Visuelle Diskurse

Die Rolle des Fotojournalismus bei der (Re-)Produktion hierarchischer Differenzsysteme

Othering begegnet uns nicht nur im geschriebenen Wort. Es kann sich ebenfalls in der Kombination von Bild und Text manifestieren. Wie wichtig eine Reflexion der Artikelbebilderung durch die Redaktion ist, möchte ich im Folgenden anhand eines Artikels der „Berliner Morgenpost“ veranschaulichen. Hierzu ist ein poststrukturalistisch orientierter Zugriff besonders geeignet, da hier die Auffassung vertreten wird, dass die Bedeutungen den Dingen nicht immanent sind, sondern sie ihnen diskursiv zugewiesen werden. Somit werden im Diskurs die Dinge erst als soziale Phänomene konstituiert, über die gesprochen bzw. geschrieben wird.[1] Mittels einer solchen anti-essentialistischen Perspektive auf Identitäten kann die Forschung dazu beitragen, binäre Identitätskonstruktionen aufzudecken, zu hinterfragen und letztlich zu überwinden.

Zu Beginn möchte ich einige Überlegungen zur Rolle des Fotojournalismus bei der Konstruktion von sozialen Ordnungen voranstellen. Traditionellerweise wird Fotojournalist*innen, jedenfalls denjenigen, die im Dienst der weitläufig konsumierten geltenden Nachrichtenmedien stehen, die Aufgabe zugewiesen, Wirklichkeit quasi objektiv und nahezu vollständig abzubilden. Auf diese Weise können Dinge oder Personengruppen mit Attributen ausgestattet werden, genauer: Sie werden in Bezug auf ein konstitutives Anderes mit anderen Diskurselementen gleichgesetzt. Es entstehen Äquivalenzketten.

Dies geschieht neben dem geschriebenen Wort auch durch die Bebilderung der Artikel – vor allem in Kombination mit Bildunterschriften und Artikelüberschriften. Bilder können sogar die im Text erstellten Äquivalenzketten komplettieren, indem sie Bedeutungen hinzufügen, die im Text nicht explizit erwähnt werden. Schließlich können journalistische Fotografien so aufgrund ihrer hohen Kredibilität bestimmte, in den Artikeln durch die Redakteur*innen erstellte Äquivalenzketten objektiv erscheinen und damit hegemonial werden lassen. Indem Fotos als Evidenz für das Geschriebene wirken, verstärken sie die Glaubwürdigkeit journalistischer Artikel und partikularer Äquivalenzketten der Journalist*innen und haben einen besonders starken Einfluss auf die (Re-)Produktion und Transformation sozialer Ordnungen.[2]

Die vorab angestellten Überlegungen möchte ich im Folgenden am Beispiel des Artikels „Bürgerwehr mit Kampfsportlern soll Drogendealer vertreiben“ illustrieren, der am 21. September 2018 in der „Berliner Morgenpost“ sowie im „Hamburger Abendblatt“ erschienen ist.

 

Beispiel: Zeitungsartikel über die „Drogendealer im Schanzenpark“

Foto: Michael Arning in dem Beitrag von Daniel Herder: „Bürgerwehr mit Kampfsportlern soll Drogendealer vertreiben“; in: Berliner Morgenpost, 21.09.2018, URL: https://www.morgenpost.de/politik/article215386525/Buergerwehr-mit-Kampfsportlern-soll-Drogendealer-vertreiben.html [30.07.2020]

Zuerst sei hier auf die Rolle des Artikelbildes im Text verwiesen: Es wird als objektive Evidenz verwendet und untermauert das Geschriebene. Die Bildunterschrift „Im Hamburger Schanzenpark wird praktisch zu jeder Tageszeit gedealt, vor allem Marihuana“ lenkt die Interpretation der Betrachtenden in eine bestimmte Richtung: Das Bild könnte bei entsprechender Kontextualisierung und ohne verpixelte Gesichter auch dazu genutzt werden, um darzustellen, wie sieben Menschen auf einer Bank im Park einen sonnigen Tag genießen. Stattdessen wird der Bezug zum behaupteten omnipräsenten Drogenhandel im Schanzenpark hergestellt. Die heranwachsenden männlichen Persons of Colour (POC) werden hier mit Drogenhändlern gleichgesetzt.

Dadurch kommt es zu einem doppelten Othering. Zum einen fungiert „der Drogendealer“ als konstitutives Anderes der als rechtsschaffend imaginierten Mehrheitsgesellschaft, das als „Straftäter“ konstruiert wird. Dieser tritt somit als Antagonist auf, der, diesem Diskurs folgend, eine von der „rechtschaffenden Mehrheitsgesellschaft“ divergierende Behandlung verdient – durch Bestrafung und Segregation (beispielsweise Haft, Platzverweise o.Ä.). Das zweite Moment des Othering besteht in der Gleichsetzung von heranwachsenden männlichen POC mit Straftätern, sodass das Bild des „kriminellen Ausländers“ reproduziert wird.

Verstärkt wird dieser Effekt durch die Verpixelung der Gesichter (vermutlich zum Schutz der Persönlichkeitsrechte), wodurch die Abgebildeten auf Hautfarbe, Alter, Geschlecht und ihre Funktion als Straftäter reduziert werden. Des Weiteren wird der Schanzenpark als Raum des Drogenhandels und somit als Anderes zur hegemonialen Vorstellung des Raumes Hamburg konstituiert. So können für diesen Bereich bestimmte außergewöhnliche Maßnahmen sagbar werden, wie die Forderung nach Gründung einer Bürgerwehr wie im o.g. Fall oder verdachtsunabhängige Kontrollen durch die Polizei (siehe hier beispielsweise die Securitization Theory[3]).

Durch diese Assoziation von Raum, Kriminalität und jungen männlichen POC wird für diese ein unmarkierter Aufenthalt im Schanzenpark unmöglich gemacht, sodass sie verstärkt unter Kriminalitätsverdacht gestellt werden. Zu dieser diskriminierenden Sicht gehört allerdings auch die privilegierende, die der „Mehrheitsgesellschaft“ und sogar denjenigen Drogendealern zugutekommt, die von diesem doppelten Othering nicht betroffen sind und weniger stark im Fokus repressiver Aktionen und Verdächtigungen stehen.

Die Objektivität, die dieser fotojournalistischen Arbeitsweise zugeschrieben wird, manifestiert derartige Äquivalenzketten und Differenzsysteme und (re)produziert die dargestellten Personen als eine der als rechtschaffend imaginierten Mehrheitsgesellschaft entgegengesetzte soziale Gruppe. Auch wenn im Text das Vorhaben der Bürgerwehr kritisch betrachtet wird, geschieht dies unter dem Aspekt des staatlichen Gewaltmonopols. Das lässt sich daran erkennen, dass auch im Artikel selbst von „vornehmlich schwarzafrikanischen Drogenhändler[n]“ die Rede ist.

Die Artikelbebilderung verleiht der Äquivalenzkette „schwarzafrikanisch ↔[4] Drogenhändler“ somit Anschaulichkeit und vermeintliche Evidenz. Außerdem erweitert sie diese um die Kategorien Gender und Age, sodass die erstellte Äquivalenzkette des für die Mehrheitsgesellschaft konstituierenden Anderen in diesem Falle „,schwarzafrikanisch‘ ∧[5] ,männlich‘ ∧ ,heranwachsend‘ ↔ ,Drogendealer‘ ↔ ,Straftäter‘“ lautet. Auf diese Weise wird die Marginalisierung reproduziert und durch die Entgegenstellung der imaginierten Mehrheitsbevölkerung abgewertet.

Kurzum: Diskurse, einschließlich Bilder, (re-)produzieren soziale Gruppen und hierarchische Differenzsysteme. Bilder sind also niemals neutral – ihre Verwendung besitzt stets eine ethische Komponente. Die Diskussion darüber ist noch lange nicht abgeschlossen. Dies zeigt beispielsweise ein Blick in den Jahresbericht des Deutschen Presserats 2019, in dem die journalistische Bildethik zwar thematisiert und die Relevanz bildethischer Abwägungen unterstrichen werden. Es stehen jedoch die Verbreitung von Schleichwerbung oder die Verletzung von Persönlichkeitsrechten von abgebildeten Einzelpersonen von beispielsweise Gewalt- und/oder Todesopfern im Fokus.[6] Die (Re-)Produktion der Stigmatisierung sozialer Gruppen durch Artikelbebilderung(en) wird hingegen nicht thematisiert.

Somit empfiehlt es sich neben dem transdisziplinären Ausbau der wissenschaftlichen Betrachtung von Bildern wie beispielsweise in der Intersektionalitätsforschung auch für Redaktionen und Berufsverbände, den Strategien der Bebilderung von Artikeln mehr Aufmerksamkeit zu schenken und sie kritisch zu reflektieren.

Pressefotografen auf dem Centralflughafen in Berlin, Januar 1930. Fotograf: unbekannt. Quelle: Wikimedia Commons / Bundesarchiv Bild 102-09032, Lizenz: CC-BY-SA 3.0

[1] Einen Überblick in die poststrukturalistische Diskurstheorie bieten beispielsweise der Sammelband: Iris Dzudzek/Caren Kunze/Joscha Wullweber (Hg.), Diskurs und Hegemonie. Gesellschaftskritische Perspektiven, Bielefeld 2012 oder die Monografie von Dirk Nabers zum „Krieg gegen den Terror“: Dirk Nabers, A Poststructuralist Discourse Theory of Global Politics, Houndsmills, Basingstoke/New York, NY 2015.

[2] Zur Rolle des Fotojournalismus bei der Produktion sozialer Ordnungen ist David Shims Monografie über die internationale mediale Konstruktion Nordkoreas durch visuelle Quellen wie fotojournalistische Arbeiten und Satellitenbilder beispielhaft: David Shim, Visual Politics and North Korea. Seeing is Believing, London/New York 2014. Ein weiteres Beispiel für eine visuelle Diskursanalyse am Beispiel der „Flüchtlingskrise“ liefert: Silke Betscher, Blickregime und Grenzregime. Die Verschränkung von Raum- und Subjektkonstruktionen in visuellen Diskursen der „Flüchtlingskrise“ 2014-2016, in: Jürgen Danyel/Gerhard Paul/Annette Vowinckel (Hg.), Arbeit am Bild. Visual History als Praxis, Göttingen 2017, S. 114-136.

[3] Zur Securitization Theory siehe beispielsweise: Barry Buzan/Ole Waever/Jaap de Wilde, Security: A new Framework for Analysis, Boulder 1998, zur Konstruktion von Räumen im Poststrukturalismus siehe: Georg Glasze, Eine politische Konzeption von Räumen, in: Dzudzek/Kunze/Wullweber (Hg.), Diskurs und Hegemonie, S. 151-172.

[4] Symbolisiert „Äquivalenzen“.

[5] Symbolisiert „und“.

[6] Vgl. Deutscher Presserat (Hg.), Jahresbericht 2019, https://www.presserat.de/jahresberichte-statistiken.html?file=files/presserat/bilder/Downloads%20Jahresberichte/Jahresbericht_2019.pdf [02.08.2020].

 

 

Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet, hg. von Christine Bartlitz, Sarah Dellmann und Annette Vowinckel

Themendossier: Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet

 

 

Zitation


Fynn-Morten Heckert, Visuelle Diskurse. Die Rolle des Fotojournalismus bei der (Re-)Produktion hierarchischer Differenzsysteme, in: Visual History, 03.08.2020, https://visual-history.de/2020/08/03/visuelle-diskurse/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1815
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