und Zeug:innen begreifen und ihre Aufgabe in der Dokumentation (des Leides) sehen, waren der Ansicht, dass auch drastische Bilder gezeigt werden müssten, weil der Krieg eben auch das sei.
Ich musste nach diesen Diskussionen an Gespräche über Ausstellungen mit anderen Augenzeug:innen denken: an ehemalige polnische KZ-Häftlinge, die ich in den 2000er-Jahren zu Befreiungsfeierlichkeiten in das ehemalige KZ Mauthausen-Gusen begleitet habe. Dort hing damals noch die alte Dauerausstellung mit drastischen, überdimensionierten Schwarzweißaufnahmen. Selbst diese Bilder waren den ehemaligen Häftlingen nicht genug, um das Grauen des Konzentrationslagers zu zeigen. Es brauche mehr und grausamere Bilder, sagten sie. Ich war da anderer Meinung, vermutlich, weil ich kein Zeuge und auch kein Betroffener war. Und weil es in meinen Augen ein Trugschluss ist, dass Fotografie dies leisten kann.
Diese Ausstellung ist aus dem Gefühl heraus geboren, etwas tun zu wollen – ein Spagat zwischen Solidarität und einer ersten, sicherlich von Emotionen geleiteten Auseinandersetzung mit diesem Krieg und seinen Bildern. Eine Ausstellung im öffentlichen Raum erschien uns als der richtige Weg, möglichst viele Menschen zu erreichen. In ihrer wortkargen, aber bildreichen Aussage nimmt die Ausstellung eine klare Stellung ein: Wir alle im Team stellen uns politisch und menschlich auf die ukrainische Seite. Auch wenn es im Leben und der Fotografie nicht nur Schwarz und Weiß gibt – der Krieg erfordert diese Positionierung. Was eine Auseinandersetzung mit diesem Krieg als mediales Ereignis angeht, so wird sicherlich auch dafür die Zeit kommen. Aber das wird dann eine ganz andere Ausstellung sein. Während ich das schreibe, schaue ich mir den Instagram-Account von Wolodymyr Selenskyj an. Es wird so viel Bildmaterial geben, wie zu keinem anderen Krieg bisher.
NachtragAus den Gesprächen mit Besucher:innen der Ausstellung: Es gibt Menschen aus der Ukraine, die sagen, dass sie sich die aktuellen Bilder nicht anschauen können. Sie finden es aber wichtig, dass sie gezeigt werden. Und sie sind dankbar, dass auch die Bilder aus der Zeit vor dem Krieg gezeigt werden.
Ich habe in diesem Kommentar die Alltagsbilder außen vor gelassen. Aber sie machen fast die Hälfte der gezeigten Bilder aus, und sie spielen eine wichtige Rolle – nicht nur bei den Ukrainer:innen. Die Kriegsbilder drängen sich vor, aber es gibt immer einen Alltag, auch im Krieg. Wir alle kennen ihn.
Im Moment habe ich das Gefühl, dass diese Alltagsbilder mehr Betroffenheit bei den Besucher:innen auslösen als die aktuellen Bilder vom Krieg. Ist es die Aura des Verlorengegangenen? Oder die Macht dieses brachialen Einbruchs des Krieges? Die Fragilität des Lebens, mit dem sich die Betrachter:innen identifizieren können, wird dadurch sichtbar. Vielleicht fällt es uns, den nicht vom Krieg Heimgesuchten, leichter, sich nicht mit dem Leid des Krieges, sondern mit dem Alltag zu identifizieren.
Steckbrief der Wanderausstellung
Fotograf:innen: Sebastian Backhaus, Daniel Berehulak, Massimo Berruti, Roman Bezjak, Kitra Cahana, Emre Caylak, Roland Geisheimer, Kirill Golovchenko, Andrej Krementschouk, Sergey Maximishin, Justyna Mielnikiewicz, Mark Mühlhaus, Daniel Müller, Dominic Nahr, Alessandro Penso, Julius Schrank, Maxim Sergienko, Eric Vazzola, Thomas Victor, John Vink, Marlena Waldthausen
Kurator:innen: Sebastian Backhaus, Laetitia Ganaye, Marleen Hahn, Anna Mensing, David Rojkowski, Armin Smailovic
Übersetzer:innen: Anna Strashnenko, Wayne Yung
Grafische Gestaltung: Alessandro Argentato
Wissenschaftliche Konsultation: Dr. Sabine Bamberger-Stemmann
Ausleihe und Kontakt: focus@focus-agentur.de
Das Rahmenprogramm zur Ausstellung: https://www.mahnmal-st-nikolai.de/?page_id=18
Donnerstag, 30. Juni, 19 Uhr: Ein anderer Alltag – wie Bilder im Krieg entstehen
Podiumsgespräch: Miriam Zlobinski, Kuratorin aus Berlin, spricht mit Amélie Schneider (Bildchefin der „ZEIT“), Sebastian Backhaus (Fotograf/Focus), Dominic Nahr (Fotograf/MAPS) und Kirill Golovchenko (Fotograf/Focus) über das Fotografieren in Kriegsgebieten, über die Menschen und ihren Alltag in Konflikten, als auch über die Rezeption bzw. Produktion von Nachrichten in der Öffentlichkeit und den Medien.
Nachtrag AKTUELL:
Die Ausstellung wird vom 6. Oktober bis zum 16. November 2022 am Herfurthplatz in Berlin gezeigt.
Die Ausstellung wird vom
Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: Bilder des Krieges in der Ukraine,
hg. v. d. Visual History-Redaktion
Zitation
David Rojkowski, Wir hatten ein normales Leben. Ukraine 2006-2022. Eine Ausstellung, in: Visual History, 21.06.2022, https://visual-history.de/2022/06/21/rojkowski-wir-hatten-ein-normales-leben-ukraine-2006-2022/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2401
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