Sozialistischer Bildertausch: Analoge und digitale Quellenarbeit
Ein Interview mit Annette Vowinckel
Annette Vowinckel ist Leiterin der Abteilung Zeitgeschichte der Medien- und Informationsgesellschaft am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und außerplanmäßige Professorin im Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im von Janaina Ferreira dos Santos und Iulia Sucutardean geführten multimedialen Interview für das Online-Portal „Visual History“ (visual-history.de) stellt die Historikerin ihr neues Buchprojekt Zentralbild, Photo International and the Visual Politics of Late State Socialism vor, geht auf die Methoden ihrer Quellenarbeit ein und betont, wie digitale Tools die Arbeit von Historiker:innen in vielerlei Hinsicht vereinfachen können.
Berlin-Schöneberg, am 27. Juni 2022: Die Wetter-App zeigt 37 Grad an. Am Viktoria-Luise-Platz erfrischen sich Kinder im Springbrunnen, und in den nahegelegenen Eisdielen ist es brechend voll. Unweit von dort empfängt uns Annette Vowinckel in ihrer Wohnung. Zur Verstärkung gibt es Kuchen, und für die Erfrischung sorgen sowohl Iulias hausgemachte Limonade als auch der Ventilator, der ununterbrochen läuft – das Brummen des Geräts ist aus diesem Grund in allen Aufnahmen in diesem Interview zu hören. Trotz der erdrückenden Hitze legen wir los. Unser Gespräch ist im Folgenden in multimedialer Form zu hören, zu lesen und zu sehen.
I. Projekt
Dein aktuelles Buchprojekt trägt den Titel Zentralbild, Photo International and the Visual Politics of Late State Socialism. Wie bist du auf dieses Thema gekommen und womit beschäftigst du dich genau?
|| Photo International war ein Austauschring, den die Bildagenturen der sozialistischen Staaten Mitte der 1960er Jahre gegründet haben, um Abläufe zu verkürzen, um Bilder auszutauschen und – wie ich dann herausgefunden habe – auch um ihre Bilder besser gemeinsam in den Westen verkaufen zu können. ||
Warum haben sich die Gründungsmitglieder für Prag als Sitz der Zentrale von Photo International entschieden?
Ursprünglich hatten sie gedacht, sie machen das zentrale Büro von Photo International als Austauschring in London auf und verkaufen von da aus die Fotos an die westliche Presse. Denn über diese Bilder sollten politische Prozesse gesteuert, aber auch Devisen generiert werden. Es ging also immer auch darum, Bilder zu verkaufen, um Dollar oder D-Mark ins Land zu holen. Das hat allerdings aus verschiedenen Gründen nicht funktioniert. Daher wurde die Zentrale in Prag aufgemacht: Hier sind die Bilder von den Agenturen zusammengelaufen.
Was ist der spannendste Teil deines Vorhabens?
Besonders spannend finde ich an meinem Vorhaben, dass ich nicht nur den DDR-Teil der sozialistischen Bildwirtschaft untersuchen kann, sondern auch den Austausch und die Kommunikation mit allen anderen Ländern – mit Vietnam und Kuba, aber auch mit den osteuropäischen und asiatischen Staaten, die dabei waren. Das ist der Punkt, an dem ich auch weitere Quellen miteinbeziehe, wie zum Beispiel die Kontakte mit Kuba: Wer hat in der Zeit dort fotografiert? Wer ist wann wo zu Besuch gewesen? Hat es Austausch gegeben, auch personellen Austausch zwischen den Agenturen? Stichprobenartig entstehen daher auch vertiefende Studien darüber, wie konkret zusammengearbeitet wurde.
Arbeitssprachen
|| Sie haben sich für Englisch entschieden, und zwar aus genau dem Grund, weil sie im Westen konkurrenzfähig sein wollten. ||
In welchen Sprachen sind die von dir gesichteten Dokumente verfasst worden?
In dem Zentralbild-Bestand im Bundesarchiv sind die meisten Dokumente auf Deutsch. Wenn die einzelnen Bildagenturen miteinander kommunizierten, geschah dies meistens auf Englisch und manchmal auf Russisch. Ich habe auch eine ganze Reihe von Dokumenten gefunden, denen Übersetzungen beiliegen, was für mich sehr hilfreich ist, da ich kein Russisch kann. Dann gibt es zumindest die englische Übersetzung russischer Dokumente immer gleich mit in der Akte. Natürlich könnte ich die russischen Texte noch einmal von DeepL oder Google übersetzen lassen, um zu schauen, ob das passt. Ich habe einige Stichproben gemacht, und die Übersetzungen waren in Ordnung. Das gilt vor allem für offizielle Dokumente, die von professionellen Übersetzer:innen verfasst worden sind, wie Statute o.Ä., die in drei Sprachen vorliegen und bei denen die deutsche und die englische Version deckungsgleich sind. Andere Sprachen als diese drei sind mir in den Akten kaum untergekommen, und wenn doch einmal ein Dokument zum Beispiel in Ungarisch vorliegt, dann ist die Übersetzung immer dabei, weil die meisten Leute bei Zentralbild und Photo International auch kein Ungarisch sprachen. Man musste auf andere Sprachen ausweichen.
|| Dass diese Ausweichsprache häufiger Englisch als Russisch war, war für mich eine der großen Überraschungen. ||
Kooperation mit den Ländern des Globalen Südens
An dem Zusammenschluss waren osteuropäische Länder beteiligt, aber auch Länder aus dem Globalen Süden, zum Beispiel Vietnam und Kuba. Inwiefern kann man im Fall von Photo International über eine Kooperation auf Augenhöhe sprechen?
|| Ich würde sagen, es gibt eine Art Duktus der Überlegenheit, dass man dem Rest der Welt mal beibringt, wie es geht – das zieht sich schon durch. ||
Das sind so Momente, da sitzt du im Archiv und dir fällt wirklich alles aus dem Gesicht. Du denkst: „Leute, das kann jetzt nicht euer Ernst sein.“ Eine Hose und ein Essbesteck als Abschiedsgeschenk für einen professionellen Fotografen aus Mosambik … Das hätte man sich schlimmer wirklich nicht ausdenken können. Die eigentlich vorgesehene Praktika-Kamera hat er nicht bekommen, sie wurde für zu teuer befunden. Ich habe zu dieser Verabschiedung nur vereinzelt Quellen gefunden und kann deshalb nicht die ganze Geschichte rekonstruieren. Aber ich würde sagen, es gibt eine Art Duktus der Überlegenheit, dass man dem Rest der Welt mal beibringt, wie es geht – das zieht sich schon durch.
|| Ein transnationales Ereignis von umfassender Bedeutung führt eben dazu, dass alle Länder diese Bilder haben wollen. ||
Gehen wir auf ein weiteres Beispiel aus dem Globalen Süden ein: Die Prensa Latina aus Kuba wurde 1972 Teil des Netzwerks. Wie verlief die Aufnahme der Agentur? Gab es vielleicht Gegenstimmen?
Ich sage das jetzt unter Vorbehalt, weil ich die Quellen noch nicht vollständig durchgearbeitet habe. Aber es war wohl so, dass nach der Kubanischen Revolution von 1959 zuerst einmal kein besonderes Interesse bestand: Kuba war zu weit weg, zu marginal. Die Haltung war nicht so, dass man gesagt hätte: „Hervorragend, es hat wieder eine sozialistische Revolution gegeben, wir müssen Kuba sofort integrieren.“ Der Prozess verlief eher zögerlich. In den 1960er Jahren gab es einen Austausch von Fotografen und Redakteuren, aber die Aufnahme von Prensa Latina als Vollmitglied hat sich noch eine Weile hingezogen.
Für den Hintergrund ist es wichtig, zu wissen, dass sich die Beteiligten auch daran orientiert haben, welches Land welchen Bedarf hatte, wie groß die Nachfrage nach welchen Bildern war: Wie oft kam es vor, dass beispielsweise in Jugoslawien ein Ereignis stattfand, das so interessant war, dass eine rumänische Tageszeitung dies unbedingt als Fotonachricht brauchte? Oder wie wahrscheinlich war es, dass eine Nachricht aus Angola in Kuba von Interesse war?
Teilweise, so mein Eindruck, war es noch nicht einmal so, dass es kein Interesse für das jeweilige Land gab, sondern dass einfach die Logik der Nachrichtenfotografie immer wieder gegriffen hat: Ein transnationales Ereignis von umfassender Bedeutung führt eben dazu, dass alle Länder diese Bilder haben wollen. Dagegen interessieren Fotos aus lokalen Projekten in den meisten anderen Ländern niemanden. Man sollte aufpassen, es nicht überzuinterpretieren, wenn bestimmte Bilder keine Abnehmer fanden oder kein Interesse generieren konnten.
|| Beim Lesen der Dokumente stellt sich das Gefühl ein, dass die ganze Zeit über ein deutscher Sekundärtugenden-Wettbewerb veranstaltet wurde: Wer liefert die Bilder am zuverlässigsten? ||
Hat sich dieser „Duktus der Überlegenheit“ auch im Austausch von Bildern bemerkbar gemacht? Wurden Bilder aus bestimmten Ländern bevorzugt und aus anderen eher nicht? Wurde etwas zur Qualität bestimmter Fotografien gesagt?
Leider ist in den Quellen wenig darüber zu lesen, welche Bilder tatsächlich ausgetauscht worden sind. Oft weiß ich gar nicht, um welche Bilder es eigentlich geht und nach welchen Kriterien sie ausgesucht wurden. Die Fotos selbst liegen in Koblenz im Bildarchiv und sind von der schriftlichen Überlieferung getrennt.
Was sich allerdings anhand der schriftlichen Quellen sehr deutlich abzeichnet, ist, dass die DDR-Beteiligten allen anderen gerne Unzuverlässigkeit unterstellten. „Die liefern nicht rechtzeitig und die liefern nicht gut genug“– darüber wurden interessante Hierarchien konstruiert: Die Tschechen galten noch als die zuverlässigsten Partner, weil in Prag auch die Zentrale für den Austauschring war. Bei den Russen wurde die Agentur TASS noch als einigermaßen zuverlässig im Gegensatz zur RIA Novosti eingeschätzt, die wiederum nicht rechtzeitig lieferte etc. Beim Lesen der Dokumente stellt sich das Gefühl ein, dass die ganze Zeit über ein deutscher Sekundärtugenden-Wettbewerb veranstaltet wurde: Wer liefert die Bilder am zuverlässigsten? Statt, was ja auch denkbar wäre: Wer liefert die besten Bilder? Das habe ich noch nicht systematisch untersucht, aber es ist der erste Eindruck, der entsteht, wenn ich mir die Quellen ansehe.
Die Rolle von Zentralbild
|| Bei irgendeinem Treffen Anfang der 1960er Jahre kommt halt jemand auf die Idee, dass man diese Art von Zusammenarbeit auch für den Bildsektor praktizieren könnte, der bis dahin gar keine Rolle gespielt hat. Da ging es nur um Text-Nachrichten. ||
Rezeption der Fotografien im Westen
Wie wurden die Bilder von Photo International im Westen rezipiert bzw. fanden sie überhaupt im Westen Abnehmer?
Theoretische Rahmung
Welche Theorien kommen bei deinem Projekt zur Anwendung?
Es gibt mehrere Ansätze, mit denen ich experimentiere. Netzwerkforschung ist zum Beispiel einer davon. Die Agenturen bildeten ein Netzwerk, auch die Personen bildeten Netzwerke, die sich im Laufe der Zeit veränderten und unterschiedliche Schwerpunkte hatten. Die technische Infrastruktur war auch ein Netzwerk an Verbindungen, die quer durch die Welt gelegt worden waren. In puncto Methodik ist die serielle Ikonographie naheliegend, wenn man sich die Bildbestände anschaut. Gerade bei so großen Mengen an Bildern ist das eine Möglichkeit, um Muster zu erkennen. Natürlich spielt auch eine Rolle, was auf den Bildern zu sehen ist, wer fotografiert hat und wie.
Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden bzw. der Zweiten Welt, also der Sowjetunion und den sozialistischen Staaten in Europa, versuche ich mit postkolonialer Theorie zu arbeiten, weil es sich teilweise um ziemlich starke Hierarchien, um Machtkonstellationen sowie um kulturelle Codes und Habitus handelte. Alles, was sich im interkulturellen Kontext verändert, ist für mich auch sehr spannend. Das war einer der Gründe, weswegen ich beim Schreiben mit dem Kuba-Kapitel angefangen habe, weil bestimmte Dinge besonders sichtbar werden, die zum Beispiel im Verhältnis der DDR zur Tschechoslowakei auch vorhanden sind, aber nicht so deutlich werden. Ich würde sagen, es lässt sich wirklich eine Hierarchie-Skala erstellen, wer wem was erklären zu müssen glaubte. Daran kann man gar nicht vorbeischauen.
|| In puncto Methodik ist die serielle Ikonographie natürlich naheliegend, wenn man sich die Bildbestände anschaut.||
Kontinuitäten und Brüche
Welche Kontinuitäten und Brüche, Ähnlichkeiten und Unterschiede siehst du zwischen deinem letzten Buch „Agenten der Bilder“ und Photo International sowohl inhaltlich als auch mit Blick auf die Arbeitsweise?
|| Das Projekt, an dem ich jetzt arbeite, ist methodisch gesehen eine ganz andere Herausforderung. ||
II. Quellen und Digitalisierung
An Photo International waren Agenturen aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei, Vietnam, Kuba und anderen Ländern beteiligt. Wie hat deine Quellensuche funktioniert?
Der Akten- und Bildbestand von ADN Zentralbild, der staatlichen Bildagentur der DDR, liegt im Bundesarchiv. Ich habe also eine luxuriöse Ausgangslage, denn der größte Teil der Quellen liegt in einem Archiv. Dort findet sich natürlich nicht das Material von TASS aus Moskau oder von MTI aus Budapest. Aber ich gehe davon aus, dass ich in den entsprechenden Archiven zumindest zu Photo International zum großen Teil die gleichen Unterlagen finden würde, weil es sich um einen Austauschring handelte.
Das Bundesarchiv hat auch den Großteil des Bildbestands von Zentralbild übernommen, einen Teil davon digitalisiert und sehr viele der Digitalisate bei Wikimedia Commons hochgeladen, insgesamt ca. 40.000 Bilder. Das ist nicht der gesamte Bestand, denn ein Teil ist nur über das Bildarchiv des Bundesarchivs abrufbar, aber trotzdem zugänglich. Der Vorteil der Dateien bei Wikimedia Commons ist, dass es sich um jpeg-Dateien mit Metadaten handelt. In den Metadaten der jpeg-Files ist erkennbar, wo das Bild geschossen wurde, wie der Titel lautet, wer der Fotograf oder die Fotografin war, das Aufnahmedatum etc. Man kann diese 40.000 Fotos also statistisch auswerten: Was wurde wo wie oft von wem aufgenommen? Damit ergibt sich ein ganz anderer Blick auf die Bilder, als wenn ich nur ein einziges davon betrachten würde.
Du hast für das Projekt die Quellenauswertung digitalisiert, sodass du nicht auf die Lektüre und händische Katalogisierung der etwa 20.000 Seiten angewiesen bist. Wie genau funktioniert das?
Man muss zuerst zwischen Text- und Bildquellen trennen. Die Textquellen liegen überwiegend im Bundesarchiv, und dort konnte ich alles selbst fotografieren. Die App, mit der ich arbeite, erstellt aus den Fotografien automatisch eine PDF-Datei. Pro Akte – sagen wir mal, die Akte hat 40 Seiten – habe ich dann eine PDF mit 40 Seiten, in der alles abgebildet ist. Diese Dateien habe ich anschließend durch ein OCR-Programm laufen lassen, also durch eine Optical Character Recognition Software. Das Programm heißt Cisdem PDF Converter OCR und ist kostenpflichtig, aber es gibt mittlerweile auch eine Reihe kostenfreier Scan-Apps mit integrierter OCR-Funktion. Damit werden die Bilder, die ich von einer Akte gemacht habe, direkt in Text umgewandelt. Wenn die Akte dann als Volltext vorliegt, kann ich sie durchsuchen.
Das funktioniert natürlich nur begrenzt und hängt stark davon ab, wie die Qualität der Vorlage ist. Wenn das Dokument z.B. ein dritter Durchschlag ist, in dem alles verwischt und ohne Kontrast zu sehen ist, dann ist es für das OCR-Programm sehr schwierig, die Akte zu lesen, und es kommen viele Fehler vor. Aber wenn die Vorlage gut ist, habe ich am Ende einen Text vor mir in einer Qualität, als hätte ich ihn selbst abgetippt. Mit dieser Textdatei lässt sich gut weiterarbeiten. Wenn man sich nun vorstellt, nicht eine Akte mit 40 Seiten, sondern 200 Akten mit 20.000 Seiten analysieren zu wollen, dann ist es sehr hilfreich, den Gesamtbestand auf einmal durchsuchen zu können. Wenn ich jetzt wissen möchte, ob ich irgendein Dokument zur Mongolei habe, gebe ich „Mongolei“ ein und bekomme eine Trefferliste von allen Stellen, die in meinen Akten mit diesem Begriff vorkommen, und zwar in einem Kontext von 80 Zeichen vor und 80 Zeichen nach dem Suchbegriff.
|| Damit wird das Bild, das ich von dieser Akte gemacht habe, direkt in Text umgewandelt. ||
Begriffe, Beziehungen, Datenvisualisierungen
Welche Angaben gibt es in deiner Datenbank? Und mit welchen Suchfunktionen arbeitest du?
|| Lange Worte sind ein Hinweis darauf, dass sie DDR-Wortschöpfungen sind. […] Mein Lieblingsbegriff ist der „Aufforderungscharakter“. ||
Visualisierung von Begriffsbeziehungen
Du hast mir eine Visualisierung gezeigt, die abbildet, welche Begriffe in deinen Quellen häufiger bzw. seltener vorkommen. Ist es schwierig, solche Grafiken zu erstellen, und welche Tools braucht es dafür?
Die Grafik zeigt das Vorkommen der Namen ausgewählter Protagonist:innen in einem Text. Je häufiger ein Name vorkommt, desto größer ist der türkise Kreis, und je häufiger zwei Namen im Abstand von weniger als 200 Worten in der gleichen Akte vorkommen, desto dicker ist die rote Verbindungslinie. Manche tauchen häufig auf, sind aber schlecht „vernetzt“, andere tauchen selten auf, sind aber gut „vernetzt“. Es entsteht ein erster Eindruck von der Position einer Person in der Institution, die allerdings nur anhand schriftlicher Quellen konstruiert wird und deshalb anhand einer qualitativen und multiperspektivischen Herangehensweise überprüft werden muss. Hans-Joachim Spremberg zum Beispiel (oben rechts) war sicher keine Randfigur bei Zentralbild.
Programmieren in der Geschichtswissenschaft
|| Man bekommt ein anderes Bewusstsein dafür, was man auf der Grundlage der Daten aus dem Material herausholen kann. ||
Sind die Programme und Tools, die du angesprochen hast, frei verfügbar und kostenlos?
Jein. Für das OCR-Programm, das PDF-Dateien in Textdateien umwandelt, habe ich eine einmalige Summe von etwa 60 Dollar gezahlt.[1] Das waren überschaubare Kosten, und wenn ich das Programm einmal auf dem Rechner habe, lässt es sich unbegrenzt nutzen. Sonst war alles kostenfrei. Ein guter und frei verfügbarer Instrumentenkasten für die Auswertung findest sich auf der Seite https://voyant-tools.org – da kann man eigene Texte hochladen und ohne Vorkenntnisse ausprobieren, was man mit digitalen Anwendungen aus ihnen herausholen kann. Man kann einfach ein bisschen herumprobieren.
Für die Programmiersprache Python ist ebenfalls alles Open Source verfügbar. Für deren Nutzung muss man allerdings selbst programmieren lernen, was natürlich ein erheblicher Mehraufwand ist. Entscheidend ist aber aus meiner Sicht nicht, selbst alles programmieren zu können, sondern zu verstehen, was man überhaupt aus großen Datenmengen herausholen kann. Und das Gespür dafür ändert sich, wenn man selbst zumindest Grundkenntnisse einer Programmiersprache hat.
Gibt es Teile deiner Arbeit, die sich mit digitalen Instrumenten noch nicht so gut machen lassen? Wünschst du dir manchmal, der Computer oder das Programm könnte mehr leisten?
Nein, ich persönlich kenne das Problem noch nicht. Ich glaube eher, dass es fast zu viele Instrumente gibt. Daher ist es notwendig aufzupassen und sich nicht nur von der Vielzahl der Möglichkeiten tragen zu lassen, sondern jedes Mal zu überlegen: Was ist sinnvoll und was ist einfach Schnickschnack? Was brauche ich? Ich könnte zum Beispiel Word Clouds für meine Akten anlegen. Ich habe es kurz getestet, aber die Ergebnisse sind wenig überraschend. Dass „gut“ und „Bild“ oft zusammen auftreten, ebenso wie „schlecht“ und „Bild“, ist klar. Bei den Netzwerkgrafiken dagegen hatte ich einen echten Aha-Effekt: Wer klüngelt mit wem, wer taucht in den gleichen Sitzungsprotokollen auf? Das sind Dinge, die mir beim linearen Lesen möglicherweise nicht so klar geworden wären.
|| Aber dieses Gefühl, das ist keine Zauberei, und ich kann es lernen, ist sehr hilfreich. ||
Ich bin mir sicher, zu Python gibt es online sehr viele Anleitungen und Foren, in denen man sich einfach melden kann: „Ich habe ein Problem, hier ist der Code“, dann wird einem geholfen. Gibt es zu den anderen Tools auch Anleitungen und Ähnliches?
Für den Instrumentenkasten voyant-tools.org weiß ich es nicht, weil ich mich noch nicht genug damit beschäftigt habe. Aber für Python gibt es tatsächlich viele Online-Foren. Wenn ich eine Frage habe, kann ich sie ins Forum schreiben oder Altbeiträge durchsuchen. Man findet fast immer eine Lösung oder einen Hinweis. Es ist oft mühsam, manchmal ist nur ein Komma oder ein Doppelpunkt falsch, und das ganze Skript läuft nicht mehr. Das bedeutet Detektivarbeit, schlimmstenfalls für ein paar Stunden. Manchmal frage ich mich hinterher, wofür habe ich das jetzt alles gemacht? Aber dieses Gefühl, das ist keine Zauberei, und ich kann es lernen, ist sehr hilfreich.
[1] Cisdem PDF Converter OCR, https://www.cisdem.com/pdf-converter-ocr.html [09.03.2023]. Alternativ gibt es eine ganze Reihe freier Scan-Apps incl OCR-Programm, z.B. Microsoft Lens – PDF Scanner, https://play.google.com/store/apps/details?id=com.microsoft.office.officelens&hl=de&gl=US) [09.03.2023].
Zitation
Annette Vowinckel, Janaina Ferreira dos Santos und Iulia Sucutardean, Sozialistischer Bildertausch: Analoge und digitale Quellenarbeit. Ein Interview mit Annette Vowinckel, in: Visual History, 13.03.2023, https://visual-history.de/en/2023/03/13/vowinckel-santos-sucutardean-sozialistischer-bildertausch/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2465
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