Ein Familienfest

Fotoalbum der Familie Lindenberger, Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Michael Lindenberger © Seite 43

Welche Geschichte kann ein Bild erzählen? Am Beispiel eines Fotos aus dem Album der Familie Lindenberger, auf dem sich mehrere Generationen der Familie zu einem besonderen Anlass versammelt und diesen Moment für die Erinnerung künftiger Generationen festgehalten haben, möchte ich eine kurze Geschichte dieser Familie erzählen. Trotz wechselnder Lebensumstände ist es der Familie gelungen, ihre Geschichte fotografisch zu dokumentieren.

Das Foto aus dem Jahr 1933 zeigt eine festliche Szene: Die Familie versammelt sich, um den Jubilar anlässlich seiner Bar Mitzwa zu ehren. Das Bild zeigt acht Männer und sechs Frauen. Im Vordergrund nehmen vier Personen auf Stühlen Platz, während neun im Hintergrund stehend posieren. Eine weitere Person lehnt sich halb sitzend, halb stehend an eine Stuhllehne. Alle blicken direkt in die Kamera. Durch sorgfältige Analyse und Vergleiche mit Personen auf anderen Fotos sowie mit Informationen über die Familie Lindenberger aus anderen Quellen konnten die Namen der abgebildeten Personen identifiziert werden.

Der 13-jährige Hermann Lindenberger (2.v.l.n.r., stehend) im eleganten schwarzen Anzug ohne Krawatte oder Fliege, aber mit weißem Kragen darunter, zeigt schon durch die Kleidung seinen Übergang ins Erwachsenenleben, der mit der Bar Mitzwa gefeiert wird. Mit Ausnahme von Hermann, Joseph und Isaak tragen alle Männer einen dunklen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte.

Links von Hermann steht sein Vater Joseph Lindenberger in Anzug, weißem Hemd und Fliege, die Hände hinter dem Rücken. Helene, die Ehefrau von Joseph Lindenberger und Mutter des Jubilars, sitzt auf einem Stuhl rechts von ihrem Sohn. Sie trägt einen Rüschenrock und ein weißes Oberteil unter einer schwarzen Jacke. Der Großvater von Hermann, Isaak Lindenberger, sitzt als ältestes Familienmitglied in der Mitte des Bildes, umgeben von seiner Schwiegertochter Helene Lindenberger und seiner Tochter Betty. Auch er trägt einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd, darunter jedoch eine schwarze Weste mit Kette und Krawatte. Beide Hände hat er auf die Stuhllehnen gelegt.

Zwischen seiner sitzenden Tochter Betty und Meta Lindenberger, die einen schwarzen Rock und eine schwarze Jacke sowie ein weißes Oberteil und darunter jeweils eine Halskette tragen, steht Herta Weinkranz in einem hellen Rock und einer hellen Weste mit einem kurzen weißen Hemd. Rechts von ihr steht ein weiteres Mädchen in einem hellen Kleid mit weißem Kragen: Etta Lindenberger, die kleine Schwester von Hermann. Links von ihr ist ein junger Mann abgebildet, der nicht mit Namen zuzuordnen ist. Es folgt Herr Weinkranz, vermutlich Hertas Vater. Links von ihm ist die andere Tochter von Isaak Lindenberger, Lotte, abgebildet, sie trägt einen schwarzen Rock oder ein schwarzes Kleid und eine schwarze Jacke. Es folgen Nathan, Manfred und Adolf Lindenberger, die anderen Söhne von Isaak. Manfred, Adolf und Josef posieren seitlich, leicht gedreht zu den anderen stehenden Personen.

Die Bar Mitzwa, die einen jüdischen Jungen im Alter von mindestens dreizehn Jahren und einem Tag als religiös mündig bezeichnet, markiert den Übergang zur Übernahme aller religiösen Pflichten eines jüdischen Mannes. Dieses wichtige Ereignis ist mit zukünftigen Privilegien und Gebetspflichten verbunden und macht den Betreffenden zu einem vollwertigen Mitglied der Glaubensgemeinschaft.

Die aufschlussreiche Bildunterschrift eines weiteren Fotos (S. 42), das am gleichen Tag, dem 27. März 1933, und in der gleichen Umgebung aufgenommen wurde, aber eine größere Anzahl von Personen zeigt, weist auf den besonderen Anlass hin. Auf diese Weise kann die Information dem anderen Bild zugeordnet werden, was zu einer umfassenderen Kontextualisierung führt. Ohne diese Information wäre nicht ersichtlich, dass an diesem Tag ein wichtiges Fest gefeiert wurde. Es bleibt unklar, ob das Foto vor der eigentlichen Bar Mitzwa-Feier oder danach aufgenommen wurde. Aus dem Bild selbst geht nicht hervor, warum sich Familienangehörige und Freunde versammelt haben.

Michael Lindenberger (der Sohn des Jubilars Hermann Lindenberger und seiner Frau Marion) erklärte in einem Interview am 22. Dezember 2023, dass das Fotoalbum keinen Einblick in das jüdische Leben der Familie gebe. Es fehlen Darstellungen von kulturellen Ritualen oder familiären Zusammenkünften, wie z.B. ein festlich gedeckter Tisch. Michael Lindenberger wies darauf hin, dass es damals nicht üblich gewesen sei, solche Momente zu dokumentieren. Es bleibt unklar, ob es religiöse Momente in der Familie gab oder nicht, jedenfalls wurden sie nicht fotografiert.

In dem Fotoalbum der Familie Lindenberger befinden sich auch einige Fotografien aus der Zeit des Nationalsozialismus. Auch wenn die Auswirkungen der politischen Ereignisse des Jahres 1933 auf die Bar Mitzwa und das Alltagsleben der Familie durch die Bilder nicht unmittelbar zu erkennen sind, liefert das Foto der Bar Mitzwa vom 27. März 1933 einen Schlüssel zur zeitlichen Einordnung. Es entstand nur wenige Tage vor dem Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte, der auch in Merseburg in Sachsen-Anhalt stattfand. Die erhöhte Gefährdungslage in dieser Zeit könnte erklären, warum viele Aspekte des Familienlebens ab diesem Zeitpunkt nicht mehr fotografisch festgehalten wurden. Die Fotografie von der Bar Mitzwa-Feier gibt somit nicht nur einen Einblick in einen persönlichen und festlichen Moment, sondern ermöglicht auch die Verbindung  zu den  historischen Ereignissen und Herausforderungen, denen sich die Familie Lindenberger in diesen Tagen stellen musste.

Das Foto vom 27. März 1933 liefert nicht nur einen visuellen Hinweis auf die familiären Beziehungen innerhalb der Familie Lindenberger, sondern lässt uns auch in diese Zeit eintauchen. Die Bar Mitzwa-Feier zeigt, dass die Familie trotz der sich abzeichnenden politischen Unsicherheit an der Bedeutung von Tradition und Kontinuität in schwierigen Zeiten festhielt. Die Anwesenheit von vielen Familienmitgliedern bei einer Bar Mitzwa spiegelt den Zusammenhalt der Familie und ihre Verbundenheit mit der Gemeinschaft wider. Durch die Fotografie konnte das Ereignis in Erinnerung behalten und durch das Fotoalbum an die nächste Generation weitergegeben werden.

 

 

Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: „un.sichtbar. Blicke auf das Fotoalbum einer jüdischen Familie 1904-1969“, herausgegeben von Christine Bartlitz, Christoph Kreutzmüller und Theresia Ziehe

Themendossier: un.sichtbar: Blicke auf das Fotoalbum einer jüdischen Familie 1904-1969

 

 
 

 

 

Zitation


Christina Helwig, Ein Familienfest, in: Visual History, 14.02.2024, https://visual-history.de/2024/02/14/unsichtbar-helwig-ein-familienfest/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2713
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