Rezension: Marion Krammer, Rasender Stillstand oder Stunde Null?

Österreichische PressefotografInnen 1945-1955

Buchcover, auf dem eine Gruppe von Fotografen und Journalisten zu sehen ist.

Cover: Marion Krammer, Rasender Stillstand oder Stunde Null? V&R unipress ©

Von 2014 bis 2018 arbeitete Marion Krammer im Forschungsprojekt des Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung (FWF) War of Pictures. Press Photography in Austria 1945-1955, in dem u.a. 2016 eine gleichnamige Online-Ausstellung erarbeitet worden ist.[1] Krammer befasste sich am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaften der Universität Wien mit dem Personal der Bildberichterstattung in Zeitungen und Illustrierten während der Besatzungszeit in Österreich. Unterstützt wurde sie durch empirische Zuarbeiten in Lehrveranstaltungen und durch Bachelor-Arbeiten zu Einzelthemen, deren Ergebnisse in eine Datenbank eingearbeitet worden sind.[2] Aufbauend auf den Daten der Bildveröffentlichungen und darauf aufsetzenden Archivstudien zu den Akteuren, Personen wie Agenturen, und zu ihren Berufsverbänden legt Krammer eine empirisch fundierte Bestandsaufnahme des Berufsfeldes in der Besatzungszeit Österreichs vor.

Wie weit personelle Kontinuitäten und Neuanfänge das Berufsfeld prägten, ist ihr zielsetzendes Forschungsinteresse. Mit ihrer 2017 verteidigten Dissertation stellt sie sich in die Kontinuität der Forschungen zur Berufsgeschichte der Pressefotografen, wie sie Anton Holzer und Annette Vowinckel vorgelegt haben,[3] sowie der zur Berufsgeschichte der Journalisten in Österreich, wie sie Fritz Hausjell erforscht hat.[4] Krammers einzel- und kollektiv-biografische Untersuchungen münden in Kurzbiografien österreichischer Pressefotograf:innen für die 195 damals beteiligten Fotojournalist:innen, in drei kollektivbiografische Fallstudien zu typischen Vertretern und in ein (im Titel bereits angedeutetes) Resümee zu Mythos, Inszenierung und Wirklichkeit des Berufsstandes in den ersten zehn Nachkriegsjahren.[5]

Die einleitenden Kapitel und Abschnitte zu Forschungsstand, Forschungsfragen, Aufbau der Arbeit, Analyseebenen und Forschungsdesign sprechen die prosopografische und kollektivbiografische Zielsetzung der Arbeit an. Es folgen eine Einführung in die politisch-historische und pressehistorische Situation der Besatzungszeit, danach die Vorstellung der nur wenigen illustrierten Zeitschriften und Beilagen zur Tagespresse, die die empirische Grundlage für die weiteren Forschungen bilden: vor allem die vier wöchentlichen Illustrierten, die „Wiener Bilderwoche“ im Verlag der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, die „Welt-Illustrierte“ der sowjetischen Besatzungsmacht, die privatwirtschaftlich orientierte „Wiener Illustrierte“ und die „Große Österreich Illustrierte“, die der ÖVP nahestand, dazu die Bilderbeilage des „Wiener Kurier“, der täglich erscheinenden Zeitung der amerikanischen Streitkräfte für die Wiener Bevölkerung. Für 48, 45, 39, 34 und 78 z.T. differierende Monate wurden alle Bilder in Hinblick auf Angaben zu ihren Fotograf:innen und Agenturen ausgewertet, die allerdings – wie in der Branche üblich – keineswegs immer vorhanden waren, aber doch zu quantitativ analysierbaren Ergebnissen führten.

Der großen Besonderheit des Bildermarktes der Besatzungszeit widmet Krammer ein eigenes Kapitel, den ästhetisch modernen und – wie in den USA – gratis angebotenen und folglich am weitesten verbreiteten Bildern der Pictorial Section des United States Information Service (USIS), primär hergestellt für die Bilderbeilage des „Wiener Kurier“. Die Pictorial Section beschäftigte in Österreich insgesamt 19, nur für sie tätige, männliche Berufsanfänger als Angestellte und bildete sie auch aus, während alle anderen Bild-Agenturen und Presseorgane vor allem die ästhetisch eher konventionellen Angebote von Agenturen und freiberuflich tätigen männlichen und – nur wenigen – weiblichen Fotografen nutzten, die bereits berufserfahren oder neu im Geschäft waren.

Materialnot und ein im Vergleich zur Vorkriegszeit erheblich geschrumpfter Absatzmarkt prägten die Arbeitsbedingungen, die bald zur Bildung eines Berufsvereins, zur Abgrenzung gegenüber anderen fotografischen Branchen, zum Streben nach einem gebundenen, d.h. durch Gewerbeschein akkreditierten, statt eines freien Gewerbes, zur Abgrenzung gegenüber sog. Pfuschern,[6] d.h. Schwarzarbeitern, und zu kollektiven Honorarforderungen führten: 1947 dann zur Gründung des Vereins Syndikat der Österreichischen Pressephotographen und Bildagenturen mit zuerst 13, 1955 schließlich 62 fast ausschließlich männlichen, überwiegend freiberuflichen Mitgliedern, die sich als Berufselite verstanden. Die Akten des Syndikats und einzelner Mitglieder erlauben auch Blicke auf Einkommen, Beschäftigungsverhältnisse, Tätigkeitsfelder und Arbeitsorte. Dass sich nach der Erlangung der vollen Souveränität mit dem Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 in Österreich die Verhältnisse wieder grundlegend änderten, liegt zwar außerhalb der engeren Forschungsfrage, wird hier aber von Krammer durchaus thematisiert.

Den insgesamt 195 nachgewiesenen Fotografen ist Krammer, unterstützt durch studentische Seminar- und Bachelor-Arbeiten, in allen nur denkbaren historischen und politischen Archiven und Institutionen, Datenbanken, älteren Nachschlagewerken, Fachliteratur und Berufszeitschriften, auch in einigen Interviews mit Fotografen und Experten nachgegangen.[7] Sie hat die Ergebnisse gegengeprüft und in ihrem Informationsgehalt auch gewichtet, um Beschönigungen und Auslassungen nach Möglichkeit zu relativieren. Von Interesse waren neben den basalen biografischen Daten vor allem Angaben zu Ausbildungs- und Praxisjahren in Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg, in der Ersten Republik, im Ständestaat, nach dem Anschluss an das Deutsche Reich und in der Besatzungszeit, dazu Parteimitgliedschaften, Widerstand, Flucht, Exil und Remigration,[8] die zu einer umfangreichen Kategorisierung in 17 und 7 Hauptgruppen geführt haben.

Die Ergebnisse werden im Einzelnen und summarisch, auch tabellarisch und in Grafiken, vorgestellt.[9] Von Interesse sind vor allem personelle Kontinuitäten resp. Diskontinuitäten zum Nationalsozialismus, wobei Krammer der österreichischen, wechselnden Praxis der sog. Entnazifizierungsverfahren von 1945 bis 1948, auch im Zusammenhang mit der Berufsordnung als freier oder gebundener Beruf und der entsprechenden Praxis von Gewerkschaften und Berufsvereinen besonderen Raum widmet, nicht zuletzt in Hinblick auf die konträren Lebensläufe der Gründungsmitglieder des Syndikats.

In den folgenden drei kollektivbiografischen Fallstudien wirft Krammer individuellere, das persönliche Moment, Karrieremuster und persönliches Verhalten stärker berücksichtigende Blicke auf besonders gut vernetzte und typische, dazu durch externe Informationen gut belegte Personengruppen: die Gruppe der schon lange Zeit und kontinuierlich tätigen, auch politisch exponierten Fotografen, die Gruppe der emigrierten, zurückgekehrten und nun dank ihrer internationalen Beziehungen erfolgreichen Fotografen und die Gruppe der in der Nachkriegszeit erstmals tätigen Fotografen.

Zur ersten Gruppe zählt Krammer drei konservative, parteipolitisch belastete resp. politisch wendige Fotografen (namentlich Albert Hilscher, Walter Henisch, Fritz Zvacek), zur zweiten ebenfalls drei Fotografen, die nach rassistischer Verfolgung und Flucht als Remigranten den Berufsstand wieder aufbauten (Leo Ernst, Fritz Brasch und Johann Brasch), zur dritten zwei junge, in der Pictorial Section des USIS ausgebildete, karrierebewusste und bald international erfolgreiche Fotografen sowie ein autodidaktisch ausgebildeter, schon älterer Quereinsteiger, der sich trotz seiner NS-Vergangenheit zu etablieren wusste (Robert Halmi, Karl Franz Schuster, Franz Fink). Die Fallstudien heben einige Personen heraus, ohne weitere Konstellationen und Personen im Sinne eines kollektivbiografischen Interesses auszuschließen; Krammer konzipiert sie als Einzelbiografien im Umfang von sechs bis sieben Seiten, der kollektivbiografische Bezug ergibt sich im Wesentlichen aus ihrer Zuordnung.

In ihrem Resümee zu Mythos, Inszenierung und Wirklichkeit österreichischer Pressefotografen greift Krammer noch einmal die den Berufsstand prägenden Außenbedingungen und internen Besonderheiten auf. Sie betont die personellen Kontinuitäten zum Ständestaat und Nationalsozialismus, charakterisiert die Berufsgruppe als ausgesprochen männlich, nicht selten autodidaktisch ausgebildet und beruflich durchaus erfahren, als politisch flexibel und aufgrund der Besatzungszonen lokal eng begrenzt tätig. Krammer hebt noch einmal die besondere Rolle der Pictorial Section des USIS und ihres Leiters Yoichi Okamoto hervor. Die schon in der Stände- und NS-Zeit erfolgreichen Pressefotografen konnten ihre Karriere ohne große Unterbrechung fortsetzen, doch setzten die wenigen Remigranten und die jungen, USIS-ausgebildeten Fotografen Innovationen in wirtschaftlicher, organisatorischer und ästhetischer Hinsicht durch. Mehrheitlich prägend waren zweifellos die schon im Nationalsozialismus Tätigen.

Den Textteil abschließend, folgen die 195 Kurzbiografien im Umfang von meist vier bis acht Zeilen, nicht selten auch nur ein bis zwei Zeilen, doch in ca. 20 Fällen auch bis zu einer halben Seite und mehr. Hier finden sich auch berühmtere Namen wie die international arbeitenden, aus Österreich stammenden Fotografen, die damals nur wenig für österreichische Zeitschriften gearbeitet haben, wie Ernst Haas,[10] Franz Hubmann[11] und Erich Lessing,[12] während Inge Morath in der Besatzungszeit offensichtlich in Österreich nicht publiziert hat. Abgleichungen mit im Internet zugänglichen Namenslisten österreichischer Fotografen und Ähnlichen führen aber nicht weiter, da Krammers Liste empirie-basiert erstellt worden ist; nur wenige Fotografen dürften in absoluter Anonymität verblieben sein.

Wie für alle regional auf Österreich zentrierten Untersuchungen virulent, fällt auch hier auf, dass (wie nicht anders zu erwarten) ein Teil der Betroffenen außerhalb (Deutsch-)Österreichs geboren, aufgewachsen oder ausgebildet worden ist oder auch längere Zeit gearbeitet hat, hier aber als im Österreich der Besatzungszeit tätige Person – legitimerweise – aufgeführt wird. Unter dem Forschungsinteresse, Kontinuitäten und Neubeginn im Fotojournalismus nach 1945 zu erforschen, ist solche Praxis nichts weiter als notwendig.

Wenn man abschließend die Frage stellt, in welchem Umfang und mit welchem Aufwand Krammer ihre Forschungsfrage so erschöpfend beantwortet hat, so steht man schnell vor dem grundsätzlichen Dilemma solcher umfangreichen empirischen Untersuchungen, dass der notwendige Aufwand in einem vielleicht unangemessen erscheinenden Verhältnis zum Ergebnis steht, das vielleicht durch weniger aufwändige Studien auch zu erreichen gewesen wäre. Die Suche nach einer validen Liste der damals tätigen Pressefotografen wäre kaum auf andere Weise zu beantworten gewesen, eher vielleicht die Frage, wie und warum die den Berufsstand prägenden Personen so gegenläufige Biografien und Motive für ihre Handlungen besaßen, aber wer nun diese Personen gewesen sind und welche Einflüsse sie ausübten, ist wohl nur durch solch aufwändige Forschung zu erfahren. Bleibt die Frage, inwieweit sich Instrumentarium und Methodik auf andere Zeitabschnitte oder nicht-österreichische Regionen anpassen lassen, um zu neuen, ähnlich abgesicherten Erkenntnissen zur Pressefotografie andernorts zu gelangen. Jetzt und an dieser Stelle aber haben wir Marion Krammer für ihre Grundlagenforschung und deren Interpretation zu danken

 

 

Marion Krammer, Rasender Stillstand oder Stunde Null? Österreichische PressefotografInnen 1945-1955. Mit einem Vorw. von Oliver Rathkolb, Göttingen: V & R Unipress, Vienna University Press, 2022, 380 S. (Zeitgeschichte im Kontext ; 16). – Zugl.: Wien, Univ., Diss., 2017. EUR 55,-

 

 

Diese Rezension ist eine Zweitveröffentlichung und zuerst auf dem Portal Informationsmittel (IFB): Digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft erschienen. Wir danken Wilbert Ubbens und Dr. Klaus Schreiber für die freundliche Genehmigung, den Text auf Visual History zu veröffentlichen.

http://www.informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/

http://www.informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/showfile.php?id=11862

 

 

[1] Vgl. die Ausstellungspräsentation War of Pictures: Bildkultur in Österreich 1945-1955: https://warofpictures.univie.ac.at/ [27.02.2023]. Dort vor allem Abschnitt 10.

[2] Die Datenbank http://datenbankpressefotografie.univie.ac.at ist derzeit [27.02.2023] leider nicht zugänglich (S. 323).

[3] Vor allem Anton Holzer, Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890-1945, Darmstadt 2014. Rez.: IFB 15-1 http://ifb.bsz-bw.de/bsz415278732rez-1.pdf [27.02.2023]; Annette Vowinckel, Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016; Rez.: IFB 18-1 http://informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/showfile.php?id=8808 [27.02.2023].

[4] Fritz Hausjell, Journalisten gegen Demokratie oder Faschismus. Eine kollektiv-biographische Analyse der beruflichen und politischen Herkunft der österreichischen Tageszeitungsjournalisten am Beginn der Zweiten Republik (1945-1947), Frankfurt a.M. 1989.

[5] Inhaltsverzeichnis: https://d-nb.info/1235769569/04 [27.02.2023].

[6] Österreichisch umgangssprachlich für Schwarzarbeiter. Krammer verwendet nur
wenige Austriaca, vom allgegenwärtigen „weiters“ abgesehen, z.B. lukriert (S. 115) resp. lukrieren (S. 147).

[7] Die allein für die Erstellung der Biografien benutzte Literatur wird im Quellen- und Literaturverzeichnis aus Platzgründen nicht aufgeführt, die weitere Forschungsliteratur umfasst dort deutlich über 200 Einträge.

[8] Die Datenbank weist Kategorien zu Stammdaten (Name, Vorname, Geburtsdatum und -ort, Sterbedatum und -ort, Staatsbürgerschaft und Tätigkeitsort), zu Portraitfoto, Wohnadressen und -zeiten, Ausbildung, Berufstätigkeiten, Mitgliedschaften, Spezialgebiete, berufliche/politische Tätigkeit vor 1945, Flucht und Exil, zu Bestand, Nachlass und Quellen, Literatur und Dokumente etc. auf, alle mit detaillierten Möglichkeiten zur Dateneingabe und Kommentierung. Die Kategorien sind einzeln und in Kombination abfragbar. (Diese Angaben beruhen auf den beispielhaften Auszügen aus der Datenbank im PDF-Format und ohne Recherchezugriff, die Marion Krammer dem Rezensenten freundlicherweise zugänglich gemacht hat.)

[9] Die 30 Eintragungen im Abbildungsverzeichnis betreffen 13 Fotografien und 17 grafische Darstellungen.

[10] Als Beispiel für seine österreichischen Arbeiten: Ernst Haas, Eine Welt in Trümmern. Wien 1945-1948. Ein Fotoessay, Weitra 2005.

[11] Als Beispiel für seine österreichischen Arbeiten und mit Bildern zum Musikleben in Wien 1954 und danach: Franz Hubmann, Sounds of Vienna. Mit einem Vorw. von Karlheinz Roschitz und Texten von Christian Brandstätter, Wien 2014.

[12] Ebenfalls nur beispielhaft sei auf einen umfassenderen Bildband von Erich Lessing hingewiesen: Erich Lessing, Anderswo. Schwarzweissphotographien, hg. von Thomas Reche, Wädenswil 2014; Rez.: IFB 14-4
http://ifb.bsz-bw.de/bsz41515359Xrez-1.pdf [27.02.2023].

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