„Icons Art“ & „Double Take“
Anmerkungen zu einer Berliner Ausstellung
Medienikonen der Fotografie bzw. des Films – denken wir etwa an den „Falling Soldier“ von 1936 in der Fotografie von Robert Capa, an den Jungen aus dem Warschauer Getto im sogenannten Stroop-Bericht, an das „Napalm-Mädchen“ aus dem Vietnamkrieg in der Fotografie von Nick Út, an den „Kapuzenmann“ in der digitalen Aufnahme eines amerikanischen Soldaten aus dem Foltergefängnis von Abu Ghraib oder an die Filmschleife vom Anflug auf die Twin Towers auf NBC – besitzen aufgrund ihrer spezifischen ikonischen Kraft einen hohen Aufmerksamkeitswert, der sie als visuelle Ankerpunkte aus der alltäglichen Bilderflut herausragen lässt. Über das abgebildete Ereignis hinaus verfügen diese Ikonen über einen symbolischen Mehrwert, der sie zu Stellvertretern historischer Ereignisse macht. Über diese erinnern wir bzw. formen wir kollektiv wie individuell unsere Vorstellung von Geschichte, unser Geschichtsbild. Zum Teil überlagern diese Bilder die eigenen Erinnerungen oder setzen sich gar an ihre Stelle. Bereits die bloße Nennung einer auf dem Bild dargestellten Person (z.B. Kim Phúc) oder eines Ereignisses (z.B. der Kniefall) vermag die visuelle Erinnerung zu aktivieren. Nicht zuletzt können diese Ikonen eigene Realitäten generieren und auf diese Weise selbst Geschichte machen, die dann eigene Geschichten erzählen und kaum mehr korrigierbar sind.
Im Prozess der Kanonisierung kommt es immer wieder vor, dass sich solche zu Ikonen avancierten Bilder zu ort- und zeitlosen Gebilden verselbständigen, die für die unterschiedlichsten Zwecke etwa als Eyecatcher der kommerziellen Werbung oder der politischen Wahlwerbung funktionalisiert und genutzt werden können. So tauchte etwa der berühmte Rückenakt der Kommune 1 von 1967 in völlig neuen Zusammenhängen Jahrzehnte später auf einem Plakat der Jungen Liberalen der FDP[1] oder das berühmte Foto von Hans und Sophie Scholl und von Alexander Schmorell 1942 bei ihrer Verabschiedung auf dem Münchner Ostbahnhof auf einem Plakat der AfD mit dem Slogan „Sophie Scholl würde AfD wählen“[2] wieder auf.
Aufgrund der besonderen „Triebkraft der Form“ (Horst Bredekamp) ist der ursprüngliche mediale Träger dieser Bilder letztlich sekundär, wenn nicht völlig irrelevant. Von der Fotografie oder dem Film können ikonische Bilder vielmehr auf andere zwei- bzw. dreidimensionale mediale Träger überspringen: auf das Demonstrationsplakat, die Briefmarke, das T-Shirt, schließlich sogar auf die Skulptur oder ein architektonisches Objekt. Sie beginnen ein mediales Eigenleben zu führen.
All dies hat Akteure der Bildenden Kunst, vereinzelt auch jene der Darstellenden Kunst zu Bearbeitungen, Verfremdungen und Neuinterpretationen inspiriert. Reinhold Viehoff und Kathrin Fahlenbrach haben schon vor Jahren darauf verwiesen, dass nur solche Bilder zu Medienikonen werden und im kollektiven Gedächtnis präsent bleiben, die bestimmte Kanonisierungsprozesse durchlaufen.[3] Neben dem Prozess der medialen, der ökonomischen und der politischen Kanonisierung gehört hierzu immer auch der Prozess der kulturellen Kanonisierung, d.h. der Verwendung dieser Bilder durch Kulturschaffende im weitesten Sinne. Der kulturelle Gebrauch dieser Bilder hat letztlich eine eigenständige Kunstform begründet, die ich als „Icons Art“ bezeichnen möchte.
Namhafte Künstler wie Wolf Vostell, Samuel Bak, Elmar Hess oder Banksy haben diese Ikonen in Gemälden, Zeichnungen und Graffitis provokativ verfremdet. Andere wie Michael Schirner, Matthias Wähner und Ernst Volland haben sie fotografisch neu bearbeitet, indem sie digital Personen aus diesen Bildern heraus- oder neue Personen in sie hineingerechnet oder die ursprünglichen Motive bis zur Unkenntlichkeit verschattet haben.
Im Prozess der kulturellen Kanonisierung traten Medienikonen zunehmend aus der Begrenzung ihrer Zweidimensionalität heraus. Aus Conrad Schumans Fotografie des flüchtenden Volkspolizisten von 1961 wurde eine Installation im öffentlichen Raum. Edward Kienholz formte aus der Flaggenhissung von Iwo Jima sein dreidimensionales „Portable War Memorial“. Joe Rosenthals Fotografie von 1945 avancierte gar zum Vorbild eines ganzen Museums, des US Marine Corps Museums in Triangle/Virginia.
Zu den dreidimensionalen Neuinszenierungen zählen auch verschiedene als „Displacements“ bezeichnete Reenactments mit lebenden Personen, Figurenschablonen oder auch nur den toten Gegenständen des ursprünglichen Bildszenariums. Der österreichische Künstler Christian Eisenberger etwa zerlegte Nick Úts berühmte Fotografie des Napalm-Mädchens in seine Einzelteile und gruppierte diese im öffentlichen Raum auf neue Weise.
Der polnische Künstler Zbigniew Libera ließ das berühmte Foto von der Demontage des polnischen Schlagbaums am 1. September 1939, das gemeinhin als „Ikone des Beginns des Zweiten Weltkriegs“ gilt, mit Radfahrern in buntem Freizeitdress nachstellen und fotografierte anschließend das Produkt, worauf es insbesondere in Polen Proteste hagelte. Ähnliches machte er mit einer Ikone der sowjetischen Kriegsfotografie: der „Leid“ betitelten Aufnahme des Kriegsreporters Dmitri Baltermanz von den Frauen, die ihre Angehörigen auf dem Schlachtfeld von Kertsch auf der Krim suchten.
Thomas Demand baute mit Hilfe von Papier und Karton bekannte Orte nach, an denen Historisches passiert war, so etwa das Badezimmer bzw. die Badewanne, in der der einstige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein Uwe Barschel Selbstmord begangen hatte oder ermordet worden war. Anschließend fotografierte auch er sein Produkt und zerstörte den räumlichen Nachbau. Das vielleicht am meisten provozierende und neueste Beispiel eines künstlerischen Reenactments stammt von dem chinesischen Künstler Ai Weiwei, der 2016 in der Gebärdenfigur des ertrunkenen dreijährigen syrischen Flüchtlingskindes Aylan Kurdi für die Kamera posierte.
Zur kulturellen Form des Reenactments gehören schließlich auch die Arbeiten von Lego-Bastlern, die historische Ikonen mit Lego-Bauteilen in Dioramen nachbauten und diese dann fotografisch festhielten oder auch die Nachstellungen von Medienikonen durch Laienschauspieler wie eine Gruppe von Senioren im schottischen Glasgow, die die berühmte Aufnahme von der Erschießung eines Vietcong durch den Polizeipräsidenten von Saigon reinszenierten und sich dabei fotografieren ließen. Als „Flasbacks“ sind diese Reenactments in die Literatur eingegangen.
Alle diese Bearbeitungen, Verfremdungen und Reenactments haben eines gemeinsam: Sie spielen mit unserer Wahrnehmung und unserer Erinnerung, die sich wesentlich über Bilder speist. Sie weisen darauf hin, wie vertraut uns diese Bilder sind, die wir ohne Weiteres – selbst wenn ihnen wie bei Michael Schirner die Akteure abhanden gekommen sind – rekonstruieren können und über die wir trotz aller Vertrautheit letztlich so gut wie nichts wissen, was immer wieder dazu führt, dass sich diese Bilder für die unterschiedlichsten Zwecke funktionalisieren bzw. missbrauchen lassen.
In diese Geschichte des verfremdenden kulturellen Gebrauchs von Medienikonen der Zeitgeschichte reihen sich nun auch die Arbeiten der beiden Schweizer Künstler Jojakim Cortis und Adrian Sonderegger ein. Auch sie haben historische Orte, die wir durch Bilder zu kennen glauben, nachgebaut und anschließend fotografiert. Das Neue an ihren Arbeiten ist, dass in ihren Aufnahmen das Making Off deutlich wird, über das wir auch bei unseren historischen Ikonen gerne mehr wissen möchten, das in aller Regel aber ausgeblendet bleibt und allenfalls zufällig durchschimmert.
Ihre Fotografien nennen sie anlehnend an einen Begriff aus der Filmsprache „Double Take“, womit eine besondere Strategie der Gag-Erzeugung in der Slapstick-Komödie bezeichnet wird. Die Arbeiten von Cortis und Sonderegger beruhen auf einer zweifachen Wahrnehmung und sind verstörend, weil sie zeigen, wie fließend die Übergänge von Realität und medialer Vermittlung sind bzw. wie einfach es letztlich ist, Bilder zu reinszenieren und zu faken – ein Hinweis, der im digitalen Zeitalter nicht oft genug wiederholt werden kann. Sie provozieren Fragen danach, was eigentlich „Authentizität“ bedeutet, und ob es überhaupt zulässig ist, mit Bildern von Katastrophen, der Gewalt, des Todes zu spielen und diese zu reinszenieren – Fragen, die sich auch Bildhistoriker*innen stellen. Nicht zuletzt kommt hier die Frage auf, wo der aufklärerische Wert dieser Arbeiten aufhört und ihr kommerzieller Wert beginnt.
Die manchmal verstörenden, manchmal erheiternden Arbeiten von Jojakim Cortis und Adrian Sonderegger sind vom 16. März bis zum 1. Juni 2019 bei C/O Berlin unter dem Titel „Double Take“ zu bestaunen. Eine gleichnamige Publikation ist bereits 2018 bei Lars Müller Publishers auf Deutsch und Thames & Hudson auf Englisch erschienen; sie begleitet die Ausstellung. Der Untertitel des Bandes „Eine wahre Geschichte der Fotografie“ verweist darauf, dass fotografische Aufnahmen immer schon mediale Inszenierungen waren, dass sie oft erst das erzeugten, was sie vermeintlich abzubilden vorgaben, dass sie nie einfach nur Spiegelungen von Welt waren, als die sie lange galten.
Am 19. März 2019 „Bildikonen“: Künstlerführung und Vortrag von Gerhard Paul
[1] Siehe das Plakat der Jungen Liberalen 2014 zum Beispiel in einem Artikel der “Welt abgebildet vom 14.3.2014.
[2] So auf der Facebook-Seite der AfD Nürnberg-Süd/Schwabach am 16.1.2017, ein Screenshot findet sich auf der Website Nordbayern.
[3] Reinhold Viehoff/Kathrin Fahlenbrach, Ikonen der Medienkultur. Über die (verschwindende) Differenz von Authentizität und Inszenierung der Bilder in der Geschichte, in: Michael Beuthner u.a. (Hrsg.) Bilder des Terrors – Terror der Bilder? Krisenberichterstattung am und nach dem 11. September, Köln 2003, S. 42-60.
Zitation
Gerhard Paul, „Icons Art“ & „Double Take“. Anmerkungen zu einer Berliner Ausstellung, in: Visual History, 18.03.2019, https://www.visual-history.de/2019/03/18/icons-art-double-take/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1634
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