Private Blicke

Visual History begleitet die Online-Tagung „Private Blicke in Diktatur und Demokratie: Schmalfilme und Fotos im 20. Jahrhundert“ am 10.-11. Dezember 2020 (ZZF Potsdam) mit einem visuellen Mosaik

Vortragende wie Moderator*innen der Tagung „Private Blicke in Diktatur und Demokratie: Schmalfilme und Fotos im 20. Jahrhundert“ haben der Redaktion von Visual History vorab ein Foto oder Filmstill aus der Forschungspraxis geschickt und dazu einige Sätze notiert: zum Bild selbst, zum Projekt, zum Vortrag auf der Tagung – so ist ein visuelles Mosaik zum Informieren, Stöbern und Entdecken entstanden.

Album Familie J., 1974, privat ©

Frank Bösch (Potsdam), „Private Medien als Quellen der Zeitgeschichte

Private Fotos und Schmalfilme gelten als banale Quelle, die die Forschung bisher kaum systematisch analysierte. Wie bei diesem Foto-Album aus der DDR von 1974 erscheint unerheblich, ob die Bilder in Diktatur oder Demokratie entstanden oder ob sie aus den 1930er oder 1980er Jahren stammen. Denn meist bilden sie Familien oder Freunde in glücklichen Momenten ab. Der Einführungsvortrag schlägt Wege vor, um sie als wichtige Quelle für die allgemeine Zeitgeschichte zu erschließen: etwa als Praktiken, die Biografien, Familien und soziale Beziehungen konstruieren; als Entwürfe zukünftiger Erinnerungen, die sich dann wieder über die Aufnahmen neu konstituieren; oder auch als Zugang zu einer Geschlechter-, Generationen- und Emotionsgeschichte.

Das ausgewählte Bild verdeutlicht etwa bei genauerem Blick die generationell differenten Männer-Kind-Beziehungen und differente Emotionsausdrücke. Die Aufnahmen sind dabei als materiell-semiotische Netzwerke mit Agency zu fassen. Über die Bildinhalte hinaus sind – etwa durch Interviews – die Entstehungskontexte und kommunikative Verwendungsweisen einzubeziehen. Ebenso verdeutlicht der Vortrag, wie derartige Aufnahmen in unterschiedlichen Systemen zu „riskanten Objekten“ werden konnten.

Reporter 1941-1942, Filmstill aus dem Amateurfilm von Ellen „Maexie“ Illich, 1942. Foto: Yvonne Illich / Steven Spielberg Film and Video Archive, United States Holocaust Memorial Museum ©

Michaela Scharf (Wien), „Filmen als Selbstbehauptung: Ellen Illichs Familienfilme (1936-1943)“

Aus einer jüdischen Familie stammend, lebte Ellen Illich (geb. Regenstreif) mit ihren Söhnen bis 1942 in Wien. Die glücklichen Stunden im Kreis der Familie sind Hauptthema ihrer 16 mm-Filme, auch jener, die sie nach dem „Anschluss“ 1938 produzierte. Denn Illich war aufgrund ihrer Ehe mit einem kroatischen Katholiken vor nationalsozialistischer Verfolgung zunächst geschützt. Allerdings finden sich in ihren Filmen verschiedene Sequenzen, in denen die zunehmende Bedrohung der Familie durch das NS-Regime deutlich wird. Der Filmstill zeigt einen Ausschnitt aus einer Szene, die Illich in Anwesenheit von Nationalsozialisten gedreht hat. Es handelt sich dabei um die „Arisierung“ ihres Elternhauses. Die Frage nach der soziokulturellen Funktion solcher Aufnahmen steht im Zentrum meines Beitrags.

Der Trickler, Filmstill aus dem Amateurfilm von Friedrich Kuplent, 1944. Quelle: Sammlung des KdKÖ im Österreichischen Filmmuseum ©

Sandra Ladwig (Wien), „Fakt, Fiktion, Imagination: Geschichte(n) der Freizeit in Amateurfilmpraktiken“

Amateurfilme sind nicht nur lebens- und zeitgeschichtliche Zeugnisse, sondern auch ästhetische Konstruktionen, die in ihrer Eigenlogik oftmals die an Kanon, Genre, Werk und Autor*in ausgerichtete Filmgeschichtsschreibung vor neue Fragen stellen. Auch wenn es immer wieder Bezüge und Querverbindungen zum professionellen Kino sowie zu anerkannten Kulturtechniken wie etwa die Reise- und Familienfotografie gibt, durch ihre parallele Entwicklung etabliert die Amateurkinematografie meist andere, zuweilen marginale Perspektiven auf die Wirklichkeit. Meine Forschungsarbeit zum österreichischen Amateurfilm der 1920er bis 1960er Jahre fragt danach, mit welchen ästhetischen Praktiken die Amateur*innen ihre Freizeit herstellten und von ihr erzählten.

Tanzender Junge, Filmstill 1949. Quelle: Open Memory Box ©

Laurence McFalls (Montreal)

1949, Erzgebirge. Ein Junge aus einer Aussiedlerfamilie aus dem Sudetenland tanzt und clownt vor der Kamera. Ein Filmstill von 32 Millionen aus der Open Memory Box, eine Schatzkiste von Familienerinnerungen aus der DDR.

Eröffnung der Ausstellung „The Eye as Witness: Recording the Holocaust“, South Hamstead Synagogue Centre, London 2020. Foto: David Parry, National Holocaust Centre and Museum ©

Maiken Umbach (Nottingham), „Sprechende Fotos? Methodische Reflexionen aus dem interdisziplinären Forschungsprojekt ‚Photography as Political Practice in National Socialism‘“

„The Eye as Witness“ ist eine multimediale Ausstellung, basierend auf dem Forschungsprojekt „Photography as Political Practice in National Socialism“, das von Prof. Maiken Umbach und der Universität Nottingham gemeinsam mit dem National Holocaust Centre and Museum geleitet wird. Hier sieht man eine „Virtual Reality“-Installation, die Besucher*innen für das Problem fotografischer Perspektive und „perpetrator bias“ in klassischen Holocaust-Fotos sensibilisieren soll. Das Projekt insgesamt befasst sich mit der Frage, wie private Fotografie im Nationalsozialismus auf offizielle visuelle Praxis und Propaganda reagierte, sich solche Formen zu eigen machte, aber sie auch umdeutete. Außerdem untersucht das Projekt Reaktionen auf diese Praxis in jüdischer Fotografie.

Fotografische Reise- und Erinnerungsalben der KdF-Seereisen: Fotoalbum „Fahrt in die Arktis“, Spitzbergenreise 1937 (MONTE ROSA). Quelle: Archiv Deutsches Schifffahrtsmuseum Bremerhaven III A 03274_0008 ©

Gisela Parak (Bremerhaven), „Methodische Überlegungen über den Zugriff auf fotografische Reisealben der KdF-Schiffsreisen“

Seit dem Beginn der Kreuzschifffahrt mit der „Orient“-Reise der AUGUSTA VICTORIA partizipierte ein stetig wachsender Prozentsatz an Bürger*innen am Bildungskanon einer touristischen „Grand Tour“. Ab 1934 versuchte die Unterorganisation der Deutschen Arbeitsfront „Kraft durch Freude“ (KdF) mit einem vielseitigen Freizeitangebot, die Arbeiterschicht für das politische Programm des Nationalsozialismus zu gewinnen, und bot eigene Kreuzschifffahrten an. Welche Freiheiten sind der fotografischen Erinnerungskultur dieser KdF-Seereisen im Rahmen eines totalitären Regimes zuzusprechen? Das Projekt erörtert die Kontinuitäten bürgerlicher Konventionen und Bildmuster der Reisefotografie, die Übernahme einer propagandistischen Ikonographie in den Aufnahmen der Reisenden und diskutiert den Handlungsrahmen privater fotografischer Akteure im Nationalsozialismus.

Sportgruppe „Schild“ Darmstadt beim Jugendsportfest des jüdischen Schild-Sportverbandes, Wiesbaden 1936. Fotograf*in: unbekannt. Schellenberg family collection album 1935-1937 – Photographs of youth sport competitions in Frankfurt, Stuttgart, Berlin, Fuerth, Darmstadt and Wiesbaden (1935-1937), ALB 146, Schellenberg Family Collection AR 25133, Leo Baeck Institute ©

Robert Müller-Stahl (Potsdam), „Reflexionen der Krise. Sport in der deutsch-jüdischen Privatfotografie zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus

In meiner Promotion beschäftige ich mich mit deutsch-jüdischen Privatfotografien zwischen 1928 und 1938. Mich interessiert dabei, wie Erfahrungen von Krisen in den Bildern und Alben verhandelt werden. Sport ist eines der Themen, an denen sich dies besonders gut erkennen lässt. Wie in kaum einem anderen Feld wurden Jüdinnen und Juden hier gleich nach der nationalsozialistischen Machtübergabe umfassend ausgeschlossen – und trieben doch unentwegt weiter Sport. Dieses Bild, aufgenommen während eines Jugendsportfestes des jüdischen Schild-Sportverbandes 1936, zeugt also von der Aufrechterhaltung eines veritablen Sportbetriebs auch unter repressivsten Umständen. Und ist zugleich auch sehr viel mehr: Es ist der Ausweis einer jüdischen Selbstbehauptung im nationalsozialistischen Deutschland.

Neun Alben von Gerhard Sachsse. Foto: Rolf Sachsse, Mai 2020, Lizenz: CC BY 4.0

Rolf Sachsse (Bonn)

Im Nachlass meines Vaters, des Fotografen Gerhard Sachsse (1920-1998), fanden sich elf Fotoalben, von denen ich nur drei kannte – auf dem Foto die unteren drei, die der Gründung unserer Familie gewidmet sind. Die ersten sechs Alben umfassen von seinem ersten Foto bis zum Kriegsbeginn alles, was einen Jungen in der NS-Zeit interessierte; zwei Alben zeigen seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg – kein Kriegsgeschehen außer einigen zerstörten Brücken und Häusern, keine Toten, keine Reportage. Diese Alben wurden von ihm wie von meiner Mutter (1929-2020) sehr abgelegen aufbewahrt, quasi versteckt, und von mir erst vor kurzem gefunden. Nichts Geheimes, Abseitiges, Schreckliches ist in diesen Alben zu finden. Meine Fragen bleiben: Für wen hat er diese Alben gemacht? Wer sollte das anschauen? Wen hat er adressiert?

Privatarchiv Familie Paul, Sowjetunion, 1975 © Fotograf*in: unbekannt. Quelle: Monica Rüthers, Unser sowjetisches Leben. Ein Blick in die Fotoalben von Russlanddeutschen – in Bild, Wort und Text, in: dekoder, 02.10.2020, https://nemcy.dekoder.org/sowjetunion [07.12.2020]

Monica Rüthers (Hamburg), „Das Land ohne Lächeln. Einblicke in sowjetische Fotokulturen zwischen Familie und Kollektiv“

Die Aufnahme stammt aus einem Studierenden-Projekt zu „sowjetischen“ Motiven in russlanddeutschen Fotoalben für das Online-Magazin „dekoder“. Zu jedem Foto gibt es eine deutsche und eine russische Tonspur, auf der die Erzählungen leicht variieren. Familienvater Alexander Paul spricht vom Familienausflug mit Auto in die Pilze 1975. Der heute 83-Jährige erklärt dazu auf Russisch, er habe 30 Jahre in derselben Fabrik gearbeitet. Das Auto sei eine Prämie gewesen – die aber trotzdem bezahlt werden musste. Die Belohnung war die verkürzte Wartezeit bis zum Erhalt des Wagens. In der Sowjetunion waren Privatautos zunächst gar nicht vorgesehen. Als deren Produktion dann ab Mitte der 1960er Jahre doch gefördert wurde, kam es zu langen Wartelisten. Familie Paul war im sowjetischen Wohlstand angekommen: Die Aufnahme ist weit entfernt von Klischees russlanddeutscher Armut und Rückständigkeit.

1. Mai-Umzug im Blick der Amateure vom AKF „Śląsk“ in Katowice Fot. Foograf*in und Jahr unbekannt, Quelle: Muzeum Historii Katowic ©

Margarete Wach (Warschau), „Polnische Amateurfilme im Sozialismus“

Die Möglichkeiten der kulturellen Teilnahme für Laien gehörten in der Volksrepublik Polen (1944-1989) zu den durch die Verfassung verbrieften Rechten. Die Auffassung vom Film als Kunst – in Abwandlung der Lenin-Formel: Film sei die wichtigste aller Künste – bedingte die ideologische Zielsetzung der kommunistischen Partei, den Arbeitern den Zugang zur elitären Filmpraxis und teuren Filmtechnik zu ebnen. In den staatlich finanzierten Amateurfilmklubs war dies in dem „Hobby-Format“ 8 mm und dem Schmalfilmformat 16 mm zu gewährleisten.

Die Filmamateure in Polen weiteten ihre Aktivitäten von Dokumentar- über Spiel- und Animations- bis zu Experimentalfilmen auf alle Filmgattungen aus. Entgegen der ursprünglichen Absicht einer Freizeitbeschäftigung für die Arbeiterklasse entwickelten sich die Klubs jedoch mit der Zeit zu einer Art soziokultureller Nische für „Amateure“, die abseits des professionellen Kulturkreislaufs ästhetisch-thematische Experimente wagen konnten, wie sie in der offiziellen, staatlich hoch dotierten und kontrollierten Kinematografie nicht denkbar gewesen wären. Diese betrafen Genderverhältnisse wie Darstellungen der Sexualität und das Sichtbarmachen marginalisierter sexueller Minderheiten wie der tabuisierten Homosexualität als auch politische Tabus und formale Experimente. Auffällig ist dabei der starke gesellschaftliche Bezug vieler Amateurfilme, in denen Themen wie Konsumwünsche, Arbeitsbedingungen, Mangelwirtschaft, Ökologie, gesellschaftliche Widersprüche resp. Proteste oder Jugendsubkultur aufgegriffen wurden.

Realizovaná instalace v Skýpce (Realisierte Installation im Getreidespeicher). Bildnachweis, in: Anna Fárová/Joska Skalník/Dušan Šimánek, Plasy 1981, Prag 2009, S. 222 ©

Eva Pluharova-Grigiene (Flensburg)

Das Forschungsprojekt „Points of View in a Divided World: Radical Theories and Practices in Lens-Based Media, 1970-1990“ befasst sich in einem transnationalen Vergleich mit antihegemonialen Bildpraktiken in Kunst, Film und Fotografie der 1970er und 1980er Jahre jenseits der politischen Systemgrenzen. Damit werden parallele Entwicklungen in diesen Medien in „Ost“ und „West“ im Kontext ihrer jeweiligen ideengeschichtlichen und visuell-kulturellen Bezüge, aber auch ihrer gegenseitigen Verflechtungen im globalen Zusammenhang betrachtet. Es werden Fragen nach der rahmenden Bedeutung des politischen Systems, nach der „Agency“ von Bildern sowie nach der Rolle von Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten gestellt.

Ein zentrales Interesse gilt den Orten, an denen engagierte Bilder zur „Aufführung“ gebracht wurden, wie 1981 im ehemaligen Zisterzienserkloster Plasy in der Tschechoslowakei. Die Not, eine umfangreiche Ausstellung mit fotografischen Positionen, die auf dem Rand der politischen Tragbarkeit balancierten, nicht in der Hauptstadt Prag zeigen zu können, eröffnete Möglichkeiten, die herausfordernden Fotografien auf innovative Art und Weise in den großzügigen Räumlichkeiten des baufälligen historischen Gebäudekomplexes erlebbar zu machen.

Dresden, Sommer 1962. Fotograf: unbekannt, Quelle: Projektsammlung Sandra Starke / ZZF ©

Sandra Starke (Potsdam), „Bild der Arbeit. Beruf, Betrieb und Gender in DDR-Fotoalben“

Die Geburtstagsfeier findet in kleiner Runde auf einem Straßenbahndepot in Dresden 1962 fast unbeobachtet statt. Hier führen die Monteure eigentlich gerade Reparaturen am Dach aus. Eine dritte Flasche neben dem Blumenstrauß zwischen den Männern und die drei weiteren Flaschen, im Schatten unter ihnen bereitgestellt, weisen auf den Fotografen als dritten Teilnehmer hin. Die Kamera beachten sie nicht, sie trinken ihr Bier entschlossen.

Alkohol während der Arbeit war kein Tabu in der DDR, aber auch kein offiziell gewünschtes Fotomotiv. Trotzdem findet es sich in privaten Fotoalben wieder. Der relativ große Abzug von etwa 8 x 11 cm weist auf die Bedeutung des geselligen Anlasses für seine Protagonisten hin. Ungewöhnlich ist vielleicht die lakonische Bildunterschrift: Saure Wochen – Frohe Feste „Prost“.

Fotoalbum: Urheber*in unbekannt, Quelle: Friedrich Tietjen, Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Friedrich Tietjen und Sophie Schulz (Berlin), „Biografie und Geschichte. Private Fotografie in Ostdeutschland 1980-2000“

Die Albenseite verrät nichts, kein Datum, kein Ort, keine Namen, und die Bilder verraten nicht viel mehr – es sind Farbabzüge, und zusammen mit den Schlauchbooten, dem Schnurrbart, den Mustern auf den Badetüchern lässt sich das Ensemble immerhin ungefähr datieren – die Szenen werden sich vermutlich in einem Sommer der 1980er Jahre abgespielt haben. Aber ist das Gewässer die Adria, die Ostsee, das Schwarze Meer? Fahren die Urlauber*innen Opel oder Wartburg? Kamen sie aus Oldenburg, aus Linz oder Karl-Marx-Stadt?

Das im Jahr 2020 von Sophie Schulz und Friedrich Tietjen durchgeführte und von der Stiftung Aufarbeitung geförderte Projekt „Biografie und Geschichte. Private Fotografie in Ostdeutschland 1980-2000“ geht von der Frage aus, welche Spuren historische Ereignisse wie etwa der Untergang der DDR in der Privaten Fotografie hinterlassen. Im Sommer 2020 wurden an elf Orten zwischen Kloster Veßra und Greifswald etwa 50 Gespräche durchgeführt und aufgezeichnet, bei denen Einzelpersonen, Ehepaare sowie Familien Bilder und Alben aus ihrem Besitz zeigten und über ihre fotografischen Praktiken sprachen. Auffällig war dabei, dass nicht nur die dramatischen Tage im Herbst 1989, sondern auch die politischen Gegebenheiten in den Jahren davor und danach wenig konkrete Spuren hinterlassen haben. Durchgängig finden sich dagegen Aufnahmen von Urlaub, Freizeit, Festen und den Kindern.

Was also zeigen diese Fotografien und Alben? Ihr Quellenwert – das ist eine der Thesen des Vortrags – liegt weniger darin, dass sie einen ganz neuen Blick auf die politischen Ereignisse der beiden Dekaden ermöglichen würden. Oft genug – und das lässt sich der gezeigten Albenseite ja entnehmen – können die Bilder nicht einmal einem Land zugeordnet werden. Anschließend an Walter Benjamins Überlegungen zum optisch Unbewussten können die Bilder und ihre Inszenierungen in den Alben vielmehr Auskunft darüber geben, welche Wünsche, Hoffnungen, Träume, kurz: welche Vorstellungen diese Menschen von einem guten Leben hatten.

Schuhkarton mit alten Schmalfilmrollen, Foto: Sebastian Thalheim, 5. August 2015 ©

Sebastian Thalheim (Berlin), „‚Verkehrte Welten‘. Familienfilm in der DDR – Ein eigensinniges Vergnügen“

Ein Schuhkarton mit alten Schmalfilmrollen aus der DDR und ein Stapel an herausfordernden Fragen: Wie können Historiker*innen mit diesem ungesichteten Material umgehen? Was sagen uns diese vermeintlichen Allerweltsbilder von Urlauben, Familien und Festen über das Leben in der Diktatur? Wie prägen diese idealisierten Familienbilder heutige Erinnerungen an die DDR?

In meiner Arbeit „Familienfilm in der DDR“ argumentiere ich mit einem praxeologischen Familienbegriff und frage mit Methoden der historisch-kritischen Analyse von schriftlicher Überlieferung, Oral History und visueller Diskursanalyse nach Familienfilm als mediale Alltagspraxis in der staatssozialistischen Gesellschaft.

Still from 16mm film #1, 2020, Tim van der Heijden ©

Tim van der Heijden (Luxemburg), „Understanding through Experimentation: An Experimental Media Archaeological Approach to Early Twentieth- Century Home Movie Making“

This presentation addresses the question in what ways visual media have contributed to the construction of a specific view on twentieth-century (family) life by means of an experimental media archaeological approach to early home movie making. Based on hands-on experiments with an original Ciné-Kodak 16 mm film camera from 1930, it will be shown how filming one’s family was never truly a neutral practice of capturing everyday life. Rather, making a home movie should be regarded a highly „co-constructive practice“ that includes various social, sensorial, technological and user-related dimensions. The presentation reflects work in progress from the research project „Doing Experimental Media Archaeology“ (DEMA) of the Centre for Contemporary and Digital History (C2DH) of the University of Luxembourg.

Berlin, Karl-Marx-Allee, 23. April 1982, Quelle: BStU (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Harald Schmitt) ©

Annette Vowinckel (Potsdam)

Am 23. April 1982 um 19:38 Uhr gehen der „Stern“-Fotograf Harald Schmitt und seine Freundin durch Ost-Berlin. Fotografiert werden sie dabei von einem Stasi-Mitarbeiter, vermutlich mit verdeckter Kamera. Die Perspektive lässt vermuten, dass er (oder sie) auf einer Parkbank saß und dort darauf wartete, dass das Pärchen vorbeilief. Die beiden sehen entspannt aus und laufen im Gleichschritt – da sie nicht wussten, dass sie fotografiert wurden, kann es keine Pose sein. Auf der Rückseite der Fotografie sind die Phantasienamen vermerkt, die die Stasi den beiden gegeben hatte: „Linse“ für den Fotografen und „Schote“ für seine Begleitung. Man hätte es besser nicht erfinden können. Heute ist es vielleicht ein Erinnerungsfoto an eine schöne Zeit.

Home Video 1992: Schwenk über den Badezimmerspiegel, Screenshot, Renée Winter ©

Renée Winter (Wien), „Ver-Sammeln. Ein Video-Gedächtnis aus der Nachfolgegeneration von Überlebenden des Porajmos“

Im Zentrum meiner Forschungen im Rahmen des Projekts „Video as Technology of the Self“ stehen Fragen nach der Her- und Darstellung des Selbst sowie nach der Arbeit am Selbst im und durch das Medium Video. Dazu untersuche ich autobiografische Praktiken anhand verschiedener Home Video-Bestände, mediale Praktiken der Selbstermächtigung im Videoaktivismus und der Selbstkonfrontation und Selbstbeobachtung im Einsatz von Video in Psychotherapie und Coaching.

Im Vortrag spreche ich über Videos des Sohnes einer Überlebenden von Auschwitz, Ravensbrück und Bergen-Belsen. Welche Subjektivierungen der beteiligten Personen ermöglichte die Videokamera und welche Bedeutung kommt den Videos als Repräsentationen des Selbst und der Familie im Kontext der Kontinuitäten von Antiromaismus und Rassismus zu?

Ibraimo Alberto im Fotostudio, Berlin, ca. 1985, Fotograf*in: unbekannt, Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Ibraimo Alberto ©

Isabel Enzenbach (Quito), „Private Bilder und visuelle Erinnerungen mosambikanischer Vertragsarbeiter*innen“

Das mediale Erbe der DDR ist meist ganz weiß. Doch auch Migrant*innen fotografierten und ließen sich fotografieren, um ihre Zeit in der DDR festzuhalten. Wo sind diese Bilder geblieben? Die DDR-Migrationsgeschichte bebildern meist ästhetisch anspruchsvolle, propagandistische Fotos von ADN-Zentralbild. Private Fotos erzählen andere Geschichten. Einige davon werden hier in einer Art „Whatsapp-History“ mit einem ehemaligen Vertragsarbeiter in Maputo rekonstruiert. Welches Potenzial haben private Bilder von DDR-Migrant*innen, um ihren Blick auf ihre eigene Geschichte und auf die DDR-Gesellschaft zu verstehen? Was sind „private Fotos“ in diesem Kontext?

Filmarchivierung im LWL-Medienzentrum für Westfalen: die neue Klimakammer des Filmarchivs an der Hörster Straße 2, Münster, Februar 2012. Im Bild: Filmdokumentar Dr. Ralf Springer, ab 2015 Leiter des Bild-, Film- und Tonarchivs. Foto: Stephan Sagurna © LWL-Medienzentrum für Westfalen

Ralf Springer (Münster)

Über 10.000 Filmeinheiten – Amateuraufnahmen und aufwendige Dokumentationen – auf 16 mm, Super 8, VHS etc. – von den 1920er Jahren bis zur Gegenwart mit Themen zu Alltag, Arbeit, Freizeit, Landschaft, Brauchtum und vielem mehr. Seit 30 Jahren kümmert sich das Filmarchiv des LWL-Medienzentrums um die Bewahrung des filmischen Erbes in Westfalen-Lippe; seit 15 Jahren ist Ralf Springer, Historiker und Archivar, Teil des Teams. Dabei dreht sich seine Arbeit um zahlreiche Aufgaben: Sicherung und Digitalisierung der Originale, digitale Langzeitsicherung, inhaltliche Filmerschließung, Bereitstellung von Kopien für die Nutzer*innen aus Schulen, Kultureinrichtungen und Filmproduktionsfirmen. Das Schöne an der Arbeit ist: Fast jeden Tag müssen neue alte Filme geschaut werden.

Montage „Die Suchenden“, 2015. Fotograf*in unbekannt, Quelle: Elmar Mauch ©

Elmar Mauch (Dortmund)

Elmar Mauch, Bildforscher und Künstler, gründete 2011 das Institut für künstlerische Bildforschung, ein hybrides Projekt, das zwischen intelligenter Bildforschungstätigkeit und künstlerischem Statement angelegt ist. Grundlage des Instituts ist eine umfangreiche Sammlung von Alltagsfotografien, das „Archiv der verwaisten Bilder“. Diese Bilder sind Ausgangspunkt für Befragung, Experiment und Erkenntnisgewinn. Aus diesem Fundus, in den er auch eigene Fotografien einbezieht, werden mit radikalen, aber auch behutsamen gestalterischen Eingriffen und anti-archivarischen Methoden neue Resonanzräume für Erkenntnisprozesse geschaffen.

 

Wir freuen uns auf die Tagung!

Private Blicke in Diktatur und Demokratie: Schmalfilme und Fotos im 20. Jahrhundert, Online – ZZF Potsdam 10.-11. Dezember 2020.

 

 

Zitation


Christine Bartlitz, Private Blicke.
Visual History begleitet die Online-Tagung „Private Blicke in Diktatur und Demokratie: Schmalfilme und Fotos im 20. Jahrhundert“ am 10.-11. Dezember 2020 (ZZF Potsdam) mit einem visuellen Mosaik, in: Visual History, 08.12.2020, https://visual-history.de/2020/12/08/private-blicke/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2054
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