„Lauchhammer ist mein New York“

Christina Glanz’ Fotoporträts ostdeutscher Kohle-Arbeiter:innen in den Jahren postsozialistischer Massenentlassungen

Frau mit Kopftuch in einer Fabrik

Porträt „In den Brikettfabriken 1992-1994“, Foto: Christina Glanz ©

Eine (Wieder-)Entdeckung

Eine Entdeckung ist zu feiern mit der Potsdamer Ausstellung, die sich zentralen Arbeiten aus dem Werk der Fotografin Christina Glanz widmet. Genau genommen handelt es sich um die Chance zur Wiederentdeckung, symptomatisch spät im vereinten Deutschland. Denn die Berliner Fotografin Christina Glanz hatte bereits in den 1980er Jahren der DDR Aufmerksamkeit erregt und Anerkennung gefunden bei all denen, die sich für fotokünstlerische Positionen im geteilten Deutschland interessierten. Bereits 1982 und 1987 war Christina Glanz bei den letzten beiden Kunstausstellungen der DDR in Dresden vertreten. Im Jahr 1986 war sie mit sieben Arbeiten bei der 3. Porträtfotoschau in Dresden und Berlin mit dabei.

Drei Jahre später erschien eine Anthologie mit jungen Autor:innen, erweitert um zwanzig ein- oder doppelseitig gedruckte Fotografien von Glanz, die die Herausgeber:innen unverfänglich als „Streiflichter unseres Alltags“ bezeichneten. Zu sehen sind offensichtlich skeptische, zum Teil melancholisch wirkende Infragestellungen: ländliche Landschaften, Blicke aus dem Fenster auf parkende Autos im Schnee, Menschen bei der Arbeit und bei der Gestaltung freier Zeit. Und immer wieder Porträts von Menschen, oft junge Frauen und Mädchen, von Familien und anderen Gruppen. Glanz’ Weltbetrachtung ist von behutsamer, fast naiv wirkender Neugierde getragen, die staunend und fragend bleibt, nichts abschließend definieren will.

In der legendären Anthologie „DDR Frauen fotografieren“, die Gabriele Muschter 1989 für den Westberliner exposé-Verlag von Hansgert Lambers herausgegeben hatte, war Christina Glanz eine der 42 Fotografinnen aus der DDR, die vorgestellt wurden. Zeitgleich nahm der renommierte Fotograf Roger Melis verschiedene Arbeiten von Christina Glanz in das letzte große Fotobuch zum Leben in der DDR auf. „Schau ins Land“ erschien im Oktober 1989 im Aufbau-Verlag; das starke „Foto-Lese-Buch“ mit zum Teil heute noch lesenswerten, subversiven Deutungsangeboten von Schriftsteller:innen blieb in den revolutionären Zeiten jedoch unter dem Radar öffentlicher Aufmerksamkeit.[1]

Manchmal frisst eine Revolution auch einige ihrer sensiblen Seismograph:innen. Leicht hatte es die studierte Architektin nie, die erst als 30-jährige alleinerziehende Mutter die Fotografie als Autodidaktin für sich entdeckte, nachdem ihr erste Berufserfahrungen bei der Planung des Ostberliner Neubauviertels Marzahn den Atem für Kreativität genommen hatten. Anders als die große Mehrheit der Fotokünstler:innen in der DDR studierte Christina Glanz nicht an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, wurde aber 1982 dennoch in den Verband Bildender Künstler der DDR aufgenommen. In die Ostberliner Kunstszene fand die Autodidaktin keinen Zugang. Arno Fischer, der einflussreiche, international vernetzte Fotograf und Dozent soll von Christina Glanz’ Arbeitsproben zwar recht angetan gewesen sein, war sich aber sicher, dass das mit ihr langfristig nichts werden könne: „Das schaffst Du nie, so mit Tochter und allein“, soll er sinngemäß gesagt haben.[2]

Jetzt endlich, mit der Potsdamer Ausstellung im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte und dem deutsch-englisch-sprachigen Fotobuch, ist ein wichtiger Teil des Werks von Christina Glanz deutlich komplexer und vielschichtiger gewürdigt als bislang. Nicht zuletzt die neuen großformativen Abzüge, aber auch die Takes aus ihren Interviews mit „Kohlefrauen“ lohnen den Besuch – bis zum 24. März 2024 ist die Ausstellung noch zu sehen.[3]

Mann vor einer Wand mit Fotografien

Blick auf die Wandpräsentation der Serie „Die Kündigungen“, Foto: BKG, Nadine Redlich ©

Bio-Geografie: „Lauchhammer ist mein New York“

In einer Dialogführung fragte die Fotografin Tina Bara (Jg. 1962) ihre Kollegin Christina Glanz (Jg. 1946), warum sie in den Jahren nach der Öffnung der Grenzen nicht die große Welt entdecken wollte, sondern immer wieder nach Lauchhammer zurückgekehrt sei, in die brandenburgische Provinz. „Lauchhammer ist mein New York“, entgegnete Glanz prompt, wartete einen Moment ab und lachte dann erst auf. Sie ist eine außergewöhnlich beharrliche, eigensinnige Frau. Als Fotografin und alleinerziehende Mutter hatte Glanz in den 1980er Jahren vor allem mit Aufträgen aus der DDR-Industrie ihr Geld verdient. Das führte sie oft nach Lauchhammer, eine Stadt, die inmitten von Kohlefördergebieten zwischen Dresden und Cottbus liegt, wo seit Ende des 19. Jahrhunderts Braunkohle veredelt und verarbeitet worden war zu Strom, Benzin und Briketts.

Wie viele andere DDR-Bürger:innen verlor 1990 auch Christina Glanz ihre Hauptauftraggeber bzw. ihre Arbeit. Fotografisch aber knüpfte sie unverdrossen an ihre bekannte Serie „Demonstrationen zu Ehren von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht“ an, mit der sie seit 1975 eine skeptische Befragung dieser gesteuerten, alljährlichen Zeremonie im schneenassen Januar unternommen hatte. In den Jahren 1990/91 porträtierte Glanz „im Selbstauftrag“ erneut ostdeutsche Demonstrant:innen, diesmal „Im Zwischenland“, zwischen dem letzten Jahr der DDR und einer verheißungsvoll-ungewissen Zukunft im vereinten Deutschland.[4]

Um Geld zu verdienen, wechselte sie ins Ostberliner „Haus für Demokratie“ in die Öffentlichkeitsarbeit für die „Grüne Liga“. Dort aber spürte sie, dass sie ohne Fotografie nicht leben mochte. Nach der bezahlten Arbeit sah man sie fast jedes Wochenende und an Feiertagen mit ihrer Plattenkamera in den Brikettfabriken von Lauchhammer fotografieren. Sie wollte zunächst die architektonische Welt festhalten, die bald verschwunden sein würde. In den „Brifas“, den Brikettfabriken, kam sie mit Arbeiter:innen ins Gespräch, erfuhr mehr über ihre Arbeit, ihr Selbstverständnis, ihre Heimatgefühle. Über die Jahre entstand gegenseitiges Vertrauen. Die Einheimischen begriffen, dass hier jemand mit Empathie eine visuelle Form suchte für etwas, was bald Geschichte sein würde. Diese zurückhaltende Fotografin würde die ihnen so vertraute, selbstverständliche Welt der Arbeit wenigstens mit ihren Fotos bewahren. Glanz gab den Menschen mit ihrer Kamera Wertschätzung, die selten war in diesen harten, politisch hochbrisanten, rassistischen „Baseballschlägerjahren“ (u.a. Hoyerswerda 1991). Mit dem Gefühl des Überflüssig-Seins gingen bei vielen auch Selbstvertrauen, Routinen und Rückhalt verloren – oder alt-neue, nationalistische Ressentiments brachen sich aggressiv Bahn.

Mit dem Ende der DDR schloss eine alte Brikettfabrik nach der anderen und wurde abgerissen. Von über 15.000 Arbeitsplätzen im Juni 1990 sollten nach Entscheid der Treuhand Ende 1993 noch 4000 in Lauchhammer übrigbleiben.[5] Zurück blieb auch Asche, Schlacke und der ewige Kohlenstaub. Die Schwermetalle belasteten den Boden, die Schwefeldioxide hatten sich längst in der Atmosphäre verteilt. Und es blieben die Menschen, die oft seit Generationen von „der Kohle“ gelebt hatten, deren Haut oft etwas silbrig-schwarz schimmerte, die wohl auch anders rochen. Auf diese Weise waren sie ihrer Heimat verbunden, die über weite Gebiete des Tagebaus einer Mondlandschaft glich. „Unsere Arbeit war schwer. Unsere Arbeit war schmutzig. Und doch war diese Arbeit unser Leben.“ So lautete die Bilanz eines Arbeiters am Tag der Stilllegung „seiner“ Fabrik.[6] Die Fotografien von Christina Glanz bieten Chancen, solche Sätze besser zu verstehen.

 

Überzeugende Kompositionen und Installation

In Potsdam stehen Glanz’ Fotoserien aus den Jahren 1992 bis 2004 im Zentrum, die in Lauchhammer entstanden sind. Drei der Serien sind Einzel- und Gruppenporträts von Kohle-Arbeiter:innen; eine Serie macht die Spuren einstiger Arbeitsplätze zu Denk- und Sinnbildern; eine letzte Porträtserie widmet sich Jugendlichen in den frühen 2000er Jahren.

Christina Glanz porträtierte einzelne Arbeiter:innen in ihren Werkhallen (Serie „In den Brikettfabriken“); das waren die Jahre, in denen allmählich abzusehen war, wann das letzte Brikett gepresst werden würde.

Eine Frau (links) und ein Mann (rechts) in Arbeitskleidung in einer Fabrik

Porträts „In den Brikettfabriken 1992-1994“, Fotos: Christina Glanz ©

Eine Frau mit Kopftuch

Porträts „In den Brikettfabriken 1992-1994“, Fotos: Christina Glanz ©

Ein Mann mit Arbeitshelm

Porträts „In den Brikettfabriken 1992-1994“, Fotos: Christina Glanz ©

Eine Frau mit Kopftuch auf einer Bank

Porträts „In den Brikettfabriken 1992-1994“, Fotos: Christina Glanz ©

Zwischen 1992 und 1994 bat die Fotografin die Brigaden im Betriebsgelände um ein letztes Gruppenporträt, wenn in den Werken die jeweils letzte Schicht gefahren wurde (Serie „Die letzte Schicht“). Für diesen Zweck kam sie mit ihrer großen Plattenkamera wieder nach Lauchhammer. Oft entstand nur ein Bild von der Gruppe, bevor alle wieder an ihre Plätze eilten, denn die Veredlung und Vergasung von Kohle ist eine gefährliche und fordernde Angelegenheit.

Eine Gruppe von Industriearbeitern

C-Schicht der Brikettfabrik „64“ am 30. März 1993, Foto: Christina Glanz ©

Eine Gruppe von Industriearbeitern- und arbeiterinnen

Tagesbrigade aus dem Nassdienst Brikettfabrik „65“ am 30. März 1993, Foto: Christina Glanz ©

Und die Berlinerin war kurz entschlossen auch mit zwei Kleinbildkameras vor Ort, als Arbeiter:innen und Angestellten der Brikettfabrik „64“ am 28. Januar 1993 die Entlassungsbriefe ausgehändigt wurden (Serie „Die Kündigung“). „Bevor sie den Ort verließen, fotografierte ich diejenigen, die sich dazu bereit fanden“, schreibt Glanz im Katalog (S. 50; siehe die Fotos weiter unten).

All diese Porträtarbeiten gewinnen ihre würdigende Kraft aus der zugewandten, doch stets distanziert-sachlich bleibenden Neugierde, mit der sich die Fotografin ihrem Gegenüber näherte. Das gilt auch für die letzte, in Farbe fotografierte Serie, in der sie sich den Kindern und Jugendlichen widmet, die in der Zeit von 2002 bis 2004 in Lauchhammer lebten. Diese jungen Leute müssen in den späten DDR- oder Wende-Jahren geboren sein, sie haben die Entlassung ihrer Eltern und die „Baseballschlägerjahre“ als Heranwachsende erlebt – sie hängen in Gruppen auf der Straße herum, sind in der Lehrausbildung und zeigen Glanz gegenüber oft unsichere Posen bzw. betont coole Gesichter und Gesten; Menschen, die auf der Suche sind in einer Welt, in der die Zukunft wie bereits für ihre Eltern kaum noch Sicherheit bietet und marktwirtschaftliche Freiheit ambivalent erfahren wird.

Diese Fotoserie wird auf einer freigestellten Wand in der Mitte der Ausstellung präsentiert; auf der Rückwand hat die Kuratorin Katalin Krasznahorkai eine frühe Arbeit von Christina Glanz mit Jugendlichen aus dem Jahr 1985 parallel gestellt: junge Männer vor ihrer Lehrzeit während der vormilitärischen Ausbildung in der Gesellschaft für Sport und Technik (GST). Fotografin Glanz zeigt aus dieser sozialistischen Militarisierung und ideologischen Mobilisierung heraus visuelle Momente, in denen sich die Jungs dem Drill eher mit Ironie entziehen, einfach „ihr Ding machen“. Szenen von „missmutiger Loyalität“, mit der es wohl nicht einfach geworden wäre, „Staat“ und „sozialistische Armee“ zu machen. Diese 14-teilige Serie wird erstmals gezeigt, bislang war stets nur eine einzige Aufnahme gedruckt worden, das „Pfötchenzeigen“, die Kontrolle sauberer Hände durch Vorgesetzte beim Morgenappell.[7]

Katalin Krasznahorkai möchte als Kuratorin die künstlerische Arbeit von Glanz vor einer allzu raschen Einordnung als sozialdokumentarische Langzeitbeobachtung schützen. Sie hebt mit präziser Licht- und Wandgestaltung im großen Ausstellungsraum die jeweiligen Bildsprachen der Serien hervor, gibt angemessen Abstand für eine entspannte Wahrnehmung der Fotografien als Bildkunst. Unaufdringliche Blickachsen laden ein zum vergleichenden Hin- und Herlaufen, lassen dabei einzeln porträtierte Arbeiter:innen auch in den großformatigen Gruppenbildern der Schichtkollektive wiederentdecken – und umgekehrt.

Ausstellungswände mit Fotografien

Blick in die Ausstellung, Überblick, Foto: BKG, Nadine Redlich ©

Artefakte und Erinnerungserzählungen

Mit einer Installation von vielleicht 80 Kopftüchern der „Kohlefrauen“ wird auch die umfangreiche Artefakte-Sammlung der Künstlerin auf anmutige Art in Szene gesetzt. Hoch über der Ausstellung hängen die bunten Kopftücher, mit denen die Arbeiterinnen ihr Haar vor dem überall eindringenden Kohlenstaub zu schützen versuchten. Die unterschiedlich gemusterten, sehr beliebten Tücher aus der Textilindustrie der DDR machten die Frauen auch dann wiedererkennbar, wenn der Staub ihre Gesichter ununterscheidbar schwarz gefärbt hatte. Krasznahorkai gelingt es mit der Referenz auf die „Waschkauen“, die Umkleideräume im Bergbau, in denen die Arbeitskleidung der Kumpels mit einem Kettenaufzug unter die Decke gezogen wird, auch die globale Bergbaukultur ins Spiel zu bringen. Das hier verhandelte Thema „Transformation“ bzw. industrieller Strukturbruch ist umfassender als „ostdeutsch“ oder „Brandenburg“. Und betont werden die Situationen und die Rollen von Frauen in dieser sozialistischen Kohleindustrie.

Bunte Kopftücher hängen von der Decke.

Die bunten Kopftücher der Kohle-Arbeiterinnen, Foto: BKG, Nadine Redlich ©

Auf unaufgeregte Weise macht die Ausstellung die multimediale Sammlungspraxis von Christina Glanz erkennbar: Die Fotografin hatte 1997 auch Interviews geführt mit Frauen, die arbeitslos geworden waren oder sich umschulen ließen. Sie erzählten ihr von ihrer Lebenszeit „in der Kohle“ und den erneut harten Jahren der Um-, Auf- und Abbrüche, die heute mit dem Stichwort „Transformation“ ein merkwürdig technisches, auch normalisierendes Label erhalten haben. Besucher:innen sind eingeladen, sich ein Radio-Feature anzuhören, in dem die Autorin Margit Miosga geschickt die Stimmen und Perspektiven aus den Aufzeichnungen von Glanz zu einer Collage verwoben hat.

Wer dann unter dem Bluetooth-Kopfhörer die Erinnerungserzählungen der Kohle-Arbeiterinnen im Ohr hat und noch einmal die Fotografien an den Wänden wahrnimmt, kann aufmerksamer werden für Dissonanzen, die nicht ins dominante retrospektive Selbstbild von unerschütterlicher Solidarität und einem fast-familiären Brigadeleben passen. Die „Kohlefrauen“ erinnern sich an den ruppigen Ton untereinander und betonen, dass niemand nachtragend gewesen sei. Gewiss, auf „Vitamin B“ war man angewiesen, damit die Schichten mal gewechselt werden konnten zugunsten von Familienausflug oder für dringende Einkäufe.

Die Anekdoten lassen soziale Ungleichheit und unterschiedlich ausgeprägte Bereitschaft anklingen, den Sozialismus mit Lohnarbeit und Zusatzschichten zum weltweiten Sieg zu führen. Eine Frau erzählt noch stets empört von „Bummlern“, für die man die halbe Arbeit mitmachen musste „bis zum Umfallen“. Auch Frauen mussten „trinkfest“ sein, jede Frau „ihren Mann stehen“. Das Beherrschen der Maschinen machte in der Erinnerung wieder stolz, ließ aber nicht vergessen, dass diese schwere Arbeit oft genug an die Grenzen des Leistbaren gegangen war im Lärm und Kohlenstaub, der bis in jede Pore drang: „Ich war immer kaputt“, „ich war nie sauber“, es war „immer laut.“ Über den Streit und Frust und das Verhandeln über politische Vorgaben im „Sozialistischen Wettbewerb“, die in keinem Industriebetrieb der DDR fehlten, ist in den ausgewählten Interviewtakes kaum die Rede.

Das fotografische Konzept von Christina Glanz will und kann selbstverständlich nicht „die ganze“ Arbeits- und Lebenswelt sichtbar machen. Gerade darum sind diese Interviews als erweiterter Reflexionsraum für die Bildbetrachtung erhellend. Denn auch die Individuen in den Gruppenporträts der verschiedenen Schichten finden durchaus unterschiedliche Nähe zueinander; manche „Schlipsträger“ und Verwaltungsmitarbeiter:innen halten Distanz zu den „Malochern“. Die einen stehen etwas isolierter am Rand, andere suchen den Vordergrund.

Es ist das Verdienst und die Kunst von Christina Glanz, dass sie all ihren Protagonist:innen Raum zur Selbstdarstellung gab und keine strenge Regie führte – so kommen visuelle Erfassung des Sozial-Strukturellen und individueller Ausdruck in ein spannungsvolles Verhältnis. Glanz sah sich wohl eher als dienende Akteurin, blieb auf emphatische Distanz bedacht, blieb staunende, neugierige Beobachterin mit ihren Platten-, Mittelformat- und Kleinbildkameras. Sie war keine teilnehmende Feldforscherin, aber geschätzte Zeitgenossin, der die Arbeiter:innen aus guten Gründen Vertrauen schenkten.

 

Porträts von Gekündigten

Vor allem die Porträtbilder der gekündigten Arbeiter:innen lassen erkennen, dass Vertrautheit die Grundlage für die Bilder schuf. Diese Bilder bezeugen noch einmal die große Gabe der Fotografin, für Andere in ihrer besonderen Art einfach da zu sein, mit ihrer Kamera und oft auch ohne. Anders lässt sich kaum erklären, dass sich Menschen in dieser entwürdigenden, beschämenden Situation der Entlassung zu einem Porträtfoto bereitfanden. Für mich erklärt das auch das in den Porträts erkennbare Ringen um Stolz und Würde, trotz alledem. Sogar leise Ironie ist in den Gesichtern und Gesten der „Entlassenen“ zu erahnen – als bilde man eine kleine verschworene Gemeinschaft, im stillen Einverständnis über das Groteske und zugleich Tragische der Situation, die die Arbeiter:innen mit der unverhofft anwesenden Fotografin teilten. Gewiss, man erahnt auch Wut und Bitternis, Verlorenheit und Trauer, Sorge und Angst. Es ist diese Gemengelage von emotionalem Ausdruck, die die Gekündigten mit dem rein-weißen Briefumschlag in der Hand für das Foto offenbaren und preisgeben – wie bei einer Art Gabentausch mit der Fotografin.

Eine Frau (links) und ein Mann (rechts) in einem Büro mit einem Umschlag in der Hand.

Die Kündigungen 1993, Foto: Christina Glanz ©

Eine Frau (links) und eine Frau (rechts) in einem Büro mit einem Umschlag in der Hand.

Die Kündigungen 1993, Foto: Christina Glanz ©

Ein Mann (links) und eine Frau (rechts) in einem Büro mit einem Umschlag in der Hand.

Die Kündigungen 1993, Foto: Christina Glanz ©

Eine Frau (links) und ein Mann (rechts) in einem Büro mit einem Umschlag in der Hand.

Die Kündigungen 1993, Foto: Christina Glanz ©

Bei der Eröffnung am 28. September 2023 waren die Ausstellungsräume im Potsdamer Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte gedrängt voll. Unter den vielen Gästen waren auch einige der porträtierten Arbeiterinnen und ihre Kinder und Freunde – sie sind bis heute dankbar für diese Fotografien. In der begeistert aufgenommenen Eröffnungsrede von Grit Lemke war ein rebellisch-wütender Grundton zu vernehmen, der im „wir“ formuliert war: „Und wenn wir von historischen Momenten sprechen, in denen UNSERE NATIONALE Geschichte liegt, dann ganz bestimmt in diesem.“ Gemeint waren die Fotos, in denen die ostdeutschen Arbeiter:innen in Lauchhammer ihre Entlassungsbriefe in den Händen halten. „In diese Gesichter sollte sehen, wer nach den Ursachen einer verhängnisvollen politischen Entwicklung, gerade im Osten, der letzten Jahre fragt“, forderte die 58-jährige Autorin, Filmemacherin und Ethnologin, laut „Spiegel“ die vielleicht „wichtigste Stimme dieser Generation Ost“.[8]

Was wurde für sie und andere sichtbar? Grit Lemke erkennt in den Porträts vor allem „Resignation, ungläubiges Erschrecken, hilfloses Verstummen, aber auch Trotz und manchmal auch unverhohlene Wut“.[9] Der Journalist Andreas Fritzsche sah das im „Neuen Deutschland“ am 28. September 2023 ähnlich: „Wütend, erschüttert, den Tränen nah, verzweifelt, entmutigt, nachdenklich – diese Gefühlsregungen sind den Mienen der einzelnen Personen abzulesen.“ Im TV-Nachrichtenmagazin des RBB wurde die Kuratorin Katalin Krasznahorkai zitiert.[10] Sie macht in diesen Aufnahmen vor allem „starkes Selbstbewusstsein“ aus und betont die Kraft der Porträtierten – gegen die Verzweiflung, die viele heute in den präsentierten Porträts zu erkennen glauben.

Eigentlich weiß man ja, dass Gesichter nur scheinbar Einsicht ins Innere von Menschen geben, dass insbesondere fotografierte Gesichter immer auch changierende Flächen sind für Wünsche und Projektionen der Betrachter:innen. Insofern sollte sich vielleicht besser niemand so sicher sein, was genau das Unergründliche dieser Porträtbilder repräsentiert? Mir scheint es wichtig, die mediale Situation der Aufnahme im Bewusstsein zu halten. Auch darum glaube ich, vor allem ein Ringen um Würde und stolze Haltung vor der Kamera zu erkennen. Was wäre für diese Situation eigentlich der richtige, der passende, zu überliefernde Gesichtsausdruck? Hier und da blitzt amivalente, vielleicht trotzige Empörung auf über die Situation von demütigender Entlassung und Fotografiertwerden zugleich, auch Bitterkeit, Selbstmitleid – und der zaghafte Wunsch nach Anteilnahme, die mit den Fotos bis in die Gegenwart reicht.

Wir werden durch die Momentaufnahmen mit einer schwer fassbaren Situation konfrontiert, in der Arbeiter:innen direkt an der Schwelle standen hin zur neuen, im Lebensentwurf dieser „Werktätigen“ aus der DDR nicht vorgesehenen Rolle als Arbeitslose im vereinigten Deutschland. Vor dem Hintergrund dieses großen Vertrauensbeweises gegenüber Christina Glanz formulieren ihre Blicke und Körperhaltungen auch die Frage, die sich imaginär an uns und alle künftigen Betrachter:innen dieser Porträtfotografien richtet: Was werdet ihr mit diesem Bild von mir beginnen? Wie seht ihr mich und meine Situation mit dem Abstand von Jahrzehnten? Hat meine Lebens- und Arbeitserfahrung noch eine Bedeutung für euch?

 

Maschinenplätze als Grabstätten  

Als Christina Glanz 1995 wieder über das Gelände mit den inzwischen geschleiften Industrieanlagen wanderte, entdeckte sie auch die Überreste vom dem, was einst die Arbeitsplätze waren für die vielen „Maschinisten“: Betonfundamente und rostende Stümpfe von Metallträgern, mit denen die schweren Maschinen im Boden verankert waren. Nach der „Totalsanierung“ waren das die letzten verbliebenen Spuren der Fabriken. „Maschinenplätze“ nennt Glanz in treffender Lakonie die in der Ausstellung präsentierten Schwarz-Weiß-Fotos.[11] Es waren Arbeitsplätze von Menschen, die sie am Ende zum Teil selbst abgerissen haben. Mit den oft rechteckigen „Maschinenplätzen“ lassen sich auch Grabstätten assoziieren, es sind unfreiwillige Mahnmale auch zur Erinnerung an industriell unterworfene Natur und ihre Zerstörung – damit Menschen Wärme und Licht bekommen.

Steinfußboden mit Resten eines Fundaments.

Maschinenplätze, Lauchhammerwerk 1995, Foto: Christina Glanz ©

Das empfehlenswerte, von Julia Wagner/grafikanstalt gestaltete, bei Hatje Cantz verlegte Fotobuch vermag die Ausstellung als Raumerfahrung natürlich nicht zu ersetzen. Vor den großformatigen Abzügen von Plattenkamera-Aufnahmen sind im Potsdamer Ausstellungsraum faszinierende Grauabstufungen zu betrachten, die man im Katalogdruck vermisst. Gleichwohl, auch das Fotobuch hat Struktur und Ansprüche der Ausstellung überzeugend ins Medium Buch übertragen. Die auch ins Englische übersetzten kurzen Texte von Glanz und Krasznahorkai, das Essay der Kunsthistorikerin und Fotokuratorin Sonia Voss und die Auszüge aus den Interviews mit den „Kohlefrauen“ bieten anregende Deutungsansätze, neue Quellen und Vertiefungschancen. Und sie machen neugierig auf weitere Werke aus den Händen der Fotografin. Mit Christa Wolf[12] lässt sich sagen: Die mit diesen Fotografien sichtbar gehaltenen Momente vergangener Zeit sind nicht tot, nicht einmal vergangen. Christina Glanz’ würdigende Sichtweisen und ihre fragende Grundhaltung erlauben es nicht, sich dieser Geschichte gegenüber fremdzustellen oder sie als Problem von Ostdeutschen aus der Geschichte Europas abzutrennen.

 

 

Die Ausstellung „Christina Glanz. ‚Ich würde sofort wieder in die Kohle gehen …‘ Fotografien einer Transformation“ wird bis 24. März 2024 im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte (HBPG) in Potsdam gezeigt.

https://gesellschaft-kultur-geschichte.de/haus-der-brandenburgisch-preussischen-geschichte/ich-wuerde-sofort-wieder-in-die-kohle-gehen/

 

Katalog: Christina Glanz. „Ich würde sofort wieder in die Kohle gehen …“/ “I would always go back to the coalface …”, hg. von Katalin Krasznahorkai / Brandenburgische Gesellschaft für Kultur und Geschichte, (Hatje Cantz) Berlin 2023, 160 Seiten, 100 Abb., deutsch / englisch, 44 Euro.

 

 

[1] Ausstellungskatalog der 3. Porträtfotoschau der DDR, hg. von der Gesellschaft für Fotografie im Kulturbund der DDR, Ost-Berlin 1986, S. 12; Schaufenster. Im Angebot: 23 Prosatexte. Mit 20 Fotografien von Christina Glanz, hg. von einem „Lektorenkollektiv“ des Verlags der Nation, Berlin 1989; DDR Frauen fotografieren. Lexikon und Anthologie, hg. von Gabriele Muschter, West-Berlin 1989, S. 60-63; Schau ins Land. Ein Foto-Lese-Buch, hg. von Günther Drommer (Fotoredaktion: Roger Melis), Berlin/Weimar 1989. Die Arbeiten von Glanz finden sich auf S. 20 bis 23 sowie S. 24, 71, 135 oben und 219 oben. Das Fotobuch erschien auch als Lizenzausgabe bei Luchterhand in Hamburg.

[2] Christina Glanz während einer Dialogführung mit der Fotografin Tina Bara in der Ausstellung am 16. Januar 2024. Alle folgenden biografischen Erläuterungen verdanke ich Gesprächen mit Christina Glanz im Januar 2023 in Weimar und zuletzt am 15. Februar 2024 in Berlin sowie den hier zitierten Katalogen und Reden.

[3] Ein Teil der in Potsdam präsentierten Werke war erstmals 2010/11 in Christina Glanz’ Ausstellung „Die letzte Schicht. Momentaufnahmen aus dem Lausitzer Revier 1991-1997“ im Lausitzer Bergbaumuseum „Energiefabrik Knappenrode“ bei Hoyerswerda gezeigt worden. Der Kunsthistoriker und Kurator Matthias Flügge hatte damals die Eröffnungsrede gehalten. Bereits 1998 hatte Glanz Konzepttexte formuliert, die unveröffentlicht blieben, jetzt aber, 25 Jahre später, im Katalog von Hatje Cantz überarbeitet zur Geltung kommen.

[4] „Im Zwischenland“ war der Titel der ersten Ausstellung mit Fotografien aus dieser Serie, die das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) 2019/20 in den Räumen ihrer Bibliothek gezeigt hat: https://zzf-potsdam.de/de/veranstaltungen/fotoausstellung-im-zwischenland-0 [10.03.2024]. Eine erneute Auswahl aus dieser Serie von Christina Glanz mit Fokus auf Frauen präsentierte 2021/22 die Ausstellung „An den Rändern taumelt das Glück. Die späte DDR in der Fotografie“ in der ACC-Galerie Weimar: https://acc-weimar.de/ausstellungen/a/an_den_raendern_taumelt_das_glue-2005.html [10.03.2024]. Im Frühjahr 2024 erscheint ein gleichnamiger Foto- und Essay-Band bei M BOOKS Weimar. In der ACC-Galerie Weimar entdeckte Inka Schube diese Serie und brachte als Kuratorin für Fotografie und Medienkunst am Sprengel-Museum Hannover kürzlich den Ankauf dieses Werks von Christina Glanz für die Fotosammlung des Kunstmuseums auf den Weg.

[5] Angaben nach Lauchhammer. Demontierte Geschichte. Fotografiert von Christina Glanz, Katalogbroschüre zur gleichnamigen Ausstellung zum Deutschen Umwelttag, Frankfurt a.M. 1992, S. 4.

[6] Zitiert nach: Lauchhammer. Demontierte Geschichte, S. 1.   

[7] Das isolierte Foto fand sich auch im Foto-Lese-Buch, Schau ins Land, S. 25.

[8] Markus Deggerich, Auferstanden aus Ruinen. Seit dem Pogrom im Herbst 1991 ist Hoyerswerda für viele das Synonym für Rechtsextremismus. Die Autorin Grit Lemke kämpft um einen differenzierteren Blick auf ihre Heimat. Ein Besuch, in: Der Spiegel, 19.09.2021.

[9] Ich danke Grit Lemke herzlich für die Manuskriptfassung ihrer Eröffnungsrede.

[10] Michaela Gericke, Kohle-Ausstellung in Potsdam. Die Geschichte einer Transformation, RBB-Sendung vom 28.09.2023, online https://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2023/09/foto-ausstellung-kohle-potsdam-transformation-fabriken.html [10.03.2024].

[11] Christina Glanz hat auch Farbfotografien von diesen Überresten der Industriekultur geschaffen, die ihre ästhetische Faszination betont erkennen lassen. Die Potsdamer Ausstellung und der Katalog verzichten darauf zugunsten der politischen Dimensionen.

[12] Christa Wolf begann ihren Roman „Kindheitsmuster“ (1976) mit den Sätzen: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“

 

 
 

 

Zitation


Axel Doßmann, „Lauchhammer ist mein New York“. Christina Glanz’ Fotoporträts ostdeutscher Kohle-Arbeiter:innen in den Jahren postsozialistischer Massenentlassungen, in: Visual History, 13.03.2024, https://visual-history.de/2024/03/13/dossmann-lauchhammer-ist-mein-new-york-christina-glanz-fotoportraets/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2736
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