Advent, Advent 2023 …

 

24 x Geschichte(n) des Jahres 2023, 24 erhellende Momente zum Verhältnis von Bildern und Geschichte. Kolleg:innen am ZZF haben ein Foto für das Jahr 2023 ausgewählt. Welche Geschichten stecken hinter den Bildern, welche Fragen werfen sie auf, welche Vergangenheit halten sie wach?

Die Bilder und Texte sind vom 1. bis zum 24. Dezember 2023 auf dem Instagram-Account von Visual History veröffentlicht worden – hier sind sie noch einmal gesammelt zu sehen.

 

Das „Haus Denkmal der Bulgarischen Kommunistischen Partei“ auf dem Berg Busludscha wurde nach Plänen des Architekten Georgi Stoilow von 1974 bis 1981 erbaut und bis 1989 als Tagungszentrum genutzt. Danach wurde es geschlossen, das Gebäude verfiel.

Wie ein UFO aus einer anderen Zeit steht es nun auf dem Berg. Im Jahr 2018 wurde das Bauwerk zur Kulturerbestätte erklärt, seit 2021 werden Arbeiten zum Erhalt der Bausubstanz durchgeführt. Wie schön wäre es, die Mosaike im Inneren bald ansehen zu können!

Annette Vowinckel, Busludscha-Denkmal, Bulgarien, August 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

Im September 2023 schloss sich ein Kreis. Ich hatte gerade das letzte Kapitel meines Buches über „Berlin. Das Rom der Zeitgeschichte“ geschrieben. Das Kapitel handelt vom Humboldt Forum im Berliner Schloss. Und als ich die Stadtbibliothek verließ, erschien über dem Schloss dieser Regenbogen. Das war für mich ein ganz besonderer Moment.

Hanno Hochmuth, Humboldt Forum, Berlin, 18. September 2023, CC BY-SA 4.0

 

 

Ich hatte im Mai 2023 die Chance, das wegen der Pandemie zweimal verschobene Abschiedskonzert von Elton John in Berlin zu besuchen. Seine Songs schrieben international Pop-Geschichte. Doch auch seine Bedeutung als Ikone für die LGBTQI+-Bewegung, seine visuelle Selbstinszenierung und seine Bedeutung für die Pop-Art bieten noch so viele Anknüpfungspunkte für die Visual History.

Elke Sieber, Mercedes-Benz Arena, Berlin, Mai 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

Der „Tassenbaum“ steht in der Döberitzer Heide, einem Naturschutzgebiet nördlich von Potsdam. Lange war das Gebiet Truppenübungsplatz, auch einer meiner Großväter war dort stationiert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die sowjetische Armee das Gebiet genutzt. Als sie nach der Wiedervereinigung abzog, blieb allerlei zurück, darunter wohl auch diese Emaillebecher. Irgendjemand hat sie dort aufgehängt – vielleicht um daran zu erinnern, dass es hier nicht immer so friedlich zuging.

Christoph Classen, Döberitzer Heide, Oktober 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

Als der Platz auf den Berliner Friedhöfen knapp wurde, entstand 1909 der Südwestkirchhof Stahnsdorf bei Potsdam. Eine eigens angelegte S-Bahn, „Leichen“- oder „Witwenbahn“ genannt, brachte die Trauernden aus Berlin zu ihren Toten aufs Land.

Mit dem Mauerbau 1961 fiel der Friedhof in einen Dornröschenschlaf. Die S-Bahn fuhr nicht mehr, die Grabstätten wurden von Gräsern und Büschen zugesponnen, die Gruften und Mausoleen von Fledermäusen bezogen. Heute ist es ein verwunschener Ort, der von der Vergänglichkeit ebenso erzählt wie vom Leben und der Liebe.

Christine Bartlitz, Stahnsdorf, 1. Mai 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

Dissonanzen

Frauen mit dem Elektromobil unterwegs zum Sightseeing in Samarkand. Besuch des bronzenen Denkmals von Islom Karimov, dem ersten Präsidenten des unabhängigen Usbekistans. Stehend auf einem roten Granitsockel – wie Lenin, dessen Monumente 1991 im Land gestürzt wurden. Abschied vom Sozialismus, Prozesse der Dekolonialisierung und unberührt davon: das Verständnis von Herrschaft.

Corinna Kuhr-Korolev, Samarkand, Usbekistan, 3. November 2023, CC BY-SA 4.0

 

 

Im thüringischen Altenburg gibt es ungefähr so viele Kleingärten wie Menschen. Einige davon habe ich im Sommer mit Datscha Radio erkundet. Unser Sendestudio haben wir in einer Laube aufgebaut, die kaum Platz für einen Tisch bot. Mehr brauchte es aber auch nicht, um mit einem Richtmikrophon die Stimmen der Gäste und die Klänge des Gartens einzufangen. Dazu mischten wir live on air verschiedene Sounds und Geschichten.

Zum Ende des Sommers gingen wir selbst an die Luft und brachten auf einer Streuobstwiese Bäume zum Klingen und noch mehr Menschen zum Reden über Gärten, Marmeladen und die Gemeinschaft über den Gartenzaun hinaus. Es war ein toller radiophoner Sommer!

Helen Thein. Foto: Gabi Schaffner, Historischer Laubengarten in Altenburg, August 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

Verkehrswende 1.0. Ich hatte das Motiv längst vergessen, aber Google weiß Bescheid. Es war an einem Sonntag im März, unweit vom wunderschönen Naturschutzgebiet Zarth bei Treuenbrietzen; einer dieser Ausflüge in den Weiten Brandenburgs, in denen das Warten auf den Bus zu einem ästhetischen Erlebnis werden kann. Nur halt ohne Bus.

Anja Tack, Bushaltestelle Bardenitz, Mühlenberg, 5. März 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

Im Sommer bin ich für eine Tagung des DHI Washington ein paar Tage an den Comer See gefahren, ganz in die Nähe der Orte, die viele jüdische Familien in den 1930er Jahren besuchten, denen ich in meiner Arbeit nachgehe. In der Schweiz und in Italien konnten sie der Verfolgung zu Hause für einen Augenblick entkommen.

Die Schönheit der Gegend selbst zu erleben, hat mir geholfen, den fragilen Eskapismus ihrer Reisen besser zu verstehen.

Robert Mueller-Stahl, Comer See, August 2023 ©

 

 

Seit einigen Jahren archiviere ich den Fotobestand meiner Familie. Das führt immer wieder zu intensiven Aushandlungsprozessen.

So verhandelten wir auch im Herbst 2023 das visuelle Familiengedächtnis: Der Eine bevorzugt eigentlich das Kruschteln in unsortierten Schuhkartons, die Andere möchte jedes zweite Bild wegwerfen, weil „das interessiert doch eh keinen mehr“. Die Katze hingegen freut sich einfach nur über die neue Kiste.

Svea Hammerle, Oktober 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

Nécropole Nationale du Struthof, im Hintergrund das Mémorial aux Héros et Martyrs de la Déportation beim ehemaligen Konzentrationslager Natzweiler-Struthof im Elsass

Im vergangenen Sommer entdeckte ich dort zufällig das Grab des französischen Offiziers Willy Herz, das Kreuz vorne links, der im Januar 1945 im Außenlager Niederorschel des KZ Buchenwald starb. Seine Biografie hatte ich vor fast zehn Jahren für die Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald bearbeitet.

Georg Wamhof, Natzwiller, Frankreich, August 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

Geknipst bei einem Familienausflug. Drei Ausstellungen an einem Tag, dort wo der kulturelle Reichtum der Bundesrepublik angemessen repräsentiert werden soll. Eine zur Einwanderungsgesellschaft, eine zur Moderne und eine über Josephine Baker. Machbar, weil man – auch als Kunstaktion – draußen auf silbernen Platten Tischtennis spielen konnte und auf dem Dach mit umhäkelten Bällen Basketball. Das Foto hält einen Moment auf dem Dach der Bundeskunsthalle an der Bonner Helmut-Kohl-Allee fest.

Isabel Enzenbach, Bonn, Bundeskunsthalle, 29. Juli 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

Wegen einer kurzen Recherche war ich im April im Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft in der Lichtenberger Ruschestraße. Da ich am eher beschaulichen Stadtrand wohne und arbeite, hatte ich also einen urbanen Wow-Moment, als ich aus der U-Bahn emporstieg. Dass an dem Fahnenmast vor der ehemaligen MfS-Zentrale der DDR jedoch noch Fahnenreste hängen, hat mich kalt erwischt: DDR-Geschichte, ganz nah. Ob sie „echt“ sind, weiß ich nicht.

Sandra Starke, Berlin, April 2023, CC BY-SA 4.0

 

 

Im Juli 2011 erschoss ein Rechtsextremist 69 Menschen auf der norwegischen Insel Utøya. Die Namen der Ermordeten, vor allem junge Leute, sind in diesen Metallring eingestanzt. Niemand sollte am Anfang oder Ende stehen – so der Grundgedanke dieses Gedenkortes.

Die wunderschöne kleine Insel dient weiter als Treffpunkt für Jugendliche – hier darf gefeiert und gelacht, aber eben auch der Toten gedacht und erinnert werden.

Irmgard Zündorf, Utøya, Norwegen, März 2023, CC BY-SA 4.0

 

 

14,5 Stunden lang öffnete der Künstler Pablo Lerma im NS-Dokumentationszentrum in Köln unzählige Archivboxen. Die spektakuläre Performance „The Opening. An institution, a depot, the boxes“ machte erfahrbar, wieviel Mut es erfordert, historischer Bürde – in unscheinbaren Kartons schlummernd – zu begegnen. Und wie unabdingbar künstlerische Forschung dabei ist, neue Ausdrucksformen für Begegnungen mit Dokumenten der belasteten deutschen Geschichte zu finden. Der Sound der Performance – Lermas angestrengtes Atmen – hat sich für den Rest des Jahres in mein Gehirn eingebrannt.

Lucia Halder, Köln, August 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

Das anonyme Foto aus Berlin ging ab 18. Januar 2023 viral. Ich musste laut lachen, ein wunderbares Beispiel für Culture Jamming: Die populistische Trotzigkeit des CDU-Plakats wurde vom Bürgersteig aus um den freundlichen Hinweis ergänzt, dass die CDU nur eine Option unter anderen Parteien ist bei der anstehenden (Wiederholungs-)Wahl am 12. Februar. Reflexhaft machte ich einen Screenshot vom Foto, sandte es vergnügt an Freunde. Denn dieser Witz ist Berlin, wie ich es mag.

Ja, es stimmt, die CDU gewann am Ende die Mehrheit. Das ist Demokratie. Schlechte Laune aber bringt nichts – auch 2024 nicht.

Axel Doßmann, Foto: Anonym, Berlin, Januar 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

Everything Everywhere All at Once

Die Science-Fiction-Komödie „Everything Everywhere All at Once“ von Daniel Kwan und Daniel Scheinert feierte schon 2022 Premiere, erhielt aber in diesem Jahr sieben Oscars. Ich schaute ihn in New York auf Amerikareise mit meinen beiden besten Freundinnen und erlebte everything everwhere all at once in diesem Kinosaal, auf dieser Reise, in diesem Jahr.

Sollte ich dem Jahr 2023 eine persönliche Überschrift geben müssen, wäre kein Titel passender als der des Films.

Josephine Kuban, New York City, Mai 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

Ein buntes Denkmal für einen gar nicht bunten Bürgermeister: Das umstrittene Monument am Wiener „Dr.-Karl-Lueger-Platz“ wurde in den letzten Jahren unter anderem mit pinker, blauer und schwarzer Farbe übergossen, die Worte „Nazi“ und „Schande“ zieren den Sockel.

Kurz nach meinem Besuch im April 2023 verkündete die Stadt, dass das Denkmal im kommenden Jahr um 3,5 Grad gekippt werden soll – der vielfach geforderte Abriss ist somit zunächst vom Tisch. Ich bin gespannt, welche offiziellen und inoffiziellen Interventionen dem Kunstwerk bis zu meiner nächsten Reise nach Wien bevorstehen.

Janaina Ferreira dos Santos, Wien, 29. April 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

In der Nacht vom 6. zum 7. Oktober fuhr ich auf einem Boot die Spree entlang mitten durch Berlin. Die Nacht war noch warm, die Barfrau wunderschön, die Matrosin (!) hatte Zauberkräfte, und die Gäste waren ohne Ausnahme liebenswürdig. Es war eine glückliche Fahrt durch eine vom „Festival of Lights“ erleuchtete Stadt, die kaum je schöner war als in dieser Nacht vom Wasser aus gesehen.

Niemand von uns ahnte, dass wir Stunden später starr vor Entsetzen und Ohnmachtsgefühlen die Nachrichten verfolgen würden. Niemand ahnte in dieser glücklichen Nacht, dass die Bilder, die wir vom 7. Oktober in den Timelines zu sehen bekämen, uns auf lange Zeit, vor allem in den Nächten, verfolgen würden, wie ein in Schleife gedrehter Albtraum.

Annette Schuhmann, Berlin, Haus der Kulturen der Welt, 6. Oktober 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

Dieses Präparat eines Moschusochsen steht beinahe unscheinbar, fernab der Besucherströme, im Forschungsbereich des Museums für Naturkunde in Berlin. Wie das Bild an der Wand verdeutlicht, haben solche Tierpräparate eine lange Tradition in Naturkundemuseen. Sie wurden genutzt, um den Besucher:innen die Artenvielfalt der Tierwelt zu präsentieren.

Tierpräparate sind aber nicht nur konservierte biologische Exemplare, sondern auch faszinierende materielle Zeugnisse vergangener wissenschaftlicher und musealer Praktiken. Sie gewähren Einblick in das Wissen und die Denkweise vergangener Zeiten und deren Wandel. Nicht zuletzt spiegelt sich dieser Wandel im heutigen Standort des Moschusochsen in einem abgelegenen Gang.

Sabrina Runge, Berlin, Naturkundemuseum, Mai 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

Für ein Projekt habe ich mich letztes Jahr intensiv mit dem in den 1970er Jahren in Westberlin „gelandeten“ Internationalen Congress Centrum (ICC) beschäftigt. Da war es schon geschlossen und blieb für mich deshalb eine Blackbox. Auf jeder Fahrt zwischen Potsdam und Berlin zieht der Koloss seitdem meinen Blick an.

Zum Tag des offenen Denkmals 2023 konnte ich endlich auch den Innenraum des „Raumschiffs“ erkunden. Es war noch erstaunlicher als erwartet!

Josephine Eckert, Berlin, ICC mit Lichtleitsystem des Künstlers Frank Oehring, das er in den 1960er Jahren entwickelt hat, September 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

New York City, frühe Morgenstunden, 11. September 2023. Blick aus einem Hotel im 50. Stock Richtung Brooklyn Bridge, auf der Rückseite des Gebäudes bereitet sich die Gedenkstätte Ground Zero auf den Jahrestag der Anschläge vor 22 Jahren vor.

Die Düsternis hat etwas unerwartet Vertrautes. Aber ich bin doch zum ersten Mal hier, woher kenne ich den Blick? Und: Hat da nicht gerade etwas geraschelt, huschte nicht ein Schatten über die Skyline? Eine Gestalt mit Fledermausflügeln?

Natürlich, Batman! Ich bin in Gotham City. Wenn das Leben die Kunst imitiert.

Jutta, Braun, Downtown Manhattan, New York, September 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

„+ Franklin“: Diese Plakette findet sich seit September 2023 im Whipple Museum of the History of Science in Cambridge. Zuvor war sie an der Fassade des Pub „The Eagle“ angebracht und ehrte zwei Wissenschaftler, die hier die Entdeckung der DNA 1953 bei einem oder zwei Pints verkündet hatten.

Seit 2017 machten Unbekannte immer wieder darauf aufmerksam, dass die Entdeckung der DNA nicht ohne die Arbeit von Rosalind Franklin hätte erfolgen können, die eine Reihe von Röntgen-Aufnahmen gemacht hatte, die die Struktur der DNA erst sichtbar werden ließ. Das Grafitto wurde von der zuständigen historischen Kommission immer wieder entfernt, die unbekannten Aktivist:innen erneuerten es regelmäßig. Bis im Jahr 2023 beschlossen wurde, die Plakette zu ersetzen und das Team zu ehren, das hinter dem wissenschaftlichen Durchbruch stand. Manche Denkmalstürze brauchen etwas Zeit – und Beharrlichkeit.

Achim Saupe, Cambridge, Dezember 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

 

Friedenskirche, Potsdam, September 2023

Michael Homberg, Potsdam, September 2023, CC BY-NC-ND 4.0

 

Wir wünschen allen Leser:innen von Visual History entspannte und friedliche Tage „zwischen den Jahren“ und ein gesundes neues Jahr 2024!

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