Ein antisemitisches Gespenst im Advent
Der Adventskalender der „Deutschen Apotheker Zeitung“
Mit einer Figur, die in Reinform klassische Merkmale des modernen Antisemitismus trägt, rechnet man im Adventskalender der „Deutschen Apotheker Zeitung“ (DAZ) zunächst einmal nicht. Hat sich ein Gespenst aus der Vergangenheit in die Gegenwart verirrt? Oder liegt das Problem im Auge der Betrachter*in, in einer Déformation professionelle, die in einer aktuellen Karikatur ein altes antisemitisches Bild sieht und so Vergangenheit und Gegenwart zu schnell in einen Topf wirft? Der Historiker David Nirenberg warnt in seinem Buch „Anti-Judaismus“ vor solchen vereinfachenden Kontinuitätserzählungen des Antisemitismus: „Wir wissen […], dass Historiker uralte Haken finden können, um darauf neue Hüte zu hängen.“[1] Betrachtet man jedoch den „DAZ-Adventskalender“ von 2019, hat man den Eindruck, die Apotheker*innen hätten den uralten Haken der Judenfeindschaft gefunden, um Probleme ihres Standes daran aufzuhängen.
Eine Geisterbahn versinnbildlicht im Adventskalender der DAZ die Lage der Apotheker*innen in Deutschland. Drei Wagen sind auf dem Weg durch das Gruselkabinett. Manövrierunfähig jagen sie von einem Monster zum nächsten Ungeheuer. Im ersten Wagen, mit dem roten Apotheken-A, sitzen schreckensbleich eine blonde Apothekerin und ein ergrauter Kollege, beide im weißen Apothekerkittel. Ihnen folgen in einem kleineren Wägelchen ein blondes, grinsendes Mädchen und eine fröhliche Schnecke, auf dem Wagen stehen die Namen Gerda und Armin. Hinter ihnen kommt in einem weiteren Wagen die verschreckte PTA (Pharmazeutisch-technische Assistentin) um die Kurve, auch sie ist blond. Über ihr lauert ein riesiger gelber Krake. Rechts neben ihr baumelt ein abgeschnittener blonder Zopf, den ein grinsendes Gespenst in den Händen hält. Hinter ihr rückt ein Schnellzug auf, der wie ein Haifisch aussieht.
Den Horror, die Feinde und Gefahren der deutschen Apotheker*innen verkörpern (von rechts oben, gegen den Uhrzeigersinn): ein großer Krake, KraKa steht auf seinem Hut; die Krankenkassen; ein Skelett, das ein Fähnchen samt Totenglocke schwingt, die Aufschrift „RxVV“ verweist auf das Versandverbot verschreibungspflichtiger Arzneimittel; das Gespenst mit dem abgeschnittenen blonden Zopf; auf Lieferengpässe deutet Frankensteins Monster hin; neben ihm der teuflische Gesundheitsminister Jens Spahn und sein Vor-Ort-Apothekenstärkungsgesetz; das schlafende Krokodil Große Koalition; der Krake Bürokratie; die sich an die Gurgel gehenden Kundenzeitschriften; ein glühender Verbrennungsofen, aus dem ein kleiner Teufel grüßt – die Schrift weist auf den Skandal um das verunreinigte Medikament Valsartan hin. Über dem Ofen und unter einem Galgenstrick schwebt eine Figur mit Anzug, Weste, Zylinder, Hakennase, Vampirzähnen und Fledermausflügeln. Auf dem Zylinder steht Versandhandel. Aus einem Geldsack schüttet sie Boni aus.
Der Adventskalender identifiziert den pharmazeutischen Versandhandel aus dem Ausland mit einer Karikatur des jüdischen Kapitalisten. Dabei handelt es sich um eine Variante des seit dem 19. Jahrhundert weitverbreiteten Klischees, in dem anscheinend reiche Menschen durch die visuellen Sekundärattribute Weste, Anzugjacke, Zylinder und Geldsack als Juden markiert werden. Dieses Bild ist seit dem 19. Jahrhundert massenhaft verbreitet. Man findet es in Karikaturzeitschriften des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, wie dem „Münchener Punsch“ und dem Wiener „Kikeriki“, auf Bilderbögen, Judenspottpostkarten etc.[2] Die noch viel älteren Körperstereotype der Hakennase und leicht verdrehten Arme und Beine sind Teil dieses Klischees – so auch im DAZ-Adventskalender.
Aus dieser Bildtradition formte der „Stürmer“-Zeichner Philipp Rupprecht im „Giftpilz“, dem auflagenstarken „Stürmerbuch für Jung u. Alt“, eine ikonische Figur. Die nationalsozialistische Variante des antisemitischen Klischees ist in einer Abwärtsbewegung gezeichnet. Der Zylinder liegt schon am Boden.
Die Zeichnung im DAZ-Adventskalender weicht vom klassischen Bild in einigen Aspekten ab. Eine ähnliche bildliche Darstellung von einem jüdischen Kapitalisten mit Fledermausflügeln, Hakennase und Geldsack, allerdings ohne Vampirzähne, findet sich in dem antisemitischen „Politischen Bilderbogen“ Nr. 20 „Der Teufel in Deutschland“, erschienen im Verlag der Dresdner Druckerei Glöß.
Im DAZ-Adventskalender verschmilzt das Bild des jüdischen Kapitalisten mit einem Vampir, auch ein alter Bekannter aus der antisemitischen Metaphorik: Er steht für die Figur des jüdischen Wucherers: Er saugt seinen Opfern das Blut aus den Adern, so wie der Wucherer den Schuldner finanziell und existenziell ausblutet.
Der Historiker und Archivar Alex Bein stieß bei seinen Arbeiten zur Figur des „jüdischen Parasiten“ auf den Vampir als eine von zahlreichen Varianten entmenschlichender Metaphern für Juden: „Der Teufel, der blutsaugerische Wucherer und Ausbeuter, der Weltverschwörer im Sinne der ‚Protokolle der Weisen von Zion‘, und die mythische Figur des Vampirs werden hier mit dem ihnen zunächst völlig fremden Begriff des Parasiten synonym gebraucht.“[3]
Er bezieht sich dabei auf Artur Dinters sexualantisemitischen Bestseller „Die Sünde wider das Blut“, dessen erster Band 1917 erschien. Darin heißt es: „Wenn es dem deutschen Volke nicht gelingt, den jüdischen Vampir, den es ahnungslos mit seinem Herzblute großsäugt, von sich abzuschütteln und unschädlich zu machen […], so wird es in absehbarer Zeit zugrunde gehen.“[4] In „Mein Kampf“ führt Adolf Hitler diesen Gedanken so fort, dass er mit dem Tod der Juden endet: „Das Ende aber ist nicht nur das Ende der Freiheit der vom Juden unterdrückten Völker, sondern auch das Ende dieses Völkerparasiten selbst. Nach dem Tode des Opfers stirbt auch früher oder später der Vampir.“[5]
Beim genaueren Betrachten der Zeichnung im DAZ-Kalender fällt auch der Aufnäher auf der linken Brustseite mit der Aufschrift „BVDVA“ (Bundesverband Deutscher Versandapotheken, also der Konkurrenz) auf. Immerhin ist der Aufnäher nicht gelb, doch sitzt er an der Stelle, an der ab September 1941 im Deutschen Reich der Judenstern getragen werden musste. Über der Figur hängt ein Galgenstrick. Er muss nicht in Zusammenhang mit der Figur gesehen werden, doch er lässt fragen: Wer oder was soll hier gehängt werden? Oder handelt es sich bloß um ein weiteres Requisit der Geisterbahn?
Nun stellt sich die Frage, wie es zu dem Einzeichnen antisemitischer Motive in den Adventskalender kam. Was sucht das Gespenst des jüdischen Kapitalisten und Vampirs in einer Szenerie, die die Lage der deutschen Apotheken dramatisiert? Die Ähnlichkeit mit der Zeichnung aus dem „Politischen Bilderbogen“ um die Wende zum 20. Jahrhundert führt zu ähnlich gelagerten Kontexten. Damals stellte man in der antisemitisch grundierten Warenhausdebatte dem deutschen Kaufmann als negatives Gegenbild den jüdischen Wucherer und Warenhausbesitzer gegenüber, wie Michael Wildt schreibt: „Gerade jene Mittelschicht aus Handwerkern, Kaufleuten und kleinen Gewerbetreibenden, die sich durch die Industrieproduktion, neue urbane Distributionsformen wie Warenhäuser und veränderte Kredit- und Kapitalmärkte in ihrer Existenz bedroht fühlten, waren für die antisemitische Interpretation des rasanten gesellschaftlichen Wandels ebenso anfällig wie die ländliche Bevölkerung, deren bisherige agrarische Produktions- und Lebensweise von kapitalistischer Modernisierung, Urbanisierung und dem Weltmarkt nachhaltig verändert wurde.“[6]
In Phasen ökonomischer und sozialer Umwälzungen bietet die antisemitische Welterklärung einen personifizierten Feind. Das Warenhaus war ein Symbol der verhassten Moderne, die als Werk von Juden galt.[7] In den 1920er Jahren wurde diese Argumentation zunehmend von der NS-Propaganda übernommen und verbreitet. Einzelhandel und Familienökonomie galten als deutsch und ehrlich, bedroht vom internationalen jüdischen Finanzkapital. Auch die Globalisierung gilt heute manchen als ein Phänomen, in dem Juden eine besondere Machtposition innehaben. Im DAZ-Adventskalender ist es das deutsche Apothekerpaar, das vom herumfliegenden Vampir des Versandhandels bedroht wird – eine Figur, die als jüdisch gezeichnet wird. Bilder und Personalisierungen („die Juden sind schuld“), die Verlustängste und Abwehr der Moderne am Ende des 19. Jahrhunderts spiegeln, finden sich als Wiedergänger in einem Gruselkabinett, das vorgibt, die Lage des deutschen Vor-Ort-Apothekers darzustellen.[8]
Es gibt nun zwei Möglichkeiten: Der oder die Karikaturist/in handelte unbewusst oder bewusst. Unbewusst würde bedeuten, dass dem/der Zeichner/in nicht klar war, dass seine/ihre Figurenkonstellation ein antisemitisches Grundmotiv reproduziert: das ehrliche, arische Apothekerpaar in standesgemäßer Arbeitskleidung gegenüber dem blutsaugenden, Boni- ausschüttenden jüdischen Versandhandelskapitalisten mit Frack und Zylinder. In diesem Fall wäre das antisemitische visuelle Feindbild im Bildgedächtnis der/des Karikaturist*in mustergültig abrufbar gewesen, er oder sie hätte es unreflektiert reproduziert, ohne damit eine judenfeindliche Aussage treffen zu wollen. Die andere Variante ist, dass es sich um ein bewusstes Evozieren antisemitischer Weltbilder durch visuelle Stereotype handelt. Bei rund 20 Prozent der Bevölkerung, die ein solches Weltbild haben, ist das durchaus möglich. Dann wären der abgeschnittene blonde Zopf, die germanischen Namen Gerda und Armin[9] Teil dieses Weltbildes. Und dann wäre es auch besonders ekelhaft, dass unterhalb der als jüdisch markierten Figur ein Verbrennungsofen zu sehen ist.
[1] David Nirenberg, Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, München 2015, S. 470.
[2] Siehe auch Eduard Fuchs, Die Juden in der Karikatur, München 1921, S. 136, 138, 156, 157, 162, 209, 211, 221, 241, 273, 294.
[3] Alexander Bein, „Der jüdische Parasit“. Bemerkungen zur Semantik der Judenfrage, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 13 (1965), H. 2, S. 121-149, hier S. 133, online unter https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1965_2_1_bein.pdf.
[4] Zit. nach Bein, „Der jüdische Parasit“, S. 133.
[5] Ebd., S. 134.
[6] Michael Wildt, Der Begriff der Arbeit bei Hitler, in: Marc Buggeln/Michael Wildt (Hg.), Arbeit im Nationalsozialismus, München 2014, S. 3-24, hier S. 8, online unter https://www.degruyter.com/downloadpdf/books/9783486858846/9783486858846.3/9783486858846.3.pdf.
[7] Zu antisemitischen Ressentiments in der Warenhausdebatte: Thomas Lenz, Konsum und Modernisierung. Die Debatte um das Warenhaus als Diskurs um die Moderne, Bielefeld 2011, S. 159-175.
[8] Die beiden Kraken, die als weiteres Symbol der Globalisierung im Adventskalender zu sehen sind, tragen keine spezifisch antisemitischen Merkmale – anders als bei der Karikatur, die die „Süddeutsche Zeitung“ veröffentlichte und in der der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg als Krake mit Hakennase dargestellt wurde. Kraken aus verschiedenen Epochen und als Tiermetapher unterschiedlicher Herrscher bzw. Systeme finden sich unter: Kate Lyons, German newspaper is accused of anti-Semitic propaganda over cartoon depicting Mark Zuckerberg as big-nosed octopus, in: Mail Online, 25.02.2014, https://www.dailymail.co.uk/news/article-2567167/Cartoon-German-newspaper-depicting-Mark-Zuckerberg-octopus-taking-world-starkly-reminiscent-Nazi-anti-Semitic-propaganda.html. Im Erscheinen: Uwe Lindemann, Der Krake. Geschichte und Gegenwart einer politischen Leitmetapher, Berlin 2020.
[9] Das Akronym Gerda steht für „Geschützter E-Rezept-Dienst der Apotheker“, Armin für „Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen“.
Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: Antisemitische Bilder – Herstellung, Gebrauch, Effekte, hg. von Isabel Enzenbach
Themendossier: Antisemitische Bilder – Herstellung, Gebrauch, Effekte
Zitation
Isabel Enzenbach, Ein antisemitisches Gespenst im Advent. Der Adventskalender der „Deutschen Apotheker Zeitung“, in: Visual History, 23.12.2019, https://www.visual-history.de/2019/12/23/ein-antisemitisches-gespenst-im-advent/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1716
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