Freiwilligkeit und Zwang

Eine Diskussion im Kontext der frühen ethnologischen Fotografie

Im Zuge von Handelsreisen, Verwaltungstätigkeiten und Forschungsexpeditionen entstanden bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Fotografien in kolonialistisch-eurozentrischen Kontexten,[1] die das Leben der Bewohner*innen der bereisten Gebiete „als Fremdbilder […] vermittelt durch die vielfältigen Mechanismen der Distribution und des Konsums“[2] darstellten. Manche bilden eindeutig erkennbar inszenierte Szenen wie Gruppenporträts, Kampfgeschehen oder arrangierte Studioaufnahmen ab, andere hingegen suggerieren, dass die Fotografien spontan im Feld aufgenommen wurden. Sie umfassen auch standardisierte anthropometrische Aufnahmen, sogenannte Typenfotografien,[3] welche die abgebildeten Personen häufig nackt oder in vermeintlich traditionellen Gewändern zeigen und wiederum als Wissensquelle für Forscher*innen zur Identifizierung von Gruppen dienten.

Vielfach galten die Abgebildeten dabei als Gegenbild zur westlichen Zivilisation. So stellt der Historiker Jens Jäger fest: „Ob es sich nun um Bilder von Einwohnern der europäischen Kolonien handelte, um Aufnahmen von Bauern, Arbeitern und Angehörigen der Unterschichten oder um Bilder von bürgerlichen Männern und Frauen, implizit wurden diese in der ‚westlichen‘ Kultur an der Norm des weißen, bürgerlichen Menschen (vor allem des Mannes) gemessen.“[4]

Der überwiegende Teil der Bilder, die in einem im weitesten Sinne ethnologischen Forschungskontext aufgenommen und überliefert worden sind, wurde zudem nicht von den Einheimischen erstellt. Sie bilden Machtverhältnisse mal ganz offen, mal verdeckter ab. So existieren Bilder, die zeigen, wie Kolonialbeamte in Sänften getragen werden oder sich in der Rikscha ziehen lassen. Auf anderen Fotos sind gebückte Einheimische bei der Plantagenarbeit zu erkennen, die durch stehende weiße koloniale Aufseher beobachtet werden.[5] Manchmal sind die Machtverhältnisse subtiler repräsentiert, beispielsweise wenn Kinder gezeigt werden, die im Zuge einer „Zivilisierungsmission“ in eine „Indianerschule“ eingegliedert werden. Andere rufen den Eindruck hervor, dass Distanz gewahrt wird; Blick- und Körperkontakte sind nicht vorhanden.

 

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Zwei amerikanische Soldaten sitzen in einer, von einem indischen Mann von Hand gezogenen Rikscha, Kalkutta 1945. Foto: Robert Keagle. Quelle: Wikimedia Commons public domain
Die technische Präsentation soll darauf aufmerksam machen, dass es sich hierbei um eine „Fotografie-wider-Willen“ (Cornelia Brink) handelt, die Machtverhältnisse abbildet und sehr wahrscheinlich ohne Einwilligung des Mannes entstanden ist.

 

Viele Fotografien werfen Fragen der Freiwilligkeit im Zusammenspiel mit den (kolonialen) Autoritäten auf. Zahlreiche dieser Bilder lassen sich als „Fotografien-wider-Willen“ bezeichnen, in denen der „Körper als Objekt“ gesehen wird.[6] Laut Cornelia Brink rückt der Begriff „Fotografien-wider-Willen“ die Entstehungsbedingungen einer Fotografie in den Vordergrund: eine Aufnahmesituation, die von Zwang, von einem Machtverhältnis, in jedem Fall von einer asymmetrischen Beziehung zwischen Fotograf und Fotografiertem bestimmt ist. Eine dritte Instanz, in deren Auftrag oder mit deren Zustimmung fotografiert wird, kann, muss aber nicht im Bild sichtbar sein. Der Begriff übernimmt die Perspektive der Fotografierten, die keine Möglichkeit haben, sich gegen den Akt des Fotografierens zu wehren.“[7]

Teile der Fotografien sind durch direkte Machtausübung unter Zwang entstanden, bei anderen lebten die Forscher*innen über längere Zeit in den Gruppen, sodass nicht unbedingt von einem unmittelbaren Zwang ausgegangen werden kann. Allerdings bestand auch in diesen Situationen die strukturelle Eingebundenheit in koloniale Machtverhältnisse trotzdem fort, und eine Einwilligung der Abgebildeten zur Fotografie ist auch hier ungeklärt. Auch mit ihrem Einverständnis ist ihre Objektifizierung angesichts des geringen Einflusses darauf, was mit den Fotografien von ihnen im weiteren Verlauf geschah oder geschehen konnte, nicht abzustreiten. Dieses strukturell hierarchische Verhältnis spiegelt sich auch in den Begleittexten der Fotos wider. Auf der einen Seite stehen oft die namentlich genannten Fotograf*innen, auf der anderen Seite die zumeist namenlos bleibenden Fotografierten.

In vielen Fotografien zeigt sich der einseitige Blick der westlichen (überwiegend männlichen) Beobachter*innen auf die lokale Bevölkerung. Die Perspektive der abgebildeten Personen innerhalb der kolonialen Konstellation ist selten wahrnehmbar,[8] wenngleich ihnen deswegen nicht grundsätzlich jedwede Handlungsmacht abgesprochen werden kann. Einige Fotografien legen schließlich auch Zeugnis darüber ab, wie die lokale Bevölkerung den kolonialen Einfluss wahrnahm und welche Vorstellungen und Bilder sie sich von den Europäer*innen machten. Seltener wird auch das Interesse der weißen Bevölkerung in Europa deutlich, zum Beispiel bei Fotografien der Völkerkundeausstellungen, auf denen der voyeuristische Blick der europäischen Beobachter*innen physisch sichtbar wird (und bei denen auch zu klären wäre, inwieweit die fotografierten Besucher*innen um Einverständnis gebeten wurden).

Trotz all dieser Probleme sind solche Fotografien wichtige historische Quellen, die auch heute noch eine wissenschaftliche Relevanz besitzen. Einerseits sind sie, trotz aller Inszenierungen, Zeugnisse und eine subjektive Dokumentation der damaligen Zeit. Als solche lassen sie Rückschlüsse auf das Wissenschaftsverständnis des Fachs und die Entwicklung der Fototechnik zu. Sie sind wichtige Fragmente einer Welt, die sonst nicht mehr erhalten wäre. Andererseits helfen sie, durch die Motiv-, Themen- und Präsentationswahl zu verstehen, welche Projektionen und Stereotype eingeflossen sind und inwiefern dies zu Imaginationen über die bereisten Gebiete und deren Bevölkerungen beitrug.

Die Bilder ermöglichen somit wichtige Rückschlüsse auf den Konstruktionsprozess von Alterität und Identität. Elizabeth Edwards und Matt Mead weisen im Kontext von Museen darauf hin, dass das Zeigen von Bildern einer Unsichtbarmachung von problematischen Ereignissen in der Geschichte entgegenwirken und eine „structured amnesia“[9] verhindern könne. Die Fotografien können als Mittel dienen, um ein komplexeres, oft auch widersprüchliches historisches Narrativ zu zeichnen, und einen Anlass für eine tiefgreifendere Geschichtsauseinandersetzung bieten, die dann auch die erwähnte Handlungsmacht der Abgebildeten in den Blick nehmen kann.

Hinsichtlich der Bewertung der Bilder ist es schwierig, ein eindeutiges Urteil zu fällen: Inwiefern reproduzieren die Bilder automatisch Diskriminierung und Machtverhältnisse, und ab welchem Zeitpunkt kommt es zur Reproduktion von Stereotypen in der Gegenwart? Nehmen die Nachkommen der Abgebildeten die Fotografien als problematisch wahr? Sind Bevölkerungsgruppen per se die passenden Ansprechpartner*innen, und haben einzelne Vertreter*innen das Recht, für die ganze Gruppe zu sprechen?

Exemplarisch soll hier auf die Erfahrungen von Doris Byer eingegangen werden. Sie ist die Tochter des Völkerkundlers und Fotografen Hugo Bernatzik (1897-1953), der in den Jahren 1932/33 auf der Salomoneninsel Santa Ana (Owa Raha) forschte und das dortige Leben und die Bevölkerung auf zahlreichen Fotografien festhielt. In ihrem Essay „Die Rückkehr des Geraubten Schattens – Ethnographische Fotos kehren nach einem halben Jahrhundert an den Ort ihrer Entstehung zurück“ beschreibt Byer ihre Erfahrungen mit den Nachkommen der Abgebildeten, die sie im Zuge eines Filmprojekts besuchte. Anders als von ihr antizipiert, nahmen diese die Fotografien jedoch nicht als Ausweis westlicher Dominanz und Unterdrückung wahr, sondern freuten sich vielmehr darüber, (Jugend-)Erinnerungen an sich selbst oder ihre Vorfahren zu erhalten. Der persönliche Kontakt führte für Byer zu einer Revision der eigenen Vorannahmen und wurde für sie zu einem „Korrektiv eigener Projektionen“.[10]

Nach Jäger „ist davon auszugehen, dass sich relativ schnell indigene Praktiken des Fotografierens und Fotografiert-Werdens entwickelten […]. Koloniale Abbildungsformen können zumeist als ‚Hybride‘ begriffen werden, in denen Deutungszusammenhänge verschiedener kultureller Praktiken einflossen.“[11] Hier wird deutlich, dass hinsichtlich der Bewertung der Bilder a priori keine eindeutige Unterscheidung vorgenommen werden kann, inwiefern diese problematisch oder unproblematisch sind. Graubereiche werden fortbestehen.[12]

 

 

[1] Damit meinen wir nicht nur Gegebenheiten aus direkten kolonialen Machtverhältnissen, sondern auch alle Situationen, die sich vor dem Hintergrund der überwiegend westlich dominierten Machtstrukturen der Zeit in Regionen der Welt, die gerne als „Peripherie“ betrachtet werden, abspielten.

[2] Hans-Peter Bayerdörfer/Bettina Dietz/Frank Heidemann/Paul Hempel, Einleitung, in: dies. (Hg.), Bilder des Fremden: Mediale Inszenierung von Alterität im 19. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 7-16, hier S. 11.

[3] Vgl. hierzu Paul Hempel, Facetten der Fremdheit: Kultur und Körper im Spiegel der Typenphotographie, in: Bayerdörfer/Dietz/Heidemann/Hempel (Hg.), Bilder des Fremden, S. 177-205.

[4] Jens Jäger, Fotografie und Geschichte, Frankfurt a.M. 2009, S. 155.

[5] Hier zum Beispiel im Süden der USA: siehe die digitalisierten Fotografien veröffentlicht in der virtuellen Fachbibliothek der ethnologischen Fächer „EVIFA“ der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, https://digi.evifa.de/viewer/image/DE-11-001876986/519/ [05.08.2020].

[6] Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 156-157.

[7] Cornelia Brink, Vor aller Augen: Fotografien-wider-Willen in der Geschichtsschreibung, in: Werkstatt Geschichte 47 (2007), S. 61-74, hier S. 61, online unter https://werkstattgeschichte.de/wp-content/uploads/2017/01/WG47_061-074_BRINK_AUGEN.pdf [05.08.2020].

[8] Vgl. das Gruppenbild, EVIVA, https://digi.evifa.de/viewer/image/DE-11-001832342/363/ [05.08.2020].

[9] Elizabeth Edwards/Matt Mead, Absent Histories and Absent Images: Photographs, Museums and the Colonial Past, in: Museum & Society 11 (2013), H. 1, S. 19-38, online unter https://journals.le.ac.uk/ojs1/index.php/mas/article/view/220/233 [05.08.2020].

[10] Doris Byer, Die Rückkehr des Geraubten Schattens, in: Thomas Theye (Hg.), Der geraubte Schatten: eine Weltreise im Spiegel der ethnographischen Photographie [Ausstellung des Münchner Stadtmuseums und des Berliner Hauses der Kulturen der Welt], München 1989, S. 142-163, hier S. 161.

[11] Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 178.

[12] In unserem Artikel „Zeigen / Nichtzeigen“ gehen wir auf einen möglichen Umgang mit diesen problematischen Materialien näher ein: Matthias Harbeck/Moritz Strickert, Zeigen / Nichtzeigen, in: Visual History, 21.09.2020, https://visual-history.de/2020/09/21/zeigen-nichtzeigen/ [28.09.2020].

 

 

Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet, hg. von Christine Bartlitz, Sarah Dellmann und Annette Vowinckel

Themendossier: Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet

 

 

Zitation


Matthias Harbeck und Moritz Strickert, Freiwilligkeit und Zwang. Eine Diskussion im Kontext der frühen ethnologischen Fotografie, in: Visual History, 28.09.2020, https://visual-history.de/2020/09/28/freiwilligkeit-und-zwang/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1928
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