Rezension: „Beute. Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe“
herausgegeben von Merten Lagatz, Bénédicte Savoy und Philippa Sissis
In den vergangenen Jahren hat das Thema der Translokation von Objekten, mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Verlagerung von Kunstwerken, und der Frage ihrer Restitution eine stärkere Präsenz in der öffentlichen Wahrnehmung erhalten. So setzte George Clooney mit seinem Film „The Monuments Men“ 2014 den Kunstschutzoffizieren der Monuments, Fine Arts, and Archives Section der amerikanischen Armee im Zweiten Weltkrieg ein Hollywood-Denkmal. Sie waren unter anderem für die Bergung und Rückführung der von den Nationalsozialisten geraubten Kunst- und Kulturgüter verantwortlich.[1]
Mit der Debatte um das Humboldt Forum in Berlin, das seit Ende 2020 in Etappen eröffnet und unter anderem die Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst zeigen wird, rückten auch unter den asymmetrischen Machtverhältnissen des Kolonialismus verbrachte Objekte und die Frage nach dem Umgang mit diesen verstärkt in das öffentliche Bewusstsein. Ein weiterer Katalysator für diese Entwicklung war das Versprechen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron bei einer Rede in Burkina Faso 2017, Kulturgüter nach Afrika zurückzugeben. Diesem folgten mit dem von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy verfassten Expertengutachten und der Rückgabe von Objekten auch erste Taten. In Deutschland kulminiert diese Entwicklung in der geplanten Rückgabe der Benin-Bronzen, die medial breit begleitet wird.[2]
Mit „Beute. Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe“ gesellt sich nun eine Übersicht der visuellen Repräsentation von Kulturgutverlagerungen unter asymmetrischen Machtverhältnissen und deren Folgen zum größer werdenden Reigen von Publikationen zu diesem Themenkomplex hinzu. Der „Bildatlas“, zusammen mit einer Anthologie von Texten zum Thema,[3] ist die erste Publikation der Ergebnisse des von 2017 bis 2020 von Bénédicte Savoy an der Technischen Universität in Berlin geleiteten Forschungsclusters translocations – Historical Enquiries into the Displacement of Cultural Assets.[4] Die Autor*innen des Buchs haben unterschiedliche professionelle Hintergründe: Von der Professorin und anderen etablierten Wissenschaftler*innen sowie Doktorand*innen bis hin zu den Student*innen eines Projektseminars zum „Bildatlas“ sind verschiedene Stimmen vertreten. Erste Skizzen zu vielen der in dem Buch vorgestellten Beispiele wurden projektbegleitend bereits in einem Blog publiziert, in dem sich auch Besprechungen von nicht in die Publikationen aufgenommenen Bildern finden lassen.[5]
In der knappen Einleitung positionieren die Herausgeber*innen den „Bildatlas“ als einen Beitrag zu den laufenden Debatten um die Aufarbeitung der „kolonial-imperialen Vergangenheit Europas“.[6] Er lade dazu ein, „[…] die Verlagerung von Kulturgütern weit vor dem Beginn der Kolonialzeit Europas zurückzuverfolgen, Prozesse des Sammelns und Ausstellens kritisch zu hinterfragen und wiederkehrenden Argumentationsmustern und Bildtopoi nachzuspüren“.[7]
Sie erläutern zudem die Adaption des aus der Humangenetik stammenden Begriffs der Translokation, der vom Forschungscluster in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kulturgutverlagerungen eingeführt wurde. Es handelt sich dabei um eine Mutation des Erbguts durch Verlagerung von Chromosomenabschnitten an eine andere Position im Chromosomenbestand – hier leider etwas verkürzt als „Verlagerung von Chromosomen“[8] beschrieben. Mit dem Rückgriff auf den aus der Biologie stammenden Begriff versucht die Forschungsgruppe, die Transformation materieller kultureller Zeugnisse sowie der mit ihnen verbundenen sozialen Körper im Zuge der örtlichen Verlagerung von Objekten unter asymmetrischen Machtbedingungen zu fassen. Mit Verweisen auf Aby Warburgs „Bilderatlas Mnemosyne“, Martin Warnkes Arbeiten zur politischen Ikonographie, Arjun Appadurais und Bruno Latours Untersuchungen zur Agency von Objekten sowie Aleida und Jan Assmanns Forschungen zum kulturellen Gedächtnis wird der „Bildatlas“ äußerst knapp in der Forschungslandschaft verortet.
Im Folgenden werden dem/der Leser*in 86 bildliche Repräsentationen von verschiedenen Stadien der Verlagerung von Kulturgütern vorgestellt, die sich in jeweils mit zwei Verben benannten Kapiteln gruppieren, die einem angenommenen Prozess der Verlagerung auf einer zeitlichen Achse folgen: „nehmen, transportieren“, „ankommen, aneignen“, „tauschen, handeln“, „fehlen, gedenken“, „protestieren, fordern“ und „zurückgeben, wiederankommen“.
Eine der Stärken des „Bildatlas“ ist dabei die Vielfalt der vorgestellten Beispiele. Neben den klassischen Medien des Gemäldes, der Druckgrafik und der Fotografie werden auch Kunstgewerbe, Medaillen, Comics, Plakate, Film und Briefmarken herangezogen, womit Bildformen, die sich an unterschiedliche Rezipient*innen richten, behandelt werden. Diese Bilder werden auf jeweils einer Seite gezeigt, ihr Sujet knapp und teils pointiert benannt und von drei Seiten Kommentar begleitet, der in der Regel mit einer etwas ausführlicheren Beschreibung des Bildes einleitet und dann – mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen – dessen historischen, politischen und sozialen Kontext erläutert.
Neben Angaben von Literatur und Archivalien für die Beiträge finden sich auch Verweise auf weiter erläuternde Texte in der Anthologie, die sich auf den jeweiligen historischen Kontext beziehen, sodass ein Zusammenhang zwischen der hier abgedeckten visuellen und der schriftlichen Diskursproduktion hergestellt wird. In den Marginalspalten wird auf andere Bilder im Band verwiesen, womit die Beispiele nicht bloß für sich stehen, sondern über Bezugnahmen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Allerdings fehlen bei neun der 86 Bilder solche Bezugnahmen, was sich dem Leser/der Leserin nicht wirklich erschließt, da sich für alle Bilder in diesem Band Bezüge untereinander herstellen lassen.
Der Vielseitigkeit der Beiträge im „Bildatlas“ kann im Rahmen einer Rezension nicht wirklich Genüge getan werden. Um der Diversität der Beiträge dennoch in gewissem Maße gerecht zu werden, soll aus den fünf Kapiteln jeweils ein Beispiel etwas näher vorgestellt werden.
Unter der Kapitelüberschrift „nehmen, transportieren“ findet sich als Bild 18 ein Kalksteinrelief aus dem Königspalast des Asarhaddon im heutigen Nimrud im Irak, an dem die Assyriologin und Vorderasiatische Archäologin Cinzia Pappi verschiedene Verlagerungsgeschichten herausarbeitet: In zwei durch Text getrennten Registern zeigt das Relief wahrscheinlich die Eroberung von Gaza durch den assyrischen König Tiglat-Pileser III.: Im oberen Register ist die Belagerung der Stadt dargestellt, vor deren Mauer Soldaten dabei sind, Beute fortzuschaffen; im unteren tragen Soldaten vier Götterstatuen in einer Prozession. Damit handelt es sich um die Illustration der sogenannten Götterdeportation, der Verbringung von Götterbildern als Mittel der assyrischen Kriegsführung. Diese wurden dann der Staatsgottheit Assur geopfert, was zum einen der kulturellen Herabsetzung der Feinde, zum anderen aber auch der Assimilation eroberter Provinzen diente.
Die Reliefplatte blieb nicht an ihrem originalen Aufstellungsort, sondern wurde drei Generationen später vom Palast des Tiglat-Pileser III. in den des Asarhaddon versetzt. Dort fand sie Austen Henry Layard (1817-1894) bei seinen Ausgrabungen in Nimrud zwischen 1845 und 1849 und schickte sie ins British Museum nach London. Das Relief zeige laut Pappi somit drei Kontexte auf: Erstens halte es eine kriegerische Praktik fest, die das Verbringen von kulturellen Objekten umfasste, zweitens illustriere der Einbezug in die Ausstattung eines späteren Palastes die Präsenz der Episode im kollektiven Gedächtnis der Assyrer und drittens stünden die Ausgrabung und der Eingang des Objekts in die Sammlung des British Museum im Zusammenhang der kolonialistischen Erforschung der Region des heutigen Iraks.
Der Abtransport von Götterstatuen in diesem Relief verweist bereits auf die Ikonografie des Triumphzugs, der das Ankommen von Objekten zeigt und über verschiedene Beiträge im Band weiterverfolgt wird: So werden u.a. das Relief mit den ankommenden Beutestücken aus Jerusalem auf dem Titusbogen auf dem Forum Romanum aus dem Jahr 81 (Bild 19, kommentiert von Luca Frepoli), das Gemälde aus Andrea Mantegnas ab 1486 geschaffenem Zyklus zu den Triumphen Caesars, das einen mit Beutestücken beladenen Wagen nach seinem Sieg über die Gallier zeigt (Bild 20, kommentiert von Philippa Sissis), und die von Japan an Südkorea zurückgegebenen königlichen Bücher, die im Dezember 2011 von einer Ehrengarde flankiert vom Flughafen aus an verschiedene Orte gebracht und präsentiert wurden (Bild 78, kommentiert von Ji Young Park), vorgestellt. Das Nachverfolgen der Triumphzug-Ikonografie durch die Jahrhunderte macht die sich in unterschiedlichen politischen und sozialen Kontexten ergebenden Bedeutungsverschiebungen zwischen ähnlichen Motiven für den/die Leser*in erfahrbar.
Im Kapitel „ankommen, aneignen“ findet der/die Leser*in als Bild 27 die Fotografie des mit einem weißen Kittel bekleideten Museumspräparators Gustav Borchert, der neben einem ihn überragenden Knochen steht. Diesen hatte er aus dem 1909 bis 1913 im Rahmen der Tendaguru-Expedition des Berliner Naturkundemuseums in der Kolonie Deutsch-Ostafrika ausgegrabenen und in die Metropole verschifften Fossilienmaterial zusammengesetzt. Der Knochen gehört zu dem Skelett des Langhalsdinosauriers Brachiosaurus brancai, das sich heute noch im Berliner Museum befindet und eine seiner Hauptattraktionen ist.
Die Kulturwissenschaftlerin Mareike Vennen arbeitet anhand dieser Fotografie verschiedene Bedeutungsdimensionen heraus: Zum einen gehe es um die Dokumentation musealer Arbeit, die Fähigkeit des Museums, durch Präparation und wissenschaftliche Bearbeitung Bedeutung zu generieren. Zum anderen habe diese Art von Fotografie der Gewinnung von symbolischem und ökonomischem Kapital gedient: ersteres im Rahmen der Konkurrenz der westlichen Museen um spektakuläre Objekte, letzteres im Kontext der Notwendigkeit, Förderer*innen für die Fortsetzung der Grabungen zu gewinnen. Mit der Aufstellung der Skelett-Rekonstruktion im Naturkundemuseum 1937 verloren dann laut Vennen die Einzelknochen ihren ikonischen Status und traten letztendlich in den Hintergrund. Der Beitrag Vennens erweitert das Spektrum des sonst üblichen Fokus auf Kunstwerke und kulturelle Objekte um die Verlagerungsgeschichten natürlicher Objekte.
Die weiteren vorgestellten Bilder – mal mehr, mal weniger bekannt – in diesem Kapitel illustrieren denn auch überwiegend Aneignungsprozesse im Zuge des napoleonischen Kunstraubs (etwa mit der Federzeichnung, die Napoleons Museumsdirektor Dominique-Vivant Denon inmitten der Beute zeigt; Bild 30, kommentiert von Aylin Birdem) oder ethnologischer bzw. Antiken-Sammlungen (u.a. mit dem Gemälde von Edmund Götz aus dem Jahr 1964, das zwei Kuratoren im Völkerkundemuseum Dresden bei der Bearbeitung der Südsee-Sammlung zeigt; Bild 34, kommentiert von Andrea Meyer).
Die Karikatur „The Magnet“ von Udo J. Keppler, die 1911 in der in New York erscheinenden Satirezeitschrift „Puck“ erschien, findet sich als Bild 50 im Kapitel „tauschen, handeln“. Neben der Skyline von New York liegt auf der Weltkugel ein Mann, der auf dem mit einer US-Flagge verzierten Hut als der Banker J.P. Morgan gekennzeichnet wird. Er hält einen Magneten in Form des Dollarzeichens, der verschiedenste Kunstwerke und kulturelle Objekte über den Atlantik hinweg anzieht. Tim B. Boroewitsch, einer der Studierenden der dem „Bildatlas“ vorgeschalteten Projektseminare, arbeitet in seinem Kommentar den Umbruch im globalen Kunstmarkt kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert heraus, in dem Sammler aus der wirtschaftlichen Elite der Vereinigten Staaten die Dominanz Europas brachen.
Zwischen 1900 und 1912 habe Morgan in kurzer Zeit eine große Privatsammlung aufgebaut, deren Status er mit Leihgaben an das Metropolitan Museum in New York und das Victoria and Albert Museum in London steigerte. Nachdem 1909 der Einfuhrzoll auf Kulturgut in den USA gefallen war und eine neue britische Erbschaftssteuer drohte, verlagerte Morgan seine Sammlung 1912 aus London in die USA und nutzte sie als Präsident des Metropolitan Museums in der Argumentation für die Erweiterungspläne des Museums. Die Marktmacht amerikanischer Sammler wie Morgan, Henry Clay Frick oder Isabella Stewart Gardner wurde in Europa kritisch gesehen. So warnte der Berliner Museumsdirektor Wilhelm von Bode 1907 in einem Artikel vor der „amerikanischen Gefahr im Kunsthandel“, da europäische Museen mit diesen Sammler*innen nicht auf dem Markt konkurrieren konnten. In der Folge führte diese Marktentwicklung zur Verabschiedung von Kulturgüterschutzgesetzen wie 1919 in der Weimarer Republik, die das nationale Kulturerbe vor dem Zugriff durch private Sammler*innen besser schützen sollten.
Neben der Verlagerung von Objekten im Kriegszusammenhang oder im kolonialen Kontext, die im Rahmen dieses Kapitels etwa anhand der Fotografie von der Übergabe eines Öldrucks von Kaiser Wilhelm II. an König Njoya von Bamun im Austausch für den seitens der kolonialen Akteure geforderten, heute im Ethnologischen Museum Berlin befindlichen Thronstuhl des Königs (Bild 43, kommentiert von Sebastian-Manès Sprute) erläutert werden, adressiert der Band also auch wirtschaftliche Asymmetrien und den Kunsthandel, die der Bewegung von Kulturgut zugrunde liegen können.
Im Kapitel „fehlen, gedenken“ adressieren die vorgestellten Bildbeispiele verschiedene Formen des Umgangs mit der Abwesenheit von Objekten. Als Bild 54 wird von Angelica de Chadarevian und Simon Lindner, die ebenfalls an den Projektseminaren zum „Bildatlas“ teilgenommen haben, eine Fotografie der Installation „Vernichtet“ des Künstlers Raphaël Denis vorgestellt. Die Arbeit besteht aus 15 geschwärzten Bilderrahmen, die an einer weißen Wand lehnen und so eine Depotsituation evozieren. Die Bildflächen sind ebenfalls geschwärzt und tragen in weißer Kreide geschrieben das deutsche Wort „vernichtet“. Der Künstler setzte sich in seiner Arbeit mit dem Kunstraub der Nationalsozialisten und der durch sie vorgenommenen Vernichtung von Kunstwerken auseinander: Die Kunsthistorikerin Rose Valland berichtete, wie am 23. Juli 1943 im Innengarten des Museums Jeu de Paume, in dem die geraubten Kunstwerke zusammengeführt worden waren, moderne Bilder verbrannt wurden. Die von Denis gewählten Maße für seine geschwärzten Leinwände entsprechen den Werken, die in den Beschlagnahmelisten der Nationalsozialisten als vernichtet markiert worden sind.
Neben anderen Bildern, die in ähnlicher Weise Abwesenheit zeigen, repräsentieren die goldene Ehrenmedaille des amerikanischen Kongresses für die Monuments Men (Bild 58, kommentiert durch Leona Fernkorn, Luca Faust und Simon Lindner) und das Filmstill mit den in einem gefluteten Schacht eingelagerten Gemälden der Dresdner Gemäldegalerie, die von sowjetischen Soldaten geborgen werden, aus der ostdeutsch-sowjetischen Koproduktion „Fünf Tage – Fünf Nächte“ aus dem Jahr 1960 (Bild 59, kommentiert von Simon Lindner) in diesem Kapitel auch das heroische Gedenken an die Rettung von Kulturgütern.
Merten Lagatz, der die Koordination des Forschungsprojekts translocations inne hatte, widmet sich im Kapitel „protestieren, fordern“ als Bildbeispiel 67 einem von Caitlin Crass 2018 im „New Yorker“ publizierten Cartoon, der eine institutionskritische Museumsführung für Kinder in einem Raum mit ethnografischen Objekten und einem mit Landschaftsgemälden unter dem titelgebenden Zitat „Now we’re leaving the hall of stuff we stole from other cultures and entering the hall of stuff we paid too much for“ zeigt. Er hebt sich mit seinem besonders engagierten Stil von den meisten anderen Beiträgen des „Bildatlas“ ab, die wiederum alle von einer kritischen Perspektive geprägt sind. So endet sein Kommentar mit der Bemerkung:
„Caitlin Cass hält mit ihrer Zeichnung dem ‚versagenden System‘ Museum einen Spiegel vor, indem sie ein zukünftiges Museum imaginiert. Eines, in dem es vollkommen selbstverständlich ist, bereits Kindern zu vermitteln, die eigene Geschichte auch kritisch zu befragen. Sie tut das, indem sie einer erdachten Museumsangestellten das in den Mund legt, was kaum ein Museum öffentlich von sich aus zugeben würde. Raub und Markt, die brutale Aneignung fremder Kulturen und die teure Fetischisierung der eigenen Kunst: Das sind Themen, die Museen bisher lieber kaschiert oder gar verleugnet haben. Was für ein Cartoon!“[9]
Weitere Beiträge zu Bildern wie etwa dem Filmstill der Szene in „Black Panther“, in welcher der Antagonist des Films Erik Killmonger vor einer Vitrine mit afrikanischen Objekten eine Museumskuratorin zur Rede stellt (Bild 68, kommentiert von Tim B. Boroewitsch und Niklas Obermann), oder der Fotografie des Banners „Bring the Marbles Back“ der Fans des Fußballvereins Apoel Nikosia, mit dem diese die griechische Forderung nach Rückgabe der Reliefs und Statuen des Pantheon auf der Akropolis aus dem British Museum unterstützten (Bild 63, kommentiert von Merten Lagatz), differenzieren Widerstand und Protest in verschiedenen regionalen und politischen Kontexten aus.
Das letzte Kapitel „zurückgeben, wiederankommen“ schließlich zeigt als Bild 84 mit dem Foto der Übergabezeremonie des Säbels El Hdj’Umar Talls im Senegal aus dem Jahr 2019 das jüngste Beispiel im „Bildatlas“. Der bereits im Vorjahr als Leihgabe übergebene und im Musée des Civilisations noires ausgestellte Säbel liegt auf einem Präsentationskissen, gehalten vom französischen Premierminister Édouard Philippe und vom senegalesischen Präsidenten Macky Sall. Im Hintergrund der Übergabeszene verweist ein Wandteppich der École de Dakar auf die selbstbewusste panafrikanische Tradition des Landes. Während der senegalesische Präsident den Betrachter/die Betrachterin direkt anschaut, weicht der Blick des französischen Premiers der Kamera aus. Der Ökonom Felwine Sarr und die Kunsthistorikern Bénédicte Savoy, die zusammen den französischen Präsidenten bezüglich der Restitution afrikanischer Objekte beraten haben, werfen in ihrem Kommentar die Frage auf, was auf diesem inszenierten Foto eigentlich zu sehen sei: Der Säbel befand sich bereits im Land und wurde im Museum gezeigt, die gesetzliche Grundlage für eine Restitution aber erst Ende 2020 von der französischen Nationalversammlung geschaffen. Das Bild zeige also wohl entweder einen symbolischen Akt oder staatliche Bild- und Objektpolitik.
Ähnliche Fragen werfen auch andere Beispiele in diesem Kapitel auf, wie etwa die Rückgabe eines Gemäldes von Claude Monet, das von den Nationalsozialisten aus Frankreich geraubt worden war (Bild 83, kommentiert von Susanne Meyer-Abich), oder der in der Zeichnung „Canova präsentiert Pius VII. im Vatikan die Monumente des Ruhms Italiens, aus Paris zurückgewonnen im Jahr 1814,“ imaginierte zeremonielle Empfang der nach Ende der napoleonischen Herrschaft zurückgekehrten Objekte (Bild 85, kommentiert von Matilde Cartolari).
Dieser knappe Abriss kann der Vielfalt der im „Bildatlas“ versammelten Beispiele nur annähernd gerecht werden. Sie regen dazu an, Ähnlichkeiten und Unterschiede über regionale und zeitliche Distanz hinweg und aus der Perspektive verschiedener Akteur*innen zu verfolgen. Zu wünschen bliebe, dass der analytische Zugriff durch eine ausführlichere Einleitung, in der die Konzepte Warburgs, Warnkes, Appadurais, Latours und der Assmanns nicht bloß aufgerufen, sondern in Hinblick auf die ausgewählten Beispiele auch fruchtbar gemacht oder in einem Schluss die in den Einzelanalysen gewonnenen Erkenntnisse zusammengeführt worden wären. Das Fehlen dieser übergreifenden Analyseebene scheint jedoch eine bewusste Entscheidung in Hinblick auf die Ziele des Bandes und den angestrebten Leser*innenkreis gewesen zu sein. Als ein Lese-Buch im besten Sinne richtet es sich von der Präsentation wie von der Aufmachung her an ein allgemeineres Publikum, das durch die Debatten in der aktuellen Berichterstattung auf das Thema aufmerksam geworden ist. Damit ist der „Bildatlas“ Wissenschaftskommunikation im besten Sinne. Bénédicte Savoy ist ja einem größeren Publikum auch durch ihren Auftritt im „ZDF Magazin Royale“ von Jan Böhmermann anlässlich der Debatte um das Humboldt Forum bekannt geworden, in der viele der im „Bildatlas“ adressierten Fragen eine Rolle spielen.[10]
Die Struktur des Buchs mit dem Verzicht auf eine chronologische Ordnung oder thematische Cluster zugunsten einer angenommenen Abfolge von Schritten der Verlagerung – von der Wegnahme der Objekte über ihre Aneignung im neuen örtlichen Kontext und dem Gedenken ihrer Abwesenheit bis hin zu ihrer Rückgabe – bei gleichzeitiger Aufforderung an die Leser*innen, über die Verweise in den Marginalien aktiv zwischen den verschiedenen Kapiteln hin- und herzuspringen, steht der Entwicklung größerer, übergreifender Narrative in diesem Buch entgegen. Sie ermöglicht aber die Wahrnehmung von Nuancen in den (visuellen) Diskursen über die Verlagerung von Objekten und kann somit den Blick der Leser*innen für hochaktuelle politische und kulturelle Fragen schärfen.
Im November 2021 wird dann auch der von Bénédicte Savoy, Felicity Bodenstein und Merten Lagatz herausgegebene Tagungsband „Translocations. Histories of Dislocated Cultural Assets“ – sogar im Open Access – erscheinen und dürfte die hier vermisste weitere analytische Arbeit liefern, die dann aber wahrscheinlich eher wieder ein Fachpublikum ansprechen wird.[11]
Merten Lagatz/Bénédicte Savoy/Philippa Sissis (Hg.), Beute. Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe, Matthes & Seitz, Berlin 2021, 38,-€
[1] Vgl. George Clooney, The Monuments Men, USA/Deutschland 2014.
[2] Vgl. u.a. Felwine Sarr/Bénédicte Savoy, Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin 2019; Moritz Holfelder, Unser Raubgut. Eine Streitschrift zur kolonialen Debatte, Berlin 2019; Thomas Sandkühler/Angelika Epple/Jürgen Zimmerer (Hg.), Geschichtskultur durch Restitution? Ein Kunst-Historikerstreit, Köln u.a. 2021; Götz Aly, Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten, Frankfurt a.M. 2021. Für die aktuelle Berichterstattung rund um die Restitutions-Absicht der Benin-Bronzen siehe u.a. Stefan Grund, Benin-Bronzen. Erforschen und zurückgeben, in: Die Welt, 26.05.2021, online unter https://www.welt.de/regionales/hamburg/article231295995/Koloniale-Raubkunst-Benin-Bronzen-Erforschen-und-zurueckgeben.html [22.09.2021].
[3] Bénédicte Savoy/Robert Skwirblies/Isabelle Dolezalek (Hg.), Beute. Eine Anthologie zu Kunstraub und Kulturerbe, Berlin 2021.
[4] Vgl. die Projektbeschreibung auf der Website http://www.translocations.net/projekt/ [22.09.2021].
[5] Vgl. Translocations. Ikonographie. Eine Sammlung kommentierter Bildquellen zu Kulturgutverlagerungen seit der Antike, https://transliconog.hypotheses.org/ [22.09.2021]. Für die Anthologie gab es ebenfalls einen Blog, siehe: Translocations. Anthologie. Eine Sammlung kommentierter Quellentexte zu Kulturgutverlagerungen seit der Antike, https://translanth.hypotheses.org/ [22.09.2021].
[6] Merten Lagatz/Bénédicte Savoy/Philippa Sissis, Einleitung, in: dies. (Hg.), Beute. Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe, Berlin 2021, S. 7-11, hier S. 7.
[7] Ebd., S. 8.
[8] Ebd.
[9] Merten Lagatz, Ein Cartoon über Dinge im Museum und ihren Weg dorthin, in: Lagatz/Savoy/Sissis (Hg.), Beute, S. 286-289, hier S. 289.
[10] Das Interview von Jan Böhmermann mit Bénédicte Savoy im begleitenden Online-Angebot zur Sendung verzeichnet auf YouTube mehr als 200.000 Aufrufe, siehe: ZDF Magazin Royale, Koloniale Raubkunst – Prof. Dr. Bénédicte Savoy im Interview, 11. Dezember 2020, https://www.youtube.com/watch?v=nE89z19uha4 [27.09.2021]. Das auch linear ausgestrahlte Segment der Show verzeichnete sogar mehr als 650.000 Aufrufe auf YouTube, siehe: ZDF Magazin Royale, Das Humboldt Forum – Raubkunst in Berlin?, 11. Dezember 2020, https://www.youtube.com/watch?v=CCU3bxBfk00 [27.09.2021].
[11] Vgl. die Buchankündigung auf der Verlagswebsite, https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5336-6/translocations/?number=978-3-8394-5336-0 [27.09.2021].
Zitation
Julius Redzinski, Rezension: „Beute. Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe“. herausgegeben von Merten Lagatz, Bénédicte Savoy und Philippa Sissis, in: Visual History, 19.10.2021, https://visual-history.de/2021/10/19/rezension-beute-ein-bildatlas-zu-kunstraub-und-kulturerbe/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2323
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