NEUE REZENSIONEN: H-SOZ-KULT

Neue Rezensionen auf H-Soz-Kult zu Publikationen aus dem Bereich der Historischen Bildforschung und Visual History

Books on Library, 27. August 2006, Foto: Abhi Sharma, Quelle: commons.wikimedia.org

Franz Schultheis u.a. (Hrsg.): Pierre Bourdieu und die Fotografie. Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis. Eine Rekonstruktion

Transcript, Bielefeld 2022

rezensiert von Axel Philipps, redaktionell betreut durch Ulrich Prehn

© Transcript

Das Werk von Pierre Bourdieu und seine Konzepte wie der soziale Raum, das soziale Feld oder der Habitus nehmen einen zentralen Stellenwert in gegenwärtigen soziologischen Analysen ein. Ebenso sind seine Theorie und seine Untersuchungen Bestandteil des soziologischen Kanons. Seine Bücher und Beiträge werden in Vorlesungen und Seminaren zur Sozialstrukturanalyse, politischen Soziologie, Wissenschaftsforschung, Methoden der empirischen Sozialforschung und in anderen Forschungsfeldern vermittelt. In dieser Fülle bleibt jedoch der Fotograf Pierre Bourdieu zumeist unterbelichtet. Obwohl seine Aufnahmen in vielen seiner Bücher und Artikel zu finden sind, beschäftigen sich nur wenige mit seiner fotografischen Praxis. Neue Einblicke bietet nun das Büchlein Pierre Bourdieu und die Fotografie, welches sich als Einstiegsband zu einer fünfteiligen Buchreihe ganz den Fotografien aus Bourdieus Zeit in Algerien und ihrer Bedeutung für seine Art des soziologischen Arbeitens widmet.

 

Marion Krammer: Rasender Stillstand oder Stunde Null? Österreichische PressefotografInnen 1945–1955

Vandenhoeck & Ruprecht, Wien 2022

rezensiert von Markus Wurzer, redaktionell betreut durch Peter Stachel

© Vandenhoeck & Ruprecht

Vorstellungen über die Vergangenheit der frühen Zweiten Republik sind ganz wesentlich von zeitgenössischen Pressefotografien geprägt, aus denen über die Jahrzehnte hinweg mitunter Bildikonen wurden – Stichwort „die Vier im Jeep“. Wiewohl diese Bilder die kollektive Erinnerung wesentlich prägen, ist über ihre UrheberInnen allerdings kaum etwas bekannt. Das gilt vor allen Dingen im Hinblick auf die Karrieren, die diese Männer und Frauen vor 1945, nicht nur in der Ersten Republik, sondern vor allem auch im Austrofaschismus und Nationalsozialismus gemacht haben. Marion Krammer hat sich in ihrer Dissertation, die sie im Rahmen des FWF-geförderten Forschungsprojekts „War of Pictures. Press Photography in Austria 1945–1955“ am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaften in Wien erarbeitet hat und die nun als Buch vorliegt, diesem Desiderat der österreichischen Medien- und Kulturgeschichte angenommen. Ihr Hauptanliegen ist es, nachzuzeichnen, welche personellen Kontinuitäten es im fotojournalistischen Bereich über die politischen Brüche 1934, 1938 und 1945 hinweg in die unmittelbare Nachkriegszeit bis 1955 gibt (S. 14).

 

Lisa-Katharina Weimar: Bundesdeutsche Presseberichterstattung um Flucht und Asyl. Selbstverständnis und visuelle Inszenierung von den späten 1950er bis zu den frühen 1990er Jahren

Springer VS, Wiesbaden 2021

rezensiert von Stephan Scholz, redaktionell betreut durch Jan-Holger Kirsch

© Springer VS

Nach dem Aufstand gegen das kommunistische Regime in Ungarn brachte der „stern“ im Dezember 1956 eine Fotostrecke über ungarische Flüchtlinge, die von einer deutschen Familie übergangsweise in ihrer Privatwohnung aufgenommen worden waren. Der Beitrag enthält Bilder vom gemeinsamen Abendessen und miteinander spielenden Kindern, auf denen Flüchtlinge und Einheimische äußerlich nicht voneinander zu unterscheiden sind. Mit solchen Bildern sei neben der Vermittlung eines positiven Flüchtlings-Images auch das Selbstbild eines solidarischen Partners, Retters und Helfers gezeichnet worden, das nicht zuletzt dazu gedient habe, die damalige Auseinandersetzung über militärische Interventionsmöglichkeiten in den Hintergrund zu rücken, kommentiert Lisa-Katharina Weimar. Wer würde sich angesichts dessen nicht an aktuelle Medienberichte und gegenwärtige Debatten über ukrainische Flüchtlinge in Deutschland erinnert fühlen? Dies ist nur einer von vielen Bezügen zur jüngsten Vergangenheit, die sich beim Lesen von Weimars Studie unweigerlich aufdrängen.

 

Lydia Jakobs: Pictures of Poverty. The Works of George R. Sims and Their Screen Adaptions

John Libbey Publishing, London 2021

rezensiert von Sarah Dellmann, redaktionell betreut durch Christoph Classen

© John Libbey Publishing

George R. Sims (1847–1922) war ein seinerzeit sehr einflussreicher britischer Journalist, Dramatiker und Verfasser von Balladen, der sich vielfältig und leidenschaftlich in die sozialpolitische Debatte einbrachte und den Umgang der britischen Politik mit Betroffenen von Armut scharf kritisierte. Seine Texte wurden in verschiedenen populären Zeitschriften abgedruckt, oftmals mit Illustrationen. Seine Serien und Balladen wurden zudem in öffentlichen Aufführungen rezitiert – oft visuell begleitet durch Glasbilderserien, die mit einer Laterna magica projektiert wurden. Jakobs rekonstruiert die Publikationsgeschichte der Ursprungstexte und ihrer Adaptationen für eine Darbietung auf der Leinwand. Anhand von Sims’ Balladen, den (gedruckten) Illustrationen und den Glasbildern selbst untersucht sie die narrativen und visuellen Strategien des Wort- und Bildmaterials und verfolgt Aufführungskontexte mithilfe von historischen Zeitungsberichten und, soweit vorhanden, Sekundärliteratur zu Protagonist:innen, Organisationen oder Aufführungsorten.

 

Thomas Bauer-Friedrich u.a.: Willi Sitte. Künstler und Funktionär

Selbstverlag, Halle (Saale) 2021

rezensiert von Anja Tack, redaktionell betreut durch Stefanie Eisenhuth

© Selbstverlag

Der Künstler Willi Sitte (1921–2013) ist hochumstritten. Es ist ein Streit um seine Person, an dem sich wiederum der Streit um Kunst und Künstler:innen aus der DDR aufhängt. Paradigmatisch vereint Sitte in seinen Rollen als Künstler und als einer der einflussreichsten Kunstfunktionäre der DDR jenes Konfliktpotential, das den sogenannten Bilderstreit nach 1989/90 anheizte. Wie sollte die Biografie jener Künstler:innen bewertet werden, die als hochrangige Funktionär:innen das Kunstsystem entscheidend geprägt hatten und aufgrund ihrer machtvollen Position in Partei, Künstlerverband und in den Hochschulen in die Ausgestaltung künstlerischer Arbeiten Anderer nach ihren Vorstellungen eingriffen, Arbeiten gar verhinderten oder ausgewählte Künstler:innen gezielt förderten? Ganz grundsätzlich stand zudem infrage, ob es Kunst in der DDR überhaupt habe geben können.

 

Ole Frahm u.a. (Hrsg.): Beyond MAUS. The Legacy of Holocaust Comics

Böhlau Verlag, Wien 2021

rezensiert von Kevin Haworth, redaktionell betreut durch Jan-Holger Kirsch

© Böhlau Verlag

The Holocaust is a challenging subject for any artistic medium – all the more so, then, for a medium like comics, which, for most of their history, have been considered juvenile, throwaway fare. Art Spiegelman’s 1986 publication of the first volume of MAUS permanently changed the relationship between comics and the Holocaust, demonstrating to a skeptical reading public that comics are not only able to address the horrors of Nazi genocide, but do so in a way that draws on the strengths of comics’ approachable combination of text and art. Though MAUS has been part of literary culture for decades, its importance has not decreased in that time; rather, it has become a focus for scholars in multiple fields. Indeed, the recent decision by a Tennessee school board to ban the book (because it contains nudity and obscenity, the school board claims, not because of its subject matter) has returned the book to the public spotlight and the bestseller lists, making this an ideal time to reassess its legacy.

 

Sarah Dellmann u.a. (Hrsg.): A Million Pictures. Magic Lantern Slides in the History of Learning

Lohn Libbey Publishing, New Barnet 2020

rezensiert von Maria Männing, redaktionell betreut durch Christoph Classen

© John Libbey Publishing

Mit A Million Pictures war ein auf drei Jahre angelegtes internationales Forschungsprojekt überschrieben, dessen erklärtes Ziel es war, die Relevanz der Laterna magica erstmals umfassend für die Bildungsgeschichte zu thematisieren. Der Titel des Sammelbandes adressiert die schiere Masse an überlieferten historischen, gemalten wie fotografischen Laternenbildern. Der Abundanz des Materials steht ein Defizit hinsichtlich des Wissens gegenüber, insbesondere was die Methodik wissenschaftlich-theoretischer Erschließung dieser Bestände betrifft. Ziel des Zusammenschlusses aus Forschungsgruppen in Antwerpen, Exeter, Girona, Utrecht und Salamanca war es daher, diesem Problem auf verschiedenen Ebenen abzuhelfen. Der Band dokumentiert einen Schlusspunkt dieser Bemühungen auf einer internationalen Konferenz, die 2017 stattgefunden hat, und an der auch Vortragende jenseits des Verbundes teilnahmen.

 

 

Tanja Kinzel: Im Fokus der Kamera. Fotografien aus dem Getto Lodz

Metropol Verlag, Berlin 2021

rezensiert von Andreas Weinhold, redaktionell betreut durch Ulrich Prehn

© Metropol Verlag

Historische Fotos sind trügerische Quellen. Viele Fotografien in Tanja Kinzels bildanalytischer Studie „Im Fokus der Kamera“ verdanken ihren besonderen historischen Aussagewert ebenfalls einer menschenverachtenden Wirklichkeit, welche die Bilder verschleiern, verfremden oder verbergen, die ihnen aber dennoch eingeschrieben ist; mal mehr, mal weniger deutlich. Sie durchschaubar zu machen, d.h. vor allem die mit ihnen verbundenen Intentionen, Auftrags- und Entstehungszusammenhänge offenzulegen, ist das große Verdienst der Autorin. Ihren theoretisch und methodisch aufgeklärten Blick wünscht man sich überall dort, wo Fotografien historischer Ereignisse wie der Shoa oft nur als Illustrationen vergangener Wirklichkeit benutzt werden: in historischen Museen, Ausstellungen oder Schulbüchern. In Kinzels Buch über Fotografien aus dem Getto Lodz kann man ihn lernen.

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