VH-Empfehlungen der Redakteurinnen aus dem Jahr 2022

 

Die Visual History-Redaktion hat das Jahr 2022 noch einmal Revue passieren lassen und ganz individuelle „Highlights“ der Redakteurinnen ausgewählt.

Das Jahr war durch den russischen Überfall auf die Ukraine geprägt: Seit dem 24. Februar 2022 ist nichts mehr so, wie es einmal war. Der russisch-ukrainische Krieg ist eine politische Zäsur. Wir wissen nicht, was noch kommt, wie dieser Krieg ausgehen wird. Die Redaktion hat in den folgenden Monaten ein (partizipativ angelegtes und weiterhin offenes) Themendossier „Bilder des Krieges in der Ukraine“ zusammengestellt, das sich mit der Rolle der visuellen Medien in diesem Krieg beschäftigt.

Die Journalist:innen in den Bildredaktionen standen und stehen dabei vor besonders großen Herausforderungen im Umgang mit dem Bildmaterial. Daher haben wir im Frühjahr und Sommer des Jahres Interviews geführt, um mehr über diese Arbeit zu erfahren. Kurz nach Kriegsbeginn im März 2022 ist das Interview mit Stefan Günther über das Journalisten-Netzwerk n-ost erschienen, das unsere Redakteurin Josephine Kuban als Highlight ausgewählt hat. Günther schildert darin eindringlich, dass es im Krieg nicht nur um Bilder und Reportagen geht, sondern auch darum, schusssichere Westen für die Journalist:innen und Fotograf:innen zu beschaffen, damit sie ihre Arbeit überhaupt machen können.

„Im Interview ‚Journalismus in Kriegszeiten‘ spricht Christine Bartlitz mit Stefan Günther, Projektleiter Fotografie, vom Journalisten-Netzwerk n-ost über Bilder in der Kriegsberichterstattung, aber auch über die grenzüberschreitende und kollaborative Arbeit von n-ost. Das spannende Interview bot mir im Frühjahr eine erste Orientierung in einer überfordernden Zeit, ist aber auch zum Jahresende noch mindestens genauso lesenswert.“ (Josephine Kuban)

Rechts steht ein Kind in Camouflage-Hose mit langen Gewehren in den Händen, rechts die Statue eines Soldaten mit Gewehr im Schnee.

Zwei Bilder aus der neuen n-ost Newsletter Publication EUROPEAN IMAGES: links: Fotografie von Natalia Kepesz © aus der Serie „Niewybuch“; rechts Ramin Mazur © aus der Serie „Memory of War“

Unsere Redakteurin Violetta Rudolf hat sich für das Interview mit Michael Pfister und Andreas Prost aus der Bildredaktion von „Zeit Online“ entschieden: „Alles hat sich verdichtet“ – Kriegsbilder aus der Ukraine

„Seit Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfallen hat, informiert der Live-Blog von Zeit Online rund um die Uhr über die aktuellen Entwicklungen. Andreas Prost und Michael Pfister aus der Bildredaktion berichten, wie sie mit dem ‚Hunger‘ nach Bildern umgehen. Dabei geht es um die Verifizierung des Materials, eine Bildauswahl nach ethischen Kriterien und schlussendlich um die Frage: ‚Ist es nötig, dieses Bild zu zeigen?‘ Ein aufschlussreiches Interview, das zeigt, wie viele Aspekte bedacht werden müssen, um mit der potenziellen Wirkmächtigkeit von Bildern in der Presseberichterstattung einen verantwortungsvollen Umgang zu finden.“ (Violetta Rudolf)

Zwei Personen, aneinander angelehnt, im Vordergrund; im Hintergrund eine dritte Person am Handy und gepackte Taschen.

Screenshot Zeit Online [01.08.2022], „Zu Hause ist Krieg“, 5. März 2022. Foto: Anna Tiessen für ZEIT ONLINE ©

„Es geht darum, ein Gleichgewicht zu finden“, sagt die Journalistin Ronja von Wurmb-Seibel im Interview mit Janine Funke und regt zum Nachdenken an über die mediale Berichterstattung, die Auswahl von Bildern und unseren eigenen Nachrichtenkonsum. Unsere Volontärin Janaina Ferreira dos Santos, die uns in diesem Jahr  bei der Redaktionsarbeit hervorragend unterstützt hat, wählte diesen Beitrag als Highlight:

„Ronja von Wurmb-Seibels Überlegungen zu konstruktivem Journalismus und der Bedeutung von Bildern sind auch für Historiker:innen äußerst relevant. Nicht nur sollten wir die emotionale Wirkung unserer Arbeit auf das Publikum reflektieren, sondern auch achtsam demgegenüber sein, was die stetige Auseinandersetzung mit Krieg, Gewalt und Verfolgung mit uns als Forscher:innen und Autor:innen macht.“ (Janaina Ferreira dos Santos)

Drei Jugendliche fahren auf zwei Motorrädern über eine staubige Straße einer Stadt.

Screenshot aus dem Trailer des Dokumentarfilms „True Warrior“, DE 2018, Regie: Ronja von Wurmb-Seibel, Niklas Schenck ©, in: Youtube [22.07.2022]

Bilder des Krieges behandelt auch der Beitrag, den unsere Kollegin Annette Vowinckel ausgewählt hat: Aber es sind Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg, fotografiert von einem deutschen Wehrmachtssoldaten. In dem Interview, das Alexander Kraus mit Jens Jäger geführt hat, geht es um die „Visuelle Dokumentation und fotografische Erinnerung an den ‚Russland Feldzug‘: das Kriegsalbum des Hattorfers Willi Mohrmann“.

„Der Beitrag von Alexander Kraus und Jens Jäger hat mir sehr gut gefallen, weil darin an einem sehr konkreten Beispiel, nämlich dem Fotoalbum eines Wehrmachtssoldaten aus dem Russland-Feldzug im Zweiten Weltkrieg, gezeigt wird, was man aus einer so speziellen Quelle herausholen kann. Das wird sehr anschaulich gemacht in einem Dialog zwischen den beiden, der viel Raum lässt für eigene Gedanken.“ (Annette Vowinckel)

Seite aus einem privaten Fotoalbum.

Album von Willi Mohrmann, „Russland Feldzug 1941-1945“: Quelle: Regina Zimmermann privat

„Ich finde, man muss es zeigen“, sagt die deutsch-peruanische Fotografin Vera Lentz im Interview mit der Historikerin Isabel Enzenbach und meint damit die „Bilder der Gewalt“ des internen bewaffneten Konflikts in Peru von 1980 bis 2000,  der von einer hemmungslosen Gewalt geprägt war.  Christine Bartlitz hat dieses Interview gewählt, weil es – gerade auch mit Blick auf den russisch-ukrainischen Krieg – zeigt, wie wichtig Fotografien bei der Aufklärung von Kriegsverbrechen sind.

„Die deutsch-peruanische Fotografin Vera Lentz hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, mit ihren Fotografien zu dokumentieren, welche Gräueltaten und was für ein unermessliches Leid der maoistisch-kommunistische Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) sowie die peruanischen Sicherheitskräfte den Menschen im Hochland der Anden angetan haben. In dem Interview mit Isabel Enzenbach wird deutlich, wie viel persönlichen Mut und Beharrlichkeit es vonseiten der Fotografin braucht, Kriegsverbrechen durch Bilder zu dokumentieren und somit einen wertvollen Beitrag zu ihrer Aufklärung zu leisten.“ (Christine Bartlitz)

Zwei schmutzige Hände, die ein winziges Bild eines Mannes in die Kamera halten.

Eine Frau aus Ayacucho zeigt das Foto ihres verschwundenen Angehörigen. Das Bild wurde zum Titelfoto der Ausstellung „Yuyanapaq“ und findet sich u.a. auch in der deutschen Ausgabe des Berichts der Wahrheits- und Versöhnungskommission. Ayacucho 1984, Foto: Vera Lentz ©

Unsere Redakteurin Lucia Halder hat sich für einen Text von Mareike Otters als Highlight des Jahres 2022 entschieden, in dem es um fotografische Zwangsbildnisse in Ausstellungen von KZ-Gedenkstätten geht: „Der Versuch, den Menschen aus dem Foto zu befreien“, reflektiert unseren bildethischen Umgang mit Fotografien, die gegen den Willen der Fotografierten entstanden sind.

„Der Beitrag versammelt meines Erachtens wichtige Gedanken zum Thema ‚Bilder wider Willen‘. Fotografien in Publikationen, Vorträgen oder Ausstellungen prägen das kollektive Gedächtnis. Insbesondere Bilder von Opfern des Nationalsozialismus werden zur Illustration herangezogen, man denke nur an die massenhaft verbreiteten Abbildungen von der Befreiung der Konzentrationslager. Doch im Gegensatz zur kritischen Hinterfragung von Abbildungen von Insassen von psychiatrischen Anstalten oder Opfern des Kolonialregimes gibt es nur wenige Abhandlungen, die sich mit der Verwendung der oben genannten Bilder befassen. Auf Tagungen von Holocaust-Forscher:innen werden teilweise unkommentiert grausamste Fotos in Powerpoint-Präsentation gezeigt, in Gedenkstätten überlebensgroße Abbildungen dem gaffenden oder mitleidigen Blick preisgegeben. Diese Praxis gilt es immer mehr zu hinterfragen. Mareike Otters stößt diesen Prozess mit ihrem Beitrag konstruktiv an.“ (Lucia Halder)

Blick in einen Ausstellungsraum mit dem Foto eines Mannes an der Wand und der Jahreszahl 1941

Foto-Installation in der Dauerausstellung Das KZ Sachsenhausen 1936-1945. Ereignisse und Entwicklungen, Gedenkstätte Sachsenhausen, Oranienburg 2022, Foto: Mareike Otters ©

Das letzte ausgewählte Highlight des Jahres stammt von Sandra Starke. Sie nominierte den Aufsatz „Todestango“? von Dirk Dietz, der sich quellenkritisch mit einer Fotografie aus einem NS-Lager in Lemberg/Lviv beschäftigt.

„Der Text sucht nach historischen Spuren zu einer ikonisch genutzten Fotografie von Musikern, die möglicherweise im Durchgangslager Janowska in Lemberg/Lviv einen eigens komponierten ‚Todestango‘ spielen. Dabei stellt er eine detaillierte Bildbeschreibung sowie umfangreiche quellenkritische Recherchen in Archiven und Gedenkstätten zum Ursprung und zu ersten Überlieferungen des Bildes an, die er der suggestiven Kraft der Bildbeschriftung gegenüberstellt, für die es offenbar keine historische Evidenz gibt. Die inszenierte Realität des Bildes überdeckt die ‚unsichtbare‘ und nicht-fotografierte Gewalt des Konzentrationslagers, die für heutige Betrachter:innen außerhalb ihrer Erfahrungen und Vorstellungskraft liegen muss. Besonders beeindruckend ist, dass Dirk Dietz offene Fragen und Leerstellen nicht versteckt, sondern mit Offenheit nüchtern begegnet.“ (Sandra Starke)

Das angebliche Orchester des ZAL Lemberg. Der Fotograf ist unbekannt, womöglich wurde es von einem Lagerfotografen der SS aufgenommen. Quelle: Courtesy of the Ghetto Fighters’ House, Israel/The Photo Archive ©

Die individuelle Auswahl der Visual History-Redakteurinnen spiegelt das Jahr 2022 ziemlich eindrücklich wider: Es ging um Bilder der Gewalt.

 

Wir wünschen allen Leser:innen einen guten Start in ein hoffentlich besseres neues Jahr 2023!

Haynrode, Thüringen, Neujahr, Läuten der Glocke, 1954. Foto: Zentralbild TBD-Schmidt, Quelle: Bundesarchiv Bild 183-28083-0001 / Wikimedia Commons CC-BY-SA 3.0

 

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