Miguel Lawner: Zeichnungen als Zeugnis (Chile 1973-1975)

 

Der chilenische Architekt Miguel Lawner (geboren 1928) ist ein engagierter und leidenschaftlicher Vertreter der vom „Bauhaus“ inspirierten Ideen der Sozialen Architektur. Seit den 1950er Jahren setzt er sich für das Recht auf Wohnraum und würdiges Wohnen ein und beteiligt sich an sozialen Bewegungen.

Nach dem Wahlsieg im September 1970 ernannte Präsident Salvador Allende Miguel Lawner, inzwischen Mitglied der Partido Comunista de Chile, zum Direktor der Gesellschaft für bessere Stadtentwicklung (Corporación de Mejoramiento Urbano), eine der vier Gesellschaften des Ministeriums für Wohnungsbau und Stadtplanung (Ministerio de Vivienda y Urbanismo).[1] Während der Unidad Popular entstanden unter seiner Leitung 158.000 Sozialwohnungen. Seine Arbeit veränderte das Stadtbild Santiagos. Das Gebäude für die dritte Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) von 1972, heute das beliebte Kulturzentrum Gabriela Mistral (GAM), dürfte das bekannteste sein.

Nach dem Putsch am 11. September 1973 wurde Miguel Lawner zusammen mit anderen wichtigen Persönlichkeiten der Unidad Popular verhaftet und im Lager Rio Chico auf der Isla Dawson, einer in der Magellanstraße gelegenen Insel, interniert.[2] Die zivil-militärische Diktatur nutzte insgesamt 1168 Haftanstalten für politische Gefangene im ganzen Land, darunter geheime Zentren, Stadien und Sportanlagen, Salpeterbüros, Einrichtungen für Militär (Heer, Marine und Luftwaffe) sowie für den Strafvollzug und die Carabiñeros.[3] Nach neun Monaten, am 8. Mai 1974, wurden die Gefangenen von der Isla Dawson wieder nach Santiago gebracht: zuerst in die Academia de Guerra Aérea, die in dem Viertel Las Condes in Santiago ihr Hauptquartier hatte und nach dem Putsch auch als Haft- und Folterstätte genutzt wurde. Von dort aus wurden sie am 20. Juli 1974 in das Konzentrationslager Ritoque in der Nähe von Valparaíso verlegt; letzte Stationen waren die Lager „Tres Álamos“ und „Cuatro Álamos“ (22. Mai 1975 bis 18. Juni 1975) in Santiago.

Während dieser Zeit fertigte Miguel Lawner Zeichnungen in der Größe 32 x 50 cm und 42 x 50 cm an, die den Alltag im Lager dokumentierten.[4] Die Zeichnungen über das Lager und die Baracken musste er rasch wieder vernichten, damit das Wachpersonal/das Militär sie nicht entdeckte.[5] Nach seiner Freilassung und Ausweisung nach Dänemark im Juni 1975 konnte er diese Zeichnungen reproduzieren. „The function creates the organ […]. I developed an organ: the drawing, capable of fulfilling the function of leaving testimony of our captivity.“[6]

Vor seiner Haft hatte Lawner noch nie einen Menschen porträtiert. Am 25. Februar 1974 zeichnete er auf der Isla Dawson das erste Mal einen Mitgefangenen, Daniel Vergara, beim Lesen eines Buches. Danach beschloss er, seine compañeros bei der Arbeit oder in den Lagerbaracken zu zeichnen, um diese dramatische Zeit ihres Lebens festzuhalten.[7] Auch die Haltung von Tätern dokumentierte Lawner, zum Beispiel die Ansprache von Jaime Weidenlaufer, Offizier des Infanteriekorps der Marine, der vor dem Putsch Aktivist in der faschistischen Organisation Patria y Libertad gewesen war (Isla Dawson, März 1974, Abb. 2),[8] sowie die Haftbedingungen in der Kriegsakademie der Luftwaffe, in der die Gefangenen ihre Augen Tag und Nacht verbunden haben mussten („Ein finsterer Keller“, Juni 1974, Abb. 5).

Mitte der 1980er Jahre kehrte Miguel Lawner nach Chile zurück. Unermüdlich setzt er sich bis heute für Menschenrechte ein und kommentiert aktuelle Entwicklungen.[9] Seine Zeichnungen veröffentlichte er 2003 unter dem Titel „la vida a pesar de todo“ („Leben trotz allem“) in Santiago. Im Jahr 2013 erschienen seine „Memoiren eines eigensinnigen Architekten“ („memorias de un arquitecto obstinado“). 2019 wurde Miguel Lawner in Anerkennung seines außergewöhnlichen Lebenswerks der nationale Architekturpreis Chiles verliehen.

Zeichnung einer kargen, schneebedeckten Landschaft am Meer

Abb. 1: „Schnee“, Isla Dawson, Februar 1974. Zeichnung von Miguel Lawner ©

Im äußersten Süden unseres Planeten, umgeben von einem Gürtel ewigen Eises und gepeitscht von den frostigen Stürmen der Antarktis, wurde die Isla Dawson von der chilenischen faschistischen Junta als Konzentrationslager eingerichtet, dazu bestimmt, Tausende chilenische Patrioten physisch und moralisch zu vernichten.

Zeichnung von Männer, die in einer Lagerbaracke aufgereiht vor ihren Betten stehen; am Ende des Raumes ein Mann, der spricht.

Abb. 2: „Die Rede von Weidenlaufer“, Isla Dawson, März 1974. Zeichnung von Miguel Lawner ©

Der Offizier des Infanteriekorps der Marine ließ die „Kriegsgefangenen“ in seiner Baracke antreten, um ihnen seine Philosophie zu verdeutlichen. Die Rede von Weidenlaufer, Isla Dawson, März 1974:

„Gefangene, Ihr werdet vergessen müssen, was Ihr vorher wart. Seht, was Ihr jetzt seid. Jeder Wehrpflichtige ist hundertmal mehr wert als Ihr. Chile braucht keine faulen, untätigen Intellektuellen wie Euch. Chile braucht Soldaten, und wir werden Soldaten aus Euch machen, koste es, was es wolle. Hört gut zu: Koste es, was es wolle. Wer das nicht begreifen will, wird auf die Straße geworfen.“

Zeichnung von Männern, die unter Bewachung mit Baumstämmen auf den Schultern in ein mit Stacheldraht gesichertes Lager gehen.

Abb. 3: „Rückkehr mit Brennholz beladen“, Isla Dawson, März 1974. Zeichnung von Miguel Lawner ©

Angesehene Parlamentarier, Rektoren der Universitäten, Gewerkschaftsführer, Angehörige verschiedener Berufe, viele von ihnen im hohen Alter, wurden dazu gezwungen, Tag für Tag bis zur Erschöpfung wie echte Sklaven oder Lasttiere zu arbeiten.

Zeichnung eines Mannes, der auf einer Holzbank vor einem Ofen sitzt, auf dem ein Wasserkessel steht.

Abb. 4: „Der alte Adolfo“, Isla Dawson, Februar 1974. Zeichnung von Miguel Lawner ©

Einer der Gefangenen, der den Auftrag hatte, das Feuer in der einzigen Wärmequelle, einem bescheidenen Brennholzofen, zu unterhalten.

Zeichnung eines Kellerflurs, in dem Soldaten Männer mit verbundenen Augen bewachen.

Abb. 5: „Ein finsterer Keller“, Kriegsakademie der Luftwaffe, Juni 1974. Zeichnung von Miguel Lawner ©

Alle Gefangenen, Männer und Frauen, haben ständig die Augen verbunden. Sie werden gezwungen, Tag und Nacht in Finsternis zu verbringen, Tage, Wochen, Monate. In diesem Folterzentrum wurden viele chilenische Patrioten ermordet.

Zeichnung eines Mädchens, das alleine auf Feldern läuft; über ihr zwei große Hände, die aus dem Himmel zu kommen scheinen.

Abb. 6: „An ein Mädchen, das sich sehr einsam fühlte“, Ritoque, September 1974. Zeichnung von Miguel Lawner ©

Das Gedicht, geschrieben von Hernán Soto, einem engen Freund von Miguel Lawner,[10] ist Alicia, Miguels kleiner Tochter, gewidmet. Sie und ihre Geschwister blieben nach der Verhaftung von Miguels Frau Anita allein zurück.

„Der Sand bedeckt die Felder unerbittlich,
die die Menschen besiegt aufgeben.
Traurig ziehen sie sich in ihr Selbst zurück.
In den Häusern fehlt der Vater,
und das Feuer stirbt in den Küchen.
Wie kannst Du Dich allein fühlen?
Wenn jetzt schon andere Hände voll von Samen
sich Deinen nähern?
Wenn am Himmel,
der den Duft verlorener Blüten bewahrt,
der Wind weht voller Vorahnung?“

Zeichnung von Männern, die in einer Baracke auf den Betten und auf Stühlen im Kreis sitzen.

Abb. 7: Studium in Ritoque, Ritoque, April 1975. Zeichnung von Miguel Lawner ©

Die Gefangenen behalten ihre Kraft. Sie haben ihr Vertrauen in die Zukunft niemals aufgegeben und lernen intensiv.

Von links nach rechts: Orlando Cantuarias, Bergbauminister, in dessen Amtszeit die Verstaatlichung des Kupfers fiel; Jorge Montes, Senator; Dr. Alejandro Romero, Anführer der MIR, der in der Silva Palma-Kaserne in Valparaíso ausgepeitscht wurde; Aníbal Palma, Bildungsminister und Generalsekretär der Regierung; Fernando Flores, Finanzminister; Carlos Matus, Präsident der Zentralbank; Sergio Vuskovic, Bürgermeister von Valparaíso und Regionalsekretär der KP im Hafen, der neun Tage lang auf dem Schulschiff Esmeralda gefoltert wurde; Hernán Soto, Unterstaatssekretär für Bergbau, der an der Tür Wache hält; Luis Corvalán, Senator und Generalsekretär der KP; Daniel Vergara, Rechtsanwalt, Unterstaatssekretär für Inneres; und die Beine von Lawner, der sich Notizen für diese Zeichnung macht. (http://archivomuseodelamemoria.cl/index.php/163843;isad [06.11.2023])

Zeichnung eines Mannes, der auf einem Stockbett unten sitzt, eine Decke über den Schultern hat und ein Buch liest.

Abb. 8: „Lucho [Luis] Corvalan in Tres Alamos“, Tres Alamos, Juni 1975. Zeichnung von Miguel Lawner ©

Zwei Jahre lang war er einer schonungslosen Behandlung ausgesetzt. Jetzt versuchen sie, ihn der Farce eines Militärgerichts zu unterwerfen. Die Menschheit muss seine sofortige Freilassung fordern.

 

Die Auswahl der Zeichnungen erfolgte nach: Antiimperialistisches Solidaritätskomitee für Afrika, Asien und Lateinamerika, Zwei Jahre in den Konzentrationslagern Chiles, Bildmappe, o.O., o.J.

Das spanische Original der Bildunterschriften hat Miguel Lawner verfasst; die deutsche Übersetzung stammt aus der genannten Bildmappe und von Eva Schöck-Quinteros.

 

 

[1] Vgl. u.a. Allendes Internationale, Im Chile der Unidad Popular: „Ein würdevolles Zuhause“, in: america 21, 06.08.2023, https://amerika21.de/analyse/265178/chile-ein-wuerdevolles-zuhause [16.10.2023]; Francisca Mayorga, Miguel Lawner, premio nacional de arquitectura en 2019: „Hay que acabar con el subsidio a la vivienda“, in: Latercera, 10.10.2022, https://www.latercera.com/earlyaccess/noticia/miguel-lawner-premio-nacional-de-arquitectura-en-2019-hay-que-acabar-con-el-subsidio-a-la-vivienda/KY7PYZW6LFDKDK4YT35C4X435U [06.11.2023].

[2] Vgl. die Website „Memoria Viva. Archivo digital de las Violaciones a los Derechos Humanos por la Dictadura Militar en Chile (1973-1990)“, https://memoriaviva.com/nuevaweb/centros-de-detencion/xii-region/isla-dawson [16.10.2023].

[3] Vgl. zu den Haftanstalten in Chile von 1973 bis 1990: Wikipedia, https://es.wikipedia.org/wiki/Anexo:Centros_de_detenci%C3%B3n_pol%C3%ADtica_y_tortura_en_Chile_(1973-1990); „Memoria Viva. Centros de Detención“, https://www.memoriaviva.com/Centros/centros%20detencion%20lista.htm [16.10.2023].

[4] Miguel Lawner hat 81 Zeichnungen dem Museo de la Memoria y los Derechos Humanos übergeben: Isla Dawson: 42 Zeichnungen; Academia de Guerra Aérea: 3; Ritoque: 28; Tres Álamos und Cuatro Álamos: 3 Zeichnungen, http://archivomuseodelamemoria.cl/index.php/35973;isad [06.11.2023].

[5] Siehe Miguel Lawner, Skizze des Lagers Rio Chico: Archivo de Fondos y Colecciones, Museo de la Memoria y los Derechos Humanos, http://archivomuseodelamemoria.cl/index.php/162943;isa [06.11.2023].

[6] Miguel Lawner, Retratos en Isla Dawson: cuando la función creó el órgano, https://www.ciperchile.cl/2019/01/31/retratos-en-isla-dawson-cuando-la-funcion-creo-el-organo/ [16.10.2023]; ders., Isla Dawson, Ritoque, Tres Alamos: la vida a pesar de todo, Santiago de Chile 2003; zur Biografie von Miguel Lawner Steinman siehe: La Internacional de Allende, 2019, https://www.npla.de/internationalallende/antibiografien/miguel-lawner-steiman/ [16.10.2023]

[7] Seine Motivation beschreibt Lawner ausführlich: Retratos en Isla Dawson: cuando la función creó el órgano, https://www.ciperchile.cl/2019/01/31/retratos-en-isla-dawson-cuando-la-funcion-creo-el-organo/ [16.10.2023].

[8] Die Zeichnung von Jaime Weidenlaufer entstand erst im Exil in Dänemark. Das Museo de la Memoria y los Derechos Humanos gibt für diese Zeichnung folgende Daten an: Dibujo a Tinta China. Copenhague, mayo de 1976; http://archivomuseodelamemoria.cl/index.php/163035;isad [06.11.2023].

[9] Siehe z.B. „El acuerdo de la infamia. Por Miguel Lawner“, in: Le Monde diplomatiqe Edición Chilena, 17.12.2022, https://www.lemondediplomatique.cl/el-acuerdo-de-la-infamia-por-miguel-lawner.html [16.10.2023]

[10] Vgl. Miguel Lawner, Nachruf: Hernán Soto, in: El Siglo, 27.11.2022, https://elsiglo.cl/hernan-soto/ [06.11.2023].

 

 

Zitation


Eva Schöck-Quinteros, Miguel Lawner: Zeichnungen als Zeugnis (Chile 1973-1975), in: Visual History, 18.10.2023, https://visual-history.de/2023/10/18/schoeck-quinteros-miguel-lawner-zeichnungen-als-zeugnis-chile/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2660
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Ein Kommentar “Miguel Lawner: Zeichnungen als Zeugnis (Chile 1973-1975)

  1. Esteban Chavez

    Ein toller Mensch – Miguel Lawner!
    Ein Leben voller Leidenschaft, immer auf der Seite der Ärmeren. Wort und Taten. Integrität.
    Danke und nochmals danke!
    Viele Grüße, Familie Chavez (Vladimir, Lilian, Ricardo, Ivan y Esteban)

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