„Das Buch wird Bild“
Annette Kelms Fotoausstellung „Die Bücher“ im Museum Frieder Burda, Salon Berlin
„Wenn ich nicht Peter Panter wäre, möchte ich ein Buchumschlag im Malik-Verlag sein“, schrieb Kurt Tucholsky 1932. Dieses Zitat findet sich in der großen Ausstellung, mit der die Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin noch bis zum 23. August 2020 John Heartfield würdigt – unter anderem als kongenialen Gestalter von Buchumschlägen.[1] Während diese Ausstellung geradezu ein Gesamtkunstwerk ist und Heartfield als Multimedia-Künstler hervortreten lässt, zeigt der Salon Berlin des Museums Frieder Burda vom 12. Mai bis zum 24. Oktober 2020 eine Fotokunstausstellung,[2] die demgegenüber minimalistisch wirkt, aber ihren eigenen Reiz hat – und direkte Bezüge zur Heartfield-Ausstellung. Darauf wird noch einzugehen sein.
Die Künstlerin Annette Kelm hat 2019/20 eine Serie von Büchern fotografiert, die im Zuge der nationalsozialistischen Verfolgung und Unterdrückung des Kulturlebens aus Bibliotheken und Sammlungen, aus privaten und wissenschaftlichen Lektüre-Zusammenhängen aussortiert worden waren. Diese und Tausende weitere Titel landeten im Mai und Juni 1933 auf öffentlichen Plätzen in vielen deutschen Städten,[3] wo vor aller Augen Bücher verbrannt und deren Autorinnen und Autoren diffamiert wurden – ein Auftakt zur physischen Verfolgung nicht nur der Werke, sondern auch der Menschen. Die Berliner Ausstellung zeigt nun 50 ausgewählte Fotografien von Buchcovern; parallel dazu ist im Münchener NS-Dokumentationszentrum eine Installationswand mit 24 Fotos zu sehen.[4]
Was kennzeichnet nun diese 50 Bücher, Buchcover, oder präziser: Fotos von Buchcovern? Um zunächst auf der Ebene der Bücher selbst zu bleiben: Abgesehen vom bekannten nationalsozialistischen Antikommunismus, Antisozialismus, Antiliberalismus und Antisemitismus gab und gibt es wenig Verbindendes. Als Titel wäre „Bücher“ deshalb vielleicht treffender gewesen als „Die Bücher“. Das Panorama der Ausstellung wie auch die umfangreichen, immer wieder erweiterten „Listen des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ lassen keine klare Systematik erkennen,[5] und der Versuch, eine solche herauspräparieren zu wollen, würde der NS-Kulturpolitik nachträglich zu viel Logik und Steuerung beimessen. Der gemeinsame Nenner lautete jedoch, die Pluralität und Heterogenität der Buchproduktion aus der Weimarer Republik zurückdrängen zu wollen: die Vielfalt an Verlagen, Gestaltungsideen, Genres, Übersetzungen und anderen Kulturtransfers, die Buntheit der politischen und literarischen Programme, die Gegensätzlichkeit der Stile und Identitätsentwürfe.
Die 50 Bücher, die die Fotografin für die Ausstellung gewählt hat, umfassen ein bewusst heterogenes Spektrum von Sachbüchern, Belletristik und Lyrik sowie nicht zuletzt drei Kinderbüchern. Sie stammen überwiegend aus den 1920er und frühen 1930er Jahren. Geradezu programmatisch und assoziationsreich beginnt die Präsentation mit Franz Carl Weiskopfs Buch „Umsteigen ins 21. Jahrhundert. Episoden von einer Reise durch die Sowjetunion“ (1927). Weiskopf war ein 1900 in Prag geborener Kommunist mit jüdischem Vater, der nach seiner Sowjetunion-Reise ab 1928 in Berlin lebte, aber 1933 nach Prag fliehen musste, wo er Chefredakteur der „Arbeiter Illustrierte Zeitung“ (AIZ) wurde. Den Zweiten Weltkrieg überlebte er im US-amerikanischen Exil; nach mehreren weiteren Stationen verbrachte er seine letzten Lebensjahre in Ost-Berlin, wo er schon mit 55 Jahren starb – eine von vielen Flucht-Biografien des 20. Jahrhunderts. Sein Reise-Buch von 1927 ist nun eines der Bindeglieder zu John Heartfield: Der Band erschien bei Malik, dem Verlag von Heartfields jüngerem Bruder Wieland Herzfelde, und Heartfield gestaltete den Einband. In der Ausstellung sind noch vier weitere Buchcover zu sehen, die auf Heartfields Ideen basieren (zwei Bände davon ebenfalls bei Malik erschienen). Es mag Zufall sein, dass Heartfield hier mit immerhin 5 von 50 Einbandentwürfen vertreten ist, zeugt aber doch von seinem besonderen Stellenwert für die Verlagsszene der Weimarer Republik – mit ganz unterschiedlichen Themen und Gestaltungsformen.[6]
Das Raumfoto zeigt das serielle, ebenso schlichte wie wirkungsvolle Gestaltungsprinzip der Ausstellung: Alle Fotos haben eine einheitliche Größe von 52 x 70 cm, die Cover werden auf weißem Grund in weißen Rahmen vor weißer Wand gezeigt, ungefähr auf Augenhöhe gehängt, ohne jede textliche Zusatzinformation. Um welche Bücher es sich handelt (sofern Titel und Autor*innen nicht direkt auf dem Cover genannt sind), in welchen Verlagen sie erschienen, wer die Umschläge gestaltete (soweit bekannt) und wer bei fremdsprachigen Titeln für die Übersetzungen zuständig war, ist einer Liste zu entnehmen, die man am Eingang zur Ausstellung erhält (siehe die Exponatliste).
Die vergrößert gezeigten Bücher sind alle mit Lichteinfall von links oben fotografiert, sodass ein leichter Schattenwurf entsteht, der die Dreidimensionalität, die Körperlichkeit der Objekte zumindest andeutet. In einigen Fällen ist der Buchumfang erkennbar. Annette Kelm hat überwiegend Erstausgaben verwendet, deren Umschläge (wie bei Tucholskys Buch auf dem Plakat zur Ausstellung) mehr oder weniger starke Gebrauchsspuren zeigen. Dies signalisiert Aneignung durch Lektüre und zugleich eine Verletztlichkeit der Objekte, die einen gewissen Gegenpol bietet zur Schärfe, Klarheit und Geradlinigkeit der Digitalfotografie. Dagegen gibt es keine Brand- oder sonstigen Zerstörungsspuren auf den Büchern. Es wäre vermutlich nicht allzu schwer gewesen, auch solche „gezeichneten“ Bücher zu finden, aber die Entscheidung der Fotografin erscheint sehr plausibel, die symbolische Aufladung des Themas nicht noch zusätzlich zu verstärken. Die gezeigten Bände stammen aus Privatsammlungen;[7] sie haben also zum einen die Zerstörung überdauert, zum anderen tragen sie keine Bibliotheksetiketten und haben noch ihre originalen Umschläge.[8]
Die Hängung, über einen langen Flur und zwei großzügige rechteckige Räume verteilt, folgt weder einer chronologischen noch einer thematischen Ordnung; sie lässt viel Raum für Assoziationen und schärft auch den Blick für die Unterschiedlichkeit der Umschlaggestaltung: Mal gibt es nur Text auf dem Einband, mal nur visuelle Elemente, häufig aber eine Mischung aus beidem. Die typografische und buchkünstlerische Bandbreite ist groß; man spürt geradezu die Freude am Experimentieren mit neuen drucktechnischen Möglichkeiten. Im Gegensatz zur heutigen Praxis sind die Verlage auf den Covern oft nicht genannt. Dagegen sind die Einbandgestalter (überwiegend Männer) in einigen Fällen namentlich ausgewiesen, und sei es nur mit Nachnamen oder Initialen.
Ein nicht unwichtiger Effekt der Ausstellung ist schließlich, dass man neben (eher wenigen) sehr bekannten Werken wie Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ etliche Bücher entdeckt, deren Titel sofort neugierig machen und die man aus heutiger Perspektive wieder oder erstmals lesen möchte – etwa Arnold Zweigs Antisemitismus-Analyse von 1927, die der Aufbau-Verlag 1993 und 2000 dankenswerterweise in Neuausgaben zugänglich gemacht hat (weiterhin lieferbar). Auch Zweig (1887-1968) musste wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner politischen Überzeugungen nach 1933 ins Exil, wurde in Palästina nicht heimisch und lebte seit 1948 dann in Ost-Berlin, was dazu beitrug, dass er in der Bundesrepublik lange kaum beachtet wurde. Im selben Jahr 1927 veröffentlichte Stefan Zweig (1881-1942, mit Arnold Zweig nicht verwandt) eine kleine Novelle mit dem Titel „Der Flüchtling. Episode vom Genfer See“, in der Fragen von Desertion, Heimat- und Staatenlosigkeit im Kontext des Ersten Weltkrieges verhandelt werden. Hier ist es wiederum eine kluge Entscheidung der Fotografin und Kuratorin, nicht Stefan Zweigs weit bekannteres Werk „Sternstunden der Menschheit“ aus demselben Jahr zu zeigen, sondern ein anderes Buch mit hohem Aktualitätsbezug ans Ende der Ausstellung zu setzen, dessen schlichter, tiefblauer Einband zudem einen eigenen Assoziationsraum eröffnet.
Ein Assoziationsraum ist natürlich auch das 1927/28 errichtete Gebäude der Jüdischen Mädchenschule, die dort nur von der Eröffnung im Jahr 1930 bis zur erzwungenen Schließung 1942 Unterricht abhalten konnte. Man muss den historischen Bezug zur nationalsozialistischen Bücherverbrennung und Judenverfolgung sicher nicht überdehnen, aber die heutigen, lichtdurchfluteten und zumindest für diese Art von Ausstellung sehr gut geeigneten Räume sind eben kein neutraler „White Cube“. Das Zusammenwirken des Ortes mit der schlichten, unaufdringlichen und konzentrierten Präsentation hat eine besondere Intensität.
Das inhaltliche Spektrum müssen sich die Besucherinnen und Besucher freilich erst selbst erschließen. Es zeigt sich nur teilweise durch die Ausstellung als solche, die eben eine Kunstausstellung ist. Das geplante Rahmenprogramm ist unter den Bedingungen der Covid-19-Pandemie etwas eingeschränkt; es gibt aber Führungen und digitale Vermittlungsangebote. Ergänzend wäre ein dokumentierender und vertiefender Katalog zu wünschen. Diese Lücke muss indes nicht nur ein Nachteil sein, denn die Ausstellung gibt vielfältige Impulse, das Gezeigte und Gesehene durch eigenständige Lektüren und Recherchen zu vertiefen: Worum ging es in den fotografisch dargestellten Büchern genau, was verbirgt sich hinter den oft etwas rätselhaften Titeln? Welche Biografien hatten die Autorinnen und Autoren, die Gestalterinnen und Gestalter – vor 1933 und danach? Welche Diskussionen, Korrespondenzen und Entwürfe mögen den veröffentlichten Büchern vorausgegangen sein? Welchen Stellenwert hatten die unterschiedlichen Verlage im Publikationswesen der Weimarer Zeit – und später? Wie war das hier nicht sichtbare Innere der Bücher typografisch und visuell gestaltet? Wie wurden die Bücher zu ihrer Entstehungszeit rezipiert? Welche wurden nach dem Ende der NS-Herrschaft neu aufgelegt, welche nicht – und warum nicht? Wie verändert sich der Eindruck vom Gehalt eines Buches, wenn es mit einem anderen Umschlag und in einem anderen Verlag erscheint? Wie steht es zudem mit der Überlieferungsgeschichte der gezeigten Exemplare in den privaten Sammlungen – welchen Weg über die Epochen hinweg haben die Bücher zurückgelegt? Was hat die Künstlerin bei ihren Vorarbeiten darüber eventuell erfahren?
„Das Buch wird Bild“, heißt es im Eingangstext zur Ausstellung. Überraschenderweise lässt die Beschränkung auf das zweidimensionale Medium Fotografie die Materialität der Bücher aber keineswegs vergessen, sondern hebt in vieler Hinsicht hervor, was die eigenen Qualitäten der „Holzmedien“ waren und sind – mit ihrer ganzen Breite von Geschichte und Geschichten hinter den digitalen Oberflächen.[9]
[1] https://www.adk.de/de/projekte/2020/heartfield/. Auch nach dem Ende der Ausstellung ist das material- und informationsreiche Online-Angebot weiter zugänglich: https://heartfield.adk.de [15.08.2020].
[2] https://www.museum-frieder-burda.de/de/salon-berlin/ausstellung/ [15.08.2020].
[3] Einen leicht zugänglichen Überblick gibt die Website https://verbrannte-orte.de [15.08.2020]; sie stützt sich v.a. auf Julius H. Schoeps/Werner Treß (Hg.), Orte der Bücherverbrennungen in Deutschland 1933, Hildesheim 2008.
[4] https://www.youtube.com/watch?v=mSJsqFRc0s0; https://yesterdaytomorrow.nsdoku.de/kuenstlerinnen/kelm [15.08.2020].
[5] Vgl. etwa die Website des Landes Berlin zum 75. Jahrestag der Bücherverbrennung: „Berlin im Nationalsozialismus: Verbannte Bücher“, https://www.berlin.de/berlin-im-ueberblick/geschichte/berlin-im-nationalsozialismus/verbannte-buecher/ [15.08.2020]; Wikipedia: „Liste der 1933 verbrannten Bücher“, https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_1933_verbrannten_B%C3%BCcher [15.08.2020]. Trotz aller zeitgenössischen und späteren Akribie in der Erstellung derartiger Listen ist keine absolute „Vollständigkeit“ erreichbar, die die nationalsozialistische Praxis komplett abbilden könnte, zumal es beim Aussortieren missliebiger Werke gerade in den Anfangsjahren der NS-Herrschaft viel lokale Eigeninitiative gab.
[6] Klaus Detjen, Außenwelten. Zur Formensprache von Buchumschlägen, Göttingen 2018, konzentriert sich weitestgehend auf die Zeit nach 1945, lässt Heartfield aber auch nicht unerwähnt (S. 14f.).
[7] Siehe dazu die Besprechung von Jens Asthoff, in: KUNSTFORUM International 269 (2020), S. 267-269.
[8] Wie schon verschiedentlich kritisiert worden ist, werden Schutzumschläge in Bibliotheken meist „entsorgt“, was die buchwissenschaftliche Forschung vielfach erschwert. Siehe etwa die Rezension von David Oels über Jürgen Holstein (Hg.), Buchumschläge in der Weimarer Republik, Köln 2015, in: H-Soz-Kult, 22.11.2016 [15.08.2020].
[9] Dies ist nun nicht als „Memento eines Kulturpessimismus“ gemeint; siehe vielmehr Roland Reuß, Die perfekte Lesemaschine. Zur Ergonomie des Buches, Göttingen 2014, 2. Aufl. 2016 (Zitat S. 11); Michael Hagner, Zur Sache des Buches, Göttingen 2015, 2., überarb. Aufl. 2015; und jüngst Sascha Michel, Die Unruhe der Bücher. Vom Lesen und was es mit uns macht, Ditzingen 2020.
Zitation
Jan-Holger Kirsch, „Das Buch wird Bild“. Annette Kelms Fotoausstellung „Die Bücher“ im Museum Frieder Burda, Salon Berlin, in: Visual History, 17.08.2020, https://visual-history.de/2020/08/17/das-buch-wird-bild/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1818
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