Fotograf gesucht
Immer, wenn man (historische) Fotos und Fotoalben verstehen möchte, ist eine der zentralen Fragen: Wer hat das Foto gemacht? Nur selten geben private Alben darüber direkt Auskunft. Gleichzeitig geben die Fotos Hinweise, um zumindest Vermutungen anzustellen. Die Beziehung zwischen fotografierender und fotografierter Person ist ein wesentlicher Teil des Entstehungszusammenhangs. Sie kann uns Aufschluss über Hierarchien, Freiwilligkeit oder Zwang und Intention(en) des Fotos geben. Versuchen wir, den Fotografen zu finden.
Versuch I
Auf diesen zwei Fotos sieht man Helene Taitza, später Lindenberger. Der neutrale Hintergrund, die eingenommenen Posen der fotografierten Person und im linken Bild auch der als Requisite platzierte Stuhl weisen auf einen professionellen Rahmen hin. Sowohl die Fotografie selbst als auch der Abzug sind qualitativ hochwertig. Das Format Carte de Visite, das für Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts typisch ist, gibt einen weiteren, endgültigen Hinweis: „Atelier Herrfurth // Merseburg“ bzw. „Max Herrfurth Merseburg“ ist in stark verzierter Serifenschrift auf das Avers, den Kartonuntersatz gedruckt. Die Aufnahme ist von einem professionellen Fotografen. Ob der benannte Max Herrfurth selbst fotografiert hat oder ein Mitarbeiter aus dem Atelier, lässt sich nicht nachvollziehen.
Versuch II
Auf dem Foto sehen wir 18 Personen. Mehrere davon sind unscharf oder verschwommen, vermutlich haben sie sich während der Aufnahme bewegt. Die Szenerie zeigt eine sehr private Situation: Die Personen sind verkleidet, zwei betreiben Cross-Dressing. Sie stehen unsortiert nebeneinander, aber als Gruppe erkennbar eng zusammen. Viele von ihnen lachen. Die fotografierende Person ist vermutlich Teil der Szene und hätte ebenso gut auf dem Foto sein können. Die Aufnahme ist nicht zufällig entstanden, sondern viele der abgebildeten Personen posieren und schauen in die Kamera. Sie sind sich also bewusst, dass sie fotografiert werden. Weil wir nicht genügend Informationen über die Zusammensetzung der Gruppe, den Ort oder den Anlass haben, können wir auch nicht per Ausschlussprinzip weitere Vermutungen über den Fotografen oder die Fotografin anstellen.
Versuch III
Mit dem Wissen durch andere beschriftete Fotografien des Albums erkennt man hier das Ehepaar Joseph und Helene Lindenberger mit der gemeinsamen Tochter Etta. Alle tragen Skiausrüstung, stehen in verschneiter Umgebung und schauen meist lächelnd in die Kamera. Die Sonne steht so, dass die drei Personen Schatten werfen – der Schatten der fotografierenden Person könnte Hinweise über sie selbst geben, aber er fällt nicht ins Bild. Die Skifahrer:innen wollen vermutlich nach der Aufnahme direkt weiterlaufen: Ihre Hände sind noch an den Skistöcken, und sie sind so nah nebeneinander, als wären sie gerade stehengeblieben.
Vermutlich ist deshalb die fotografierende Person selbst Teil der Skigruppe. Das Foto ist wenig kontrastreich, es könnte also von einer Person mit geringer Erfahrung hinter der Kamera gemacht worden sein. Andere Bilder zeigen, dass zu der Familie noch der Sohn Hermann gehört. Er ist etwa ein Jahr älter als seine Schwester, weshalb es verwundert, dass er nicht mit abgebildet ist. Vermutlich war er ebenfalls mit im Familienurlaub. Die Beobachtungen legen den Schluss nahe, dass Hermann nicht auf dem Bild ist, weil er der Fotograf ist.
Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: „un.sichtbar. Blicke auf das Fotoalbum einer jüdischen Familie 1904-1969“, herausgegeben von Christine Bartlitz, Christoph Kreutzmüller und Theresia Ziehe
Themendossier: un.sichtbar: Blicke auf das Fotoalbum einer jüdischen Familie 1904-1969
Zitation
Lisa Querner, Fotograf gesucht, in: Visual History, 14.02.2024, https://visual-history.de/2024/02/14/unsichtbar-querner-fotograf-gesucht/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2711
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