Departure Neuaubing
Europäische Geschichten der Zwangsarbeit
„Departure Neuaubing“ ist ein digitales Ausstellungsprojekt des NS-Dokumentationszentrums München zur Geschichte der nationalsozialistischen Zwangsarbeit und ihrer Auswirkungen bis in die Gegenwart. In Form einer interaktiven Web-App wird Geschichte durch künstlerische und erzählerische Formate zugänglich macht.
Digitale Medien bieten die Möglichkeit, Distanzen zu überwinden und transnationale wie transhistorische Verweise und Verknüpfungen aufzuzeigen. Mit der NS- Zwangsarbeit war die Verschleppung von Menschen aus vielen europäischen Ländern verbunden. Auch in München-Neuaubing als einem Zentrum der NS-Rüstungsindustrie (mit der ansässigen Reichsbahn und den Dornier-Werken) wurden Menschen aus den Gebieten der Sowjetunion, aus Polen, der Niederlande, aus Frankreich, Italien und weiteren Ländern zur Arbeit gezwungen.
Das digitale Geschichtsprojekt „Departure Neuaubing“ setzt an diesen historischen Zusammenhängen an und richtet den Blick auf die europäischen Verbindungslinien bis heute. Im Fokus steht dabei auch die Frage, was die historischen Erfahrungen für unsere Gegenwart bedeuten und wie sie über fotografische und filmische Formate zugänglich gemacht werden können.
Ausgangspunkt bildet das Lager der ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerke in Neuaubing, eines der wenigen noch erhaltenen materiellen Zeugnisse der NS-Zwangsarbeit. „Departure Neuaubing“ ermöglicht die partizipative Vermittlung von Wissen über den Ort sowie die geschichtlichen, topografischen und internationalen Zusammenhänge der Zwangsarbeit. In dem digitalen Ausstellungsprojekt wird das Thema Zwangsarbeit aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet; es geht um erzwungene Migration und Ausbeutung, Verlust und Erinnerung, Geschichtsnarrative sowie Kontinuitäten der NS-Zeit.
Hadas Tapouchi: Memory in Practice
Allein im Stadtgebiet München befanden sich während des Zweiten Weltkriegs mehr als 400 Massenunterkünfte für Zwangsarbeiter:innen. Zum Teil wurden Baracken in unmittelbarer Nähe zu Arbeitsstätten oder auf den Firmengeländen errichtet, auch Schulen, Turnhallen oder Gasthäuser wurden zu Unterkünften umfunktioniert. Heute ist von der Vielzahl der historischen Bauten so gut wie nichts mehr sichtbar.
„Departure Neuaubing“ bringt mit einer interaktiven Karte die Orte der Verfolgung und Ausbeutung zurück in das kollektive Gedächtnis der Stadt. Für „Memory in Practice“ erkundete die Künstlerin Hadas Tapouchi 30 dieser Orte. Ihre Fotos machen deren ehemalige Präsenz im Stadtbild erfahrbar. Daran anknüpfend lädt die interaktive Stadtkarte die User:innen der App dazu ein, Veränderungen im urbanen Raum auch selbst zu dokumentieren und zu teilen. So entsteht eine Verbindung zwischen den physischen, historischen Orten und einem digitalen Erinnerungsraum.
Forum DCCA: Fabian Bechtle & Leon Kahane: FREIHAM/NEUAUBING
Bis vor wenigen Jahren markierte das Gelände des ehemaligen Lagers der Reichsbahn in Neuaubing das Ende des Stadtgebiets von München. Der derzeit neu entstehende Stadtteil Freiham erweitert den urbanen Raum und entwirft Vorstellungen vom künftigen Zusammenleben. Dadurch rückt auch die historische Bedeutung der angrenzenden Orte wieder in den Blick: zum einen das 1942 erbaute Zwangsarbeiter:innenlager der Reichsbahn, zum anderen die seit 1938 bestehende „Dornier-Siedlung“, die Wohnraum für die deutschen Arbeiter:innen der in Neuaubing ansässigen Dornier-Werke bot. Gemeinsam mit einem Stadtteilmanager des Neubaugebiets Freiham erkunden die Künstler Fabian Bechtle und Leon Kahane filmisch die Wechselbeziehungen zwischen Geschichte und Gegenwart im Münchner Westen.
Franz Wanner: Mind the Memory Gap
In der mehrteiligen Arbeit „Mind the Memory Gap“ stellt Franz Wanner zwei Orte – Neuaubing und Ottobrunn – nebeneinander, die mit der nationalsozialistischen Rüstungsindustrie verbunden sind. Während an einem Ort die NS-Vergangenheit lange vergessen war und nun ein Erinnerungsort entsteht, wird sie am anderen Ort verdrängt. Im gleichnamigen Film „Mind the Memory Gap“ inszeniert Wanner eine fiktive Guided Tour, in der Geschichte als Vermarktungsstrategie eingesetzt wird, bestimmte Aspekte in Szene gesetzt und andere vernachlässigt werden.
Sima Dehgani: Jewmynka und die verlorene Zeit
In ihrer fotografischen Annäherung spürt Sima Dehgani der Geschichte des ukrainischen Dorfes Jewmynka nach. Im Jahr 1943 wurden fast alle Bewohner:innen des Ortes verschleppt, viele nach München und einige nach Neuaubing. Nach Kriegsende kehrten die meisten von ihnen zurück. Ihr Leben war jedoch niemals wieder wie vorher. Die Fotografin dokumentiert die Geschichten und Erinnerungen sowie aktuelle Lebensrealitäten von Zeitzeug:innen und ihren Familien. Eine besondere Rolle im familiären Gedächtnis nehmen dabei auch Gegenstände und Fotos ein, die für bestimmte Erfahrungen stehen, über die nicht gesprochen wurde. Dehganis Fotoserie vermittelt, dass sich Erinnerungen in vielfältigen Formen bewahren und Objekte Geschichte aktivieren können.
Alex Rühle: München, Monaco, Malgolo – und zurück
Die Geschichte der italienischen Militärinternierten ist heute größtenteils vergessen. Auch eine finanzielle Entschädigung erhielten sie nie. Im Herbst 2021 reisten der Journalist Alex Rühle, der Historiker Paul-Moritz Rabe und die Fotografin Alessandra Schellnegger durch Norditalien, um nach den Erinnerungen ehemaliger Militärangehöriger zu suchen, die während des Zweiten Weltkriegs als Kriegsgefangene Zwangsarbeit in München leisten mussten. Dabei trafen sie auf Söhne und Töchter, die von Trauma, Verlust und Vergessen berichten, aber auch von einem unbeabsichtigten Neuanfang.
Paintbucket Games: Forced Abroad. Tage eines Zwangsarbeiters
Auf Grundlage des Tagebuchs eines ehemaligen niederländischen Zwangsarbeiters haben die Gamedesigner:innen von Paintbucket Games in Zusammenarbeit mit dem NS-Dokumentationszentrum das erste Spiel zum Thema NS-Zwangsarbeit entwickelt. Die Visual Novel „Forced Abroad“ veranschaulicht, was die Zeit als Zwangsarbeiter in Neuaubing für den 19-jährigen Niederländer Jan Bazuin bedeutete. User:innen können den Verlauf des Games durch ihre eigenen Entscheidungen beeinflussen und erfahren dadurch auch etwas über mögliche historische und persönliche Handlungsspielräume. In einem Erinnerungsalbum können Hintergrundinformationen gesammelt werden, die zum Verständnis der komplexen Geschichte beitragen. Die Illustrationen stammen von der Comiczeichnerin Barbara Yelin.
„Departure Neuaubing“ setzt die Geschichte der Zwangsarbeit auf unterschiedliche Weise in Beziehung zur Gegenwart und lädt zur Partizipation ein. Die Web-App nutzt ein breites Spektrum an Medien- und Vermittlungsformaten, um Zugänge für eine möglichst breite Gruppe an User:innen mit unterschiedlichen Vorerfahrungen und Online-Nutzungsgewohnheiten anzubieten. Sie greift aktuelle, in sozialen Netzwerken etablierte Entwicklungen wie Storytelling, Mediatisierung und Medienkonvergenz auf, die den Medienalltag insbesondere junger Menschen bestimmen.
Departure Neuaubing. Europäische Geschichten der Zwangsarbeit
Ein digitales Geschichtsprojekt des NS-Dokumentationszentrum München, konzipiert und umgesetzt von Juliane Bischoff und Paul-Moritz Rabe.