Fotobuch: Ukraine 2004-2024: Wir hatten ein normales Leben

Eine Rezension

Farbiges Buchcover mit dem Foto eines Mannes hinter einer Scheibe und Schrift

Cover: Ukraine 2004-2024: Wir hatten ein normales Leben, hg. v. David Rojkowski, Agentur Focus u. Landeszentrale für politische Bildung Hamburg, unter Verwendung eines Fotos von Emre Caylak: Evakuierung der Menschen aus Berdjansk und Mariupol mit Bussen, Saporischschja, 1. April 2022. Hartmann Books, Stuttgart 2025 ©

Normalität ist kein statisches Konzept. Oft bemerken wir erst im Rückblick, wie unmerklich sich unser Wertekompass verschoben hat. Die Normalität von gestern entspricht selten jener von heute. Wir erleben das gegenwärtig in aller Deutlichkeit: Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass Desinformation, Populismus und Polarisierung Teil der politischen Landschaft geworden sind. Was uns einst erschütterte, lässt uns heute oft nur noch mit den Schultern zucken. Normalität verändert sich nicht abrupt – sie verschiebt sich, leise, kaum wahrnehmbar, bis das zuvor Undenkbare in den Alltag eingesickert ist.

Der nächtliche Luftalarm ist irgendwann wie das plötzliche Brummen des Kühlschranks – ein Geräusch, das man registriert, aber nicht mehr hinterfragt. Man kann ja nicht jede Nacht runter in den Keller. Ich habe das in der Ukraine selbst erlebt. Wenn man das realisiert, dann ist das der Moment, in dem sich das Unfassbare mit dem Gewöhnlichen verbindet und eine neue, irritierende Normalität bildet.

Deshalb ist dieses Buch so wichtig: Es dokumentiert jene alte Normalität, die es in Charkiw, Lwiw, Kyjiw oder Odessa einmal gab – und setzt sie in Beziehung zu der neuen Normalität, die seit 2014 und besonders seit 2022 in der Ukraine Realität geworden ist.

Gleich zu Beginn, nach einer fundierten Einordnung des russisch-ukrainischen Konflikts, findet sich im Buch die Luftaufnahme einer Gruppe junger Menschen, die am Flussufer in Kyjiw nach Erholung suchen. Eine Szene aus dem Jahr 2009, die einen Alltag zeigt, der einmal existierte. Ein Bild einer verschmutzten, zugleich anmutigen Idylle, das länger fesselt, als man zunächst vermutet.

Farbfoto: Blick von oben auf fünf Personen, die sich in Badekleidung am verschmutzten Ufer eines Flusses aufhalten.

Relaxen am Flussufer, Kyjiw 2009. Fotograf: Kirill Golovchenko © mit freundlicher Genehmigung

Das Buch zeigt mit seinen Bildern nicht das Spektakuläre des Krieges, sondern seine Ränder, seine Nebenwirkungen, seine Stillstände: Bergarbeiter bei der Zigarettenpause. Marktfrauen über Fleischtheken. Nudisten am Strand von Odessa. Ein Laubenpieper, der seine Kokardenblumen wässert. Das scheinbar Banale wird hier zum Dokument des Normalen.

Auch deshalb ist dieses Buch so wichtig: weil es die Perspektive verschiebt. Die meisterhaft komponierten Fotografien zeigen Alltägliches, das jedoch Spuren der Erschütterung in sich trägt. In den Gesichtern liegt jene fragile Spannung zwischen Angst und Beharrlichkeit, zwischen Müdigkeit und Zuversicht. Dieses Spannungsfeld prägt das Buch und verleiht ihm eine besondere Eindringlichkeit.

Farbfoto von sieben nackten Männern in einem gekachelten Raum, die dort auf einer Bank sitzen.

Bergarbeiter der Steinkohlemine Trudowskaja nach der Schicht, Donezk, 2009. Fotograf: Sergey Maximishin © mit freundlicher Genehmigung

Die 18 Fotograf:innen des Bandes haben den Alltag mit großer Sensibilität festgehalten. Das Ergebnis ist eine Normalität, die dem Betrachter, der Betrachterin Raum lässt für das, was außerhalb des Bildausschnitts geschieht.

Und auch deshalb ist dieses Buch so wichtig: weil es unweigerlich zum Nachdenken zwingt. Man steht gedanklich unmittelbar neben der Frau mit der schwarzen Federboa, die Sebastian Backhaus auf der Flucht aus Irpin fotografierte – im Augenblick des Übergangs. Welches Schicksal sie hinter sich lässt, welches vor ihr liegt – diese Fragen stellen sich geradezu von selbst.

Porträt einer Frau an einer Straße

Auf der Flucht aus Irpin, 2022. Fotograf: Sebastian Backhaus © mit freundlicher Genehmigung

Formal besonders hervorzuheben ist das Porträt eines ukrainischen Soldaten in Irpin. Der Hund an seiner Seite, der Soldat – beide in gleicher Blickrichtung, gleicher Spannung, vielleicht gleicher Angst? In dieser stillen Übereinstimmung begegnen sich zwei Lebewesen auf eine Weise, die tief berührt. Ob der Hund die Tragik der Situation erfasst, bleibt offen – und gerade diese Ungewissheiten machen das Bild so stark.

Ukrainischer Soldat, Irpin, 29. März 2022. Foto: Daniel Berehulak für die New York Times © mit freundlicher Genehmigung

Ebenso bewegend ist Alessandro Pensos Fotografie der Familie, die am Bahnhof von Lwiw Abschied voneinander nimmt: alle Sorgen, alle Ängste, alle Zärtlichkeit – komprimiert in einem einzigen Augenblick.

Aus dem Zugfenster eines blau-weißen Zuges blicken eine Frau und ein Kind zu einer Person, die auf dem Bahnsteig zurückbleibt.

Eine Familie nimmt Abschied. Lwiw, 10. März 2022, Fotograf: Alessandro Penso © mit freundlicher Genehmigung

Mit dem Blick auf das vermeintlich Unspektakuläre entfaltet das Buch eine besondere Tiefe. Darin liegt kein Eskapismus, sondern eine Form des Widerstands – ein Beharren auf Menschlichkeit. Und auch deswegen ist dieses Buch wichtig: weil es zeigt, dass das Weiterleben, das Weitermachen, selbst ein Akt des Widerstands sein kann – wie bei Dr. Rieux in Camus’ Pest: Er behandelt weiter, nicht weil ein Erfolg sicher ist, sondern weil die Verantwortung notwendig ist. Fotografie kann auch eine solche Verantwortungsübernahme bedeuten: ein kleines, aber wesentliches Gegengewicht zum Krieg, zur Verwüstung, zum Absurden.

Das Bild des Kindes, das in Kyjiw in die Luft gehoben wird, während im Hintergrund erbeutete russische Panzer ausgestellt sind, erscheint in seiner grotesken Gleichzeitigkeit surreal – ein Zeugnis eines nahezu übermenschlichen Willens zum Weitermachen.

Farbfoto eines Mannes in einer Straße, der ein Kind in die Luft hebt; hinter ihm ein Platz mit zerstörten Panzern.

Ein Kind in Kyiv, August 2022. Fotografin: Justyna Mielnikiewicz © mit freundlicher Genehmigung

Schließlich ist das Buch auch aus einem weiteren Grund bedeutsam: Es verweist in die Zukunft. In dem Band „Ukraine 2004-2024: Wir hatten ein normales Leben“  versammelt der Herausgeber David Rojkowski Arbeiten von achtzehn internationalen Fotograf:innen, die das Land seit der „Orangenen Revolution“ begleitet haben. Doch der Prozess ist nicht abgeschlossen. Viele der Fotograf:innen werden weiterarbeiten. Die Auseinandersetzung mit der alten und neuen Normalität eines Landes, das sich immer wieder neu konstituieren muss – zwischen Aufbruch und Krieg, Erinnerung und Verlust, Hoffnung und dem Wunsch nach einem normalen Leben –, wird fortgesetzt werden. Das Bild der Physio- und Ergotherapeutin aus Lwiw neben einer neu entwickelten orthopädischen Gehhilfe lässt erahnen, was der Ukraine noch bevorsteht.

Farbfoto einer jungen Frau in einem Sportstudio mit einem Gehroboter neben sich

Roksolyana ist Physio- und Ergotherapeutin in Lwiw, 2024. Fotograf: Jonas Wresch © mit freundlicher Genehmigung

Gibt es Kritik am Buch? Eigentlich kaum. Die Heterogenität der beteiligten Fotograf:innen – ukrainische, deutsche, französische, US-amerikanische – ist eine große Stärke, zugleich aber eine Herausforderung. Sie führt zu einer Fragmentierung der Erzählung, die weder eindeutig dokumentarisch noch rein künstlerisch ist. Der Band oszilliert zwischen Reportage und Reflexion, zwischen Zeugenschaft und künstlerischer Konstruktion. Zwischen dokumentarischer Intention und kuratorischer Rahmung schleicht sich eine spürbar westlich geprägte Perspektive ein. Obwohl ukrainische Stimmen – etwa durch die Texte und Interviews der Kuratorin Kateryna Radchenko – präsent sind, bleibt der Blick insgesamt von außen gelenkt.

Das ist kein Vorwurf, sondern Teil einer größeren Debatte über die Repräsentation von Krieg in der Kunst: Wer hat das Recht, Bilder zu zeigen? Wer wählt sie aus? Und wie verändert der westliche Kunstbuchkontext ihre Bedeutung?

Diese Fragen habe ich mir im Rahmen meines Fotoprojekts Bizarre Normality selbst gestellt, für das ich seit 2023 regelmäßig nach Lwiw reise, um ukrainische Künstlerinnen und Künstler zu porträtieren. Meine Kamera belichtet die Szenen natürlich auch aus meiner persönlichen Perspektive, die von meiner Herkunft, meinen Erfahrungen, meinen persönlichen Erwartungen geprägt ist.

Das vorliegende Buch selbst öffnet Raum für diese Ambivalenzen. Es lädt dazu ein, die Funktionsweise fotografischer Zeugenschaft im Spannungsfeld von Ästhetisierung und Dokumentation zu reflektieren.

„Ukraine 2004-2024: Wir hatten ein normales Leben“ ist so wichtig, weil es (1) eine vergangene Normalität dokumentiert und sie mit einer neuen in Beziehung setzt, weil es (2) den Blickwinkel des Betrachters verändert und ihn (3) zum Denken anregt, weil es (4) die alltägliche Beharrlichkeit der Menschen als Form des Widerstands sichtbar macht und weil es (5) den Blick in die Zukunft richtet.

 

 

Ukraine 2004-2024: Wir hatten ein normales Leben
herausgegeben von David Rojkowski, Agentur Focus und der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg; Texte von Sebastian Backhaus und Frank Golczewski; Interview von David Rojkowski mit Kateryna Radchenko; Deutsch/Englisch, 120 Abbildungen, Hartmann Books, Stuttgart 2025, 38,- €

 

 

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