Bildproteste in den Sozialen Medien

 

Welche Rolle spielen Bilder für Protestbewegungen weltweit? Sind sie Dokumente oder Auslöser von Protesten? Inwiefern agieren sie selbst als Akteure im Netz? Das von der DFG geförderte Forschungsprojekt untersucht die Ästhetiken, Affekte und Algorithmen gegenwärtiger Bildproteste in den Sozialen Medien. Das bildtheoretische Interesse des Projekts ist es, vier Dimensionen von Bildprotesten in ihren wechselseitigen Bezügen zu bestimmen: Proteste als Bildmotiv, Proteste, die sich gegen Bilder richten, Bilder als Instrumente des Protests sowie Bilder als Akteure, die eine unkontrollierbare Eigendynamik innerhalb von Protesten entwickeln. Durch den Einbezug künstlerischer Praktiken ist die Theoriebildung außerdem eng mit kunstwissenschaftlichen Fragestellungen verknüpft und soll zu einem Ansatz ausgeweitet werden, der das Verhältnis von Bild, Protest und Kunst im Zeitalter der Sozialen Medien neu definiert.

Diese Konstellation wird mit dem Begriff der Bildproteste theoretisch gefasst und in drei miteinander verschränkten Arbeitsbereichen untersucht. Die Teilprojekte 1 und 2 widmen sich mit Internet-Memes als politischer Bildpraxis und mit Videos von Polizeigewalt zwei besonders virulenten Beispielen von Bildprotesten in den Sozialen Medien. Auf einer übergeordneten Ebene fokussiert Teilprojekt 3 die Aneignung und Reflexion dieser Bildproteste in der Gegenwartskunst. Diese Schwerpunktsetzungen erlauben es, drei sehr unterschiedliche, gleichwohl zentrale Modi digitaler Bildproteste – nämlich deren propagandistische, dokumentarische und künstlerische Dimensionen – in ihrer Relationalität zu analysieren.

Eine Variante des Tank-Man-Meme mit gelben Gummienten auf der Grundlage von Jeff Wideners Foto des „Tank Man“ am Platz des Himmlischen Friedens, das mit Bildern einer Kunstaktion des niederländischen Künstlers Florentijn Hofman kombiniert wurde. Die gigantische Yellow Rubber Duck war 2013 ein Publikumsmagnet im Hafen von Hongkong. Das Meme erschien zuerst auf dem chinesischen Mikroblogging-Dienst Weibo. Durch das Ersetzen der Panzer durch die gelben Enten konnten Zensuralgorithmen das Meme nicht mehr herausfiltern. Das ermöglichte im Jahr 2018 online das Gedenken an das Massaker auf dem Tian’anmen-Platz vom 4. Juni 1989. Quelle: https://www.kqed.org/lowdown/13161/on-tiananmen-square-anniversary-using-creative-memes-to-circumvent-censorship [13.06.2022]

Teilprojekt 1: Memes als politische Bildpraxis (Dr. Verena Straub)

Kaum ein politisches Ereignis kommt heute ohne seine Verarbeitung in Form von Internet-Memes aus. Im Kontext politischer Protestbewegungen – von der Neuen Rechten bis hin zu Black Lives Matter, dem Widerstand gegen die chinesische Internetzensur oder dem Ukrainekrieg – werden Memes genutzt, um die jeweiligen Gegner anzugreifen und Affektgemeinschaften zu mobilisieren. Meme-Praktiken reichen von konventionalisierten Bild-Text-Kombinationen sogenannter Image Macros über Photoshop-Montagen bis hin zu „Selfie-Protesten“ oder fotografischen Reenactments. Inwiefern rekurrieren diese Bildpraktiken auf Vorläufer in der visuellen Kunst und Kultur? Inwiefern haben die Algorithmen und Kommunikationsstrukturen der Sozialen Medien aber auch zu einer radikalen Neukonfiguration politischer Bildproteste geführt?

Memes zeichnen sich gerade durch ihre Schwarmlogik aus und konstituieren sich durch die Vielzahl miteinander vernetzter Einheiten. Ziel des Teilprojekts ist es, gerade die ambivalenten visuellen Resonanzeffekte innerhalb eines Meme-Komplexes nachzuvollziehen und die Unkontrollierbarkeit von „Meme-Protesten“ herauszuarbeiten, die häufig an der Schwelle von Humor und Kritik operieren und im Zuge der viralen Verbreitung ihre politische Stoßrichtung ändern können.

Protestierende in Hongkong mit Plakaten, die Pepe-the-Frog-Memes zeigen. Die Comicfigur Pepe the Frog, die Matt Fury 2005 gezeichnet hatte, wurde 2016 von der extremen Rechten in den USA als Symbol vereinnahmt. 2019 erlebte die Froschfigur eine politische Umdeutung, als sie von der prodemokratischen Bewegung in Hongkong als Bildzeichen für Demokratie und Freiheit angeeignet wurde. Foto von Joseph Chan, Quelle: https://unsplash.com/photos/-cePvX96qBA [13.06.2022]

Teilprojekt 2: Videos von Polizeigewalt (Tanja-Bianca Schmidt, M.A.)

Videos von Polizeigewalt nehmen eine wichtige Position bei Protestbewegungen gegen Polizeiwillkür, Unterdrückung und Xenophobie ein. Das Teilprojekt fokussiert ein virulentes und bislang wenig beachtetes Videokorpus, das aus Aufnahmen von polizeilicher oder militärischer Gewalt gegen Migrant:innen besteht. Das Spektrum dieser Videos ist vielfältig – es reicht von handygefilmten Amateuraufnahmen bis zu Aufnahmen staatlicher Überwachungstechnologien, von zufällig eingefangenen Gewalthandlungen bis hin zu Aufnahmen von Aktivist*innen. Videos aus den Grenzbereichen entfalten ein komplexes Netz aus Dämonisierungs- und Viktimisierungsdiskursen und zeichnen sich vor allem durch ihre politische Uneindeutigkeit aus. Sie entwickeln eine unvorhersehbare Dynamik und mobilisieren Protestaktionen von promigrantischen Gruppen ebenso wie von Migrationsgegner:innen. Inwiefern prägen die unterschiedlichen Kameratechniken im Grenzbereich sowie die Algorithmizität der Netzwerke neue Ästhetiken und Dynamiken der Bildkommunikation? Inwieweit verfestigen sich in Videos von Polizeigewalt (Staats-)Macht und Gegenwehr?

Ziel des Teilprojekts ist es, die Persistenz visueller Codes nachzuvollziehen, die auf die Bewertung der dargestellten Gewalt zurückwirken. Dazu soll eine Analysematrix erstellt werden, die es erlaubt, neben bild- und filmästhetischen Merkmalen, wie Unschärfe, Kamerabewegung, Lichtverhältnisse usw., auch Bildmotive hinsichtlich eines Affizierungs- und Mobilisierungspotenzials zu systematisieren und auszuwerten.

Die Aufnahmen der Überwachungskameras im Grenzbereich Melilla wurden vom spanischen Innenministerium freigegeben und von verschiedenen Nachrichtenagenturen genutzt. Republica TV beispielsweise veröffentlichte diese Bilder am 3. Mai 2014 in einer fast dreiminütigen Montage verschiedener Quellen unter dem Titel „Melilla, der Angriff von Hunderten Migranten“. Der Filmemacher Manthia Diawara zeigte in „An Opera of the World“ (2017) die gleichen Aufnahmen in Verbindung mit einer gewaltsamen Polizeihandlung der Grenzschutzbehörden, die von der Organisation Human Rights Watch dokumentiert wurde. Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=uQllUYYY8qc [13.06.2022]

Teilprojekt 3: Künstlerische Aneignung und Reflexion von Bildprotesten (Prof. Dr. Kerstin Schankweiler)

Die im Projekt untersuchten Bildproteste werden auch in der Gegenwartskunst aufgegriffen und neu verhandelt. Das Teilprojekt geht von der Beobachtung aus, dass die stark politisierten digitalen Bildkulturen zu einer zentralen ästhetischen Ressource für die zeitgenössische Kunst geworden sind und die Grenze zwischen Bildern der Medien und Bildern der Kunst zunehmend fließend ist. Am Beispiel ausgewählter künstlerischer Positionen, die als Reaktion auf Memes oder Videos von Polizeigewalt entstanden sind, will das Teilprojekt diesen Zusammenhang erforschen.

Während der Transfer der Social Media-Bilder in die Kunst offensichtlich ist, ist das Einfließen von künstlerischen Praktiken in die digitale Bildkultur weniger eindeutig nachzuweisen. Trotzdem geht das Projekt von einem wechselseitigen Beobachtungsverhältnis beider Sphären aus, das in enger Zusammenarbeit mit den beiden anderen Teilprojekten näher bestimmt werden soll. Ein übergeordnetes kunstwissenschaftliches Ziel dieses Teilprojekts ist es, zu untersuchen, inwiefern die Paradigmen digitaler Bildkulturen zu Verschiebungen in der Kunst führen und wie umgekehrt Bildproteste in den Sozialen Medien durch (historische) künstlerische Ansätze geprägt sind.

 

Methodenarbeit

Die schiere Masse an Bildern und die mit ihnen verknüpften Metadaten stellen die kunst- und bildwissenschaftliche Forschung insgesamt vor neue Herausforderungen. Ein Schwerpunkt unserer Projektarbeit liegt deshalb auf der Entwicklung eines innovativen Methoden-Mix, der kunsthistorische Methoden mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen der Affect Studies verbindet, zugleich aber auch digitale Analysetools kritisch reflektiert und für die bildwissenschaftliche Forschung erprobt. Für das Frühjahr 2023 planen wir dazu einen Workshop an der TU Dresden.

 

Bildproteste in den Sozialen Medien, Videos von Polizeigewalt und Bezüge zur Kunst

 

Institution: Technische Universität Dresden, Lehrstuhl für Bildwissenschaft im globalen Kontext, gefördert von der DFG.

Twitter Account: https://mobile.twitter.com/bildproteste

Kontakt: kerstin.schankweiler@tu-dresden.de, verena.straub@tu-dresden.de

 

 

English

Image Protests on Social Media

What role do images play in protest movements worldwide? To what extent can images be viewed as political actors that not only document, but shape and initiate protests online? The DFG-funded research project investigates the aesthetics, affects and algorithms of contemporary image protests on social media. The project’s theoretical interest is to determine four dimensions of image protests in their reciprocal relationships: Protests as image motifs, protests directed against images, images as instruments of protest, and images as actors that develop uncontrollable dynamics of their own within protests. By including artistic practices, the theory-building is also closely linked to issues in art studies and will be expanded into an approach that redefines the relationship between image, protest, and art in the age of social media.

This constellation is theoretically defined by the term of image protests, and will be studied in three intertwined fields of work. Sub-projects 1 and 2 are focusing on two particularly virulent examples of image protests on social media: Internet memes as political practice and videos of police violence. On another level, sub-project 3 focuses on the appropriation and reflection of these image protests in contemporary art. These focal points make it possible to analyse three very different, yet central modes of digital image protests – namely their propagandistic, documentary, and artistic dimensions – and their relations to each other.

 

Subproject 1: Memes as Political Image Practice (Dr. Verena Straub)

There is hardly a political event today that goes by without being processed in the form of Internet memes. In the context of political protest movements – from the New Right to Black Lives Matter, the resistance against Chinese internet censorship, or the Ukraine war – memes are used to attack the respective opponents and to mobilize affective communities. Meme practices range from conventional image-text combinations of so-called “image macros,” to Photoshop montages, to “selfie protests,” and photographic re-enactments. To what extent do these visual practices refer to precursors in visual art and culture? To what extent have the algorithms, affordances and communication structures of social media also led to a radical reconfiguration of political image protests?

Memes are characterised precisely by their swarm logic and are constituted by the multiplicity of interconnected units. The aim of this sub-project is to investigate the ambivalent visual resonance effects within a meme complex and highlight the uncontrollability of meme protests, which often operate on the threshold of humor and criticism and can change their political direction in the course of viral dissemination.

 

Subproject 2: Videos of Police Violence (Tanja-Bianca Schmidt, M.A.)

The second sub-project focuses on a virulent and to this point little-noticed video corpus consisting of police or military violence against migrants. These videos take a vital position in protest movements against police arbitrariness, oppression, and xenophobia. Their aesthetics are very diverse – they range from mobile phone recordings filmed by amateurs to recordings of state surveillance technologies. As an integral part of complex demonisation and securitisation practices, these videos are mostly characterised by political ambiguity.
Videos of lethal force develop an unpredictable dynamic and mobilise protest by pro-migrant groups and opponents of migration. To what extent are (state) power and resistance embedded in videos of police violence? How do different camera techniques in the border area and the algorithmic nature of the networks shape new aesthetics and dynamics of image communication?

The sub-project aims to trace the persistence of visual codes that shape the perception of the violence depicted. An analysis matrix will be created to evaluate the videos in terms of their potential to mobilize. In adding image and film aesthetic components such as blurriness, camera movement, lighting conditions, etc., this tool will also be useful to determine the emotive effects on the viewer.

 

Subproject 3: Artistic Appropriation and Reflection of Image Protests (Prof. Dr. Kerstin Schankweiler)

The image protests investigated in the project are revisited and renegotiated in contemporary art. The third sub-project starts from the observation that the highly politicised digital visual cultures have become a central aesthetic resource for contemporary art and that the boundary between images of the media and images of art is increasingly fluid. This sub-project aims to explore this connection by looking at selected artistic positions that have emerged as a reaction to memes or videos of police violence.

While the transfer of social media images to art is obvious, the influence of artistic practices on digital visual culture is less clear. Nevertheless, the project assumes a reciprocal observational relationship between the two spheres, which will be further defined in close collaboration with the other two sub-projects. An overarching theoretical aim of this sub-project is to investigate to what extent the paradigms of digital visual cultures lead to shifts in art and how, conversely, image protests on social media are shaped by (historical) artistic approaches.

 

Methodology

The sheer mass of images and the metadata linked to them poses new challenges for art, as well as research in art and visual studies. One focus of our project is therefore to develop an innovative mix of methods that combines art historical methods with approaches from affect studies, while at the same time critically reflecting on digital analysis tools and exploring their use for visual culture research. We are planning a workshop on this topic in spring 2023 at the TU Dresden.

 

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