Falsches Feuer
Zum Umgang mit retuschierten und inszenierten Bildern vom Reichstagsbrand
Welche besondere Sorgfalt bei der redaktionellen Verwendung von historischen Fotos nötig ist, konnte man zuletzt im Kontext des 90. Jahrestages des Reichstagsbrandes im Februar 2023 beobachten. In vielen Tageszeitungen, Dokumentationen oder Fernsehberichten wurde an das Ereignis erinnert, denn bis heute sind die Hintergründe der Brandstiftung umstritten. Die lange Zeit dominierende These, der Niederländer Marinus van der Lubbe habe den Brand allein gelegt, wird seit länger Zeit kritisch hinterfragt.[1] Wenn über ein solches historisches Ereignis und dessen Deutung berichtet wird, stellt sich in vielen Zeitungs- und Online-Redaktionen zwangsläufig die Frage nach der Bebilderung. Im Kontext des Reichstagsbrandes kommt es dabei häufig zu ungenauen oder falschen Darstellungen, da es nur sehr wenige Aufnahmen gibt, die tatsächlich am Abend des 27. Februars 1933 entstanden sind und den brennenden Reichstag zeigen. In den einschlägigen Bildagenturen werden darüber hinaus aber auch vermeintlich „echte“ Fotos vertrieben, die einer genauen Überprüfung bedürfen.
Eines der bekanntesten Motive, das häufig zur Bebilderung des Brandes benutzt wird, zeigt eine kleinere Gruppe von Passanten, die den brennenden Reichstag beobachten. Aus der Kuppel des Gebäudes steigt Qualm empor, auch Flammen sind zu erkennen. Die Szene suggeriert, dass die Aufnahme unmittelbar während des Brandes entstanden sei. Bei dem Foto handelt es sich jedoch um eine Retuschierung. Das ursprüngliche Bild entstand erst am nächsten Morgen, als das Feuer bereits gelöscht war. Die nachträglich hinein retuschierten Flammen sollten das Foto dramatischer wirken lassen.
Die genauen Umstände der Bearbeitung lassen sich heute nicht mehr eindeutig aufklären. Es gibt unterschiedliche Vermutungen darüber, wer die Retusche vorgenommen hat. Dass es sich um ein nachträglich bearbeitetes Bild handelt, ist jedoch lange bekannt, u.a. hat Dirk Stolper im Jahr 2015 darauf hingewiesen und den Kontext der Bildbearbeitung beschrieben.[2] Nichtsdestotrotz kommt das retuschierte Bild immer wieder zum Einsatz, um den Reichstagsbrand zu illustrieren, mitunter auch in einer nachträglich kolorierten Form. Die Bearbeitung ist professionell erfolgt und hat offenkundig ihren Zweck erfüllt, denn die nachträgliche Dramatisierung des Motivs hat weiterhin eine so große Wirkung, dass häufig lieber auf das Bild mit den retuschierten Flammen zurückgegriffen wird als auf das Original, auf dem kein Feuer zu sehen ist. Problematisch erscheint die redaktionelle Verwendung spätestens dann, wenn die Retuschierung nicht eindeutig kenntlich gemacht wird. Dadurch entsteht leicht der Eindruck, es handele sich um eine Originalaufnahme vom Reichstagsbrand.
Noch fragwürdiger erscheint die Nutzung eines anderen Fotos, bei dem es sich um eine vollständige Nachinszenierung des Brandes handelt. Darauf sieht man eine größere Menschenmenge, die den brennenden Reichstag beobachtet. Das Feuer schlägt aus allen Fenstern, nahezu das gesamte Gebäude steht in Flammen.Das Bild wird von diversen Bildagenturen in Deutschland zum Kauf angeboten, u.a. von Imago Images, Ullstein Bilderdienst, Interfoto und United Archives. Verschiedene Redaktionen griffen zuletzt wie im Februar 2023 wieder darauf zurück, u.a. RBB-Online, die ARD für einen Beitrag des „Morgenmagazins“, „Spiegel Online“ und auch die „Süddeutsche Zeitung“ auf dem Cover der Ausgabe vom 9. März 2023.
Tatsächlich handelt es sich bei dem Motiv jedoch um keine Original-Aufnahme vom 27. Februar 1933, sondern um ein nachträglich bearbeitetes Foto, das bei den Dreharbeiten des DEFA-Spielfilms „Der Teufelskreis“ (DDR 1955; Regie: Carl Ballhaus) entstanden ist.[3] Der Film befasst sich mit den Hintergründen des Reichstagsbrandes, vor allem mit dem anschließenden Prozess gegen Marinus van der Lubbe und verschiedene kommunistische Politiker, die einer Verschwörung beschuldigt wurden. Für den Film wurde ein verkleinertes Modell des Reichstags angefertigt, das bei den Dreharbeiten in Brand gesetzt wurde. Im Film gibt es insgesamt zwei Szenen, in denen das brennende Gebäude zu sehen ist – einmal mit einer Menschengruppe im Vordergrund, während Polizisten am Reichstag eintreffen. Hier wurde der Reichstag mit Hilfe einer Rückprojektion eingefügt. Etwas später im Film sieht man das brennende Model noch einmal für wenige Sekunden in einer größeren Frontalaufnahme.Vergleicht man die beiden Szenen mit dem vermeintlichen Original-Bild vom Reichstagsbrand, dann fallen die Übereinstimmungen sofort ins Auge, wenngleich die Einstellung der Kamera nicht hundertprozentig identisch ist. Möglicherweise handelt es sich bei dem aktuell vertriebenen Bild um eine Ausschnittvergrößerung, die zusätzlich leicht gedreht wurde, oder um die Aufnahme einer zweiten Kamera, die bei den Dreharbeiten etwas weiter links positioniert war. Auffällig ist außerdem, dass das Fotomotiv dunkler und kontrastreicher wirkt als die Szenen im Film, möglicherweise aufgrund einer anderen Beleuchtung oder einer nachträglichen Bearbeitung.
Doch wie konnte aus der Inszenierung eines DEFA-Films in den 1950er Jahren ein vermeintlich authentisches Fotomotiv des Reichstagsbrandes werden? Die Hintergründe lassen sich bislang nicht mit Sicherheit klären, dazu sind weitere Recherchen nötig. Vieles spricht jedoch dafür, dass die DEFA selbst dazu beigetragen hat, dass die fiktionale Szene später als „echt“ angesehen wurde. Denn die Bilder vom brennenden Reichstags-Modell fanden innerhalb der DEFA noch weitere Verwendung: Nur ein halbes Jahr später nutzten Andrew und Annelie Thorndike die Aufnahmen für eine kurze Sequenz in ihrem Film „Du und mancher Kamerad“ (DDR 1956; Regie: Andrew und Annelie Thorndike), der zu den aufwändigsten Dokumentarfilmproduktionen der DEFA zählt.[4] Die Thorndikes entwarfen darin ein propagandistisch gefärbtes Geschichtsbild der historischen Entwicklung in Deutschland vom späten Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Originale Archivbilder wurden mit nachgestellten Szenen und Sequenzen aus Spielfilmen zu einem vermeintlichen „Tatsachenbericht“ vermengt, ohne auf die unterschiedlichen Ursprünge der Bilder hinzuweisen, darunter auch die Aufnahmen vom Reichstagsbrand.[5]
Die kurzen Einstellungen vom brennenden Reichstag in „Du und mancher Kamerad“ sind – sowohl in der Kameraposition als auch in der dunkleren Belichtung – identisch mit dem Foto, das bis heute als Original-Quelle verwendet wird. Da der Film von der DEFA sehr erfolgreich ins Ausland verkauft wurde – insgesamt in fast 50 Länder, darunter auch nach Frankreich, Großbritannien, Italien und Schweden[6] – und das Bildmaterial verschiedentlich für andere Filme weiterverwendet wurde, spricht vieles dafür, dass die nachgestellte Szene vom Reichstagsbrand später als „dokumentarisch“ angesehen wurde. Unter anderem griff der britische Regisseur Paul Rotha für seinen Dokumentarfilm „Das Leben Adolf Hitlers“ (D/GB 1961) auf Filmmaterial aus „Du und mancher Kamerad“ zurück und übernahm dabei die kurzen Einstellungen zum Reichstagsbrand. Das Filmmaterial wurde seitdem immer wieder verwendet, um den Reichstagsbrand zu bebildern, beispielsweise in dem einflussreichen Dokumentarfilm „Hitler – Eine Karriere“ (D 1977) von Joachim Fest und Christian Herrendoerfer, der auf Fests Hitler-Biografie basiert.
Wann genau aus dem Filmmaterial das Foto erstellt und – außerhalb des DEFA-Kontextes – zum ersten Mal als „authentisches“ Bild verwendet wurde, ist noch unklar. Verstärkt taucht es erst seit den frühen 2000er Jahren in verschiedenen Zeitungen und Büchern auf, u.a. in einem Artikel im „Spiegel“ aus dem Jahr 2001, der sich mit der geschichtswissenschaftlichen Kontroverse um den Reichstagsbrand und der These der „Alleintäterschaft“ befasst. Der „Spiegel“ nutzte das Foto aus dem DEFA-Film als Aufmacher für den Artikel, ohne explizit auf eine Quelle hinzuweisen.[7] Neue Recherchen zeigen, dass das Bild aber auch schon deutlich früher verwendet wurde, z.B. in westdeutschen Schulbüchern und populärwissenschaftlichen Publikationen aus den 1970er und 1980er Jahren. Ob das Foto dabei bewusst aus dem DEFA-Filmmaterial entnommen oder von einer Bildagentur in Umlauf gebracht wurde, ohne dass der genaue Ursprung bekannt war, lässt sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren.
Die Bildagenturen, die das Foto aktuell vertreiben, konnten auf Nachfrage bislang keine genaueren Angaben dazu machen, wie das Bild in ihren Bestand gekommen ist. Auch hierzu sind weitere Recherchen notwendig. Tatsache ist jedoch, dass sich das Foto großer Beliebtheit erfreut. Ähnlich wie bei dem retuschierten Bild vom Tag nach dem Reichstagsbrand dürfte dies auch hier mit der dramatischen Wirkung des Bildmotivs zusammenhängen. Die DEFA setzte für den Film das gesamte Modell des Reichstags in Flammen. Dadurch wirkt die Szene noch wesentlich effektvoller und spektakulärer, als der Brand tatsächlich war. Das Feuer am 27. Februar 1933 konzentrierte sich auf den Plenarsaal, der Rest des Reichstags blieb davon weitgehend unberührt. Flammen und Rauch traten „nur“ aus der Kuppel hervor, nicht aus allen Fenstern des Gebäudes wie im DEFA-Film bzw. auf dem betreffenden Foto.
Der Reiz, die nachgestellten Bilder vom Reichstagsbrand als Original-Quelle zur Illustration zu verwenden, ist groß – und beschränkt sich keineswegs nur auf das eine Foto. Für eine aktuelle ARTE-Dokumentation mit dem Titel „Als der Reichstag brannte“ (F 2022; Regie: Mickaël Gamrasni), die zum 90. Jahrestag ausgestrahlt wurde, wurden die entsprechenden Sequenzen aus „Der Teufelskreis“ sogar nachträglich koloriert und gleich mehrfach verwendet, ohne Hinweis auf den fiktionalen Entstehungskontext.[8]
Die Kombination mit dem Sprechertext, in dem die Ereignisse der Brandnacht detailliert beschrieben werden, lässt die fiktionalen Bilder als realistische Quelle wirken. Das Prinzip der Dokumentation, nachgestellte Szenen mit Originalaufnahmen zu verweben, ohne dies transparent zu machen, erinnert an das Vorgehen der Thorndikes in „Du und mancher Kamerad“ – auch hier ist für den Zuschauer kaum erkennbar, welches Material original ist und welches nicht.Wie weitreichend die Wirkung der DEFA-Filmaufnahmen war, zeigt sich jedoch nicht nur an der Verwendung bis in die Gegenwart. Durch die Nutzung als vermeintliche „Originalquellen“ haben die fiktionalen Bilder möglicherweise auch die langfristige Wahrnehmung des historischen Ereignisses selbst beeinflusst. Häufig findet sich in Büchern oder Zeitungsartikeln etwa die Formulierung, der gesamte Reichstag habe „in Flammen“ gestanden oder sei gar bis auf die „Grundmauern niedergebrannt“ – so wie es in den nachgestellten Szenen der DEFA zu sehen ist. Auch in einer aktuellen Miniatur-Ausstellung in Berlin („Little Big City“) wird der Reichstagsbrand von 1933 anhand eines brennenden Models nachinszeniert, das sich optisch an dem Foto aus dem DEFA-Film orientiert und von der Realität weit entfernt ist.
Unterm Strich zeigen die Beispiele der retuschierten und fiktiven Bilder vom Reichstagsbrand, dass auch professionelle Bildagenturen anfällig für fehlerhafte Inhalte sind.[9] Im journalistischen Alltag, in dem Redaktionen mitunter schnell auf historisches Material zur Bebilderung von Texten zurückgreifen müssen, ohne ausreichend Zeit, um die Ursprünge zu überprüfen, bedarf es daher einer besonderen Sorgfalt, da nachträglich bearbeitete oder nachinszenierte Bilder sonst leicht als Realität erscheinen.
[1] Vgl. hierzu bereits die voluminöse Untersuchung von Benjamin Carter Hett, Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens, Hamburg 2016. Siehe auch die neue Studie von Uwe Soukup, Die Brandstiftung. Mythos Reichstagsbrand – Was in der Nacht geschah, in der die Demokratie unterging, München 2023.
[2] Vgl. Dirk Stolper, Der retuschierte Reichstag, in: Gedenkstättenrundbrief 177, Nr. 3/2015, S. 43-45, online unter https://www.gedenkstaettenforum.de/fileadmin/forum/Rundbriefe/2017/177/GedRund177-43-45.pdf [05.05.2023].
[3] Auf den Ursprung hat Uwe Soukup im Kontext des 90. Jahrestages des Reichstagsbrandes hingewiesen: Die Falschen Bilder vom Feuer, in: taz, 09.03.2023, online unter: https://taz.de/Reichstagsbrand-1933/!5917395/ [05.05.2023]; siehe auch Andreas Kötzing, Falsches Foto vom Reichstag: Ist das etwa die Sache mit der Brandstiftung?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.05.2023, online https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/reichstag-foto-waehrend-brand-1933-stammt-aus-defa-film-18887067.html [12.05.2023].
[4] Ich danke Tobias Ebbrecht-Hartmann für den Hinweis auf die Weiterverwendung des Bildmaterials aus „Der Teufelskreis“ in „Du und mancher Kamerad“. Vgl. generell hierzu das von Tobias Ebbrecht-Hartmann und Chris Wahl an der Filmuniversität Potsdam geleitete Projekt „Bilder, die Folgen haben – Eine Archäologie ikonischen Filmmaterials aus der NS-Zeit“, https://filmikonen.projekte-filmuni.de/das-projekt/ [05.05.2023].
[5] Vgl. Thomas Heimann, „Lehren aus der deutschen Geschichte“: Wahrheitstreue und Propaganda im DEFA-Dokumentarfilm „Du und mancher Kamerad“, in: Martin Sabrow (Hg.), Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR, Leipzig 1997, S. 185-215.
[6] Vgl. ebd., S. 187.
[7] Vgl. Klaus Wiegrefe, Flammendes Fanal, in: Spiegel, 15/2001, 08.04.2001. Für den Hinweis auf die Verwendung des Fotos im Kontext des Artikels danke ich Uwe Soukup. Im „Spiegel“ wurde die Verwendung des falschen Fotos kurz darauf durch einen Leserbrief von Manfred Romboy aufgeklärt. Siehe Briefe: Hoffnung auf ein Ende, Nr. 15/2001, Zeitgeschichte: Neue Kontroverse um den Reichstagsbrand, in: Spiegel, 29.04.2001, online https://www.spiegel.de/politik/hoffnung-auf-ein-ende-a-ea6d5103-0002-0001-0000-000019075556 [13.05.2023].
[8] Vgl. auch die Kritik von Soukup, Die falschen Bilder vom Feuer.
[9] Die Fotos vom Reichstagsbrand sind dabei keine Ausnahme, auch bei anderen historischen Ereignissen kommt es in Bildagenturen leicht zu falschen Zuordnungen, mit weitreichenden Auswirkungen. Vgl. etwa für den Kontext von Flucht und Vertreibung die Untersuchung von Stephan Scholz, „Ein neuer Blick auf das Drama im Osten“? Fotografien in der medialen Erinnerung an Flucht und Vertreibung, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 11 (2014), H. 1, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2014/5014 [05.05.2023], Druckausgabe: S. 120-133.
Zitation
Andreas Kötzing, Falsches Feuer. Zum Umgang mit retuschierten und inszenierten Bildern vom Reichstagsbrand, in: Visual History, 12.05.2023, https://visual-history.de/2023/05/12/koetzing-falsches-feuer-bilder-reichstagsbrand/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2479
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