Nadeshda Bojkos Fotoalbum. Erinnerungsbilder einer Ostarbeiterin

Cord Pagenstecher im Gespräch mit Aleksandar Nedelkovski

Während des Zweiten Weltkrieges wurden aus den durch die Wehrmacht besetzten Ländern viele Millionen Menschen zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt. Die sogenannten Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen standen in der nationalsozialistischen Ausländerhierarchie auf der untersten Stufe. Fast drei Millionen Menschen wurden aus der Sowjetunion, überwiegend aus Belarus und der Ukraine, zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich deportiert. Aufgrund der „Ostarbeiter-Erlasse“ vom 20. Februar 1942 waren sie dazu verpflichtet, ein blaues Stoffquadrat mit der weißen Aufschrift „OST“ gut sichtbar an ihrer Kleidung zu befestigen. Ein deutliches Zeichen der Ausgrenzung.

Nadeshda Terentewa, geborene Bojko, war eine von ihnen. Sie kam bereits 1942 in die „Stadt des KdF-Wagens“, das heutige Wolfsburg, und leistete dort im Volkswagenwerk bis zum Kriegsende Zwangsarbeit. Im Volkswagenwerk arbeiteten ab 1942 zwischen 4000 und 5000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion. Die „Ostarbeiter“ stellten die größte Zwangsarbeitergruppe mit einem Frauenanteil von knapp 50 Prozent.[1] Nadeshda Terentewas Tochter, Ekaterina Terentewa, überlieferte dem Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation ein Fotoalbum ihrer Mutter in digitaler Form. Diese zeitgenössischen Fotografien sind eine hochspannende, aber auch schwer zu deutende visuelle Quelle. Über die sie betreffenden Fallstricke und Potenziale sprach Aleksandar Nedelkovski mit dem Historiker Cord Pagenstecher.

 

 

Aleksandar Nedelkovski: Im Jahr 1942 suchten ukrainische Polizisten nach Mädchen und Jungen, um sie zur Zwangsarbeit nach Deutschland zu schicken.[2] Einer der Polizisten kam im Zuge dieser Suche auch ins Haus der Familie Bojko. Nadeshda Bojko, damals 19 Jahre alt, meldete sich „freiwillig“ für den Arbeitseinsatz in Deutschland, um ihre beiden Schwestern zu schützen. Von dort hat sie nach Kriegsende eine kleine Anzahl an Fotografien mit zurück in die Heimat gebracht, aus denen sie später ein kleines Fotoalbum zusammenstellte. Wie ordnen Sie den Fund des Fotoalbums ein? Sie haben sich intensiv mit dem Themenkomplex Zwangsarbeit und Fotografie beschäftigt – sind Ihnen vergleichbare Alben bekannt? Und falls ja, was macht es besonders?

 

Cord Pagenstecher: Fotografien sind eine wichtige Quelle für die Geschichte der „zivilen“ Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, also jener Millionen zur Arbeit verschleppten Menschen, die nicht der SS oder Wehrmacht, sondern dem Arbeitsamt und einzelnen, meist privaten Firmen und Arbeitgebern unterstellt waren. Schriftliche Dokumente fehlen zumeist oder spiegeln einseitig die Täterperspektive wider. Persönliche Zeugnisse wie Fotografien zeigen uns dagegen individuelle Wahrnehmungs- und Erinnerungsmuster, aber auch manche ereignisgeschichtlichen Details. Anders als spätere Interviews oder Erinnerungsberichte sind sie bereits während des Geschehens entstanden.

Die meisten heute veröffentlichten Fotos aus der NS-Zeit sind in gewisser Weise Täterfotos, nämlich Erfassungs- oder Pressebilder deutscher Profifotografinnen und -fotografen. In vielen Publikationen dienen sie als Illustration, ohne ihren Entstehungskontext – Fotografie als Repressions- und Manipulationsinstrument – zu reflektieren. Fotos aus den Händen der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter können dagegen als Opferfotos bezeichnet werden. Ihre Bedeutung liegt aber gerade darin, die Eigentümerinnen und Eigentümer der Bilder aus der ihnen oft allzu pauschal zugewiesenen Opferrolle herauszuholen und sie als Handelnde zu zeigen – in unterschiedlichen Lebensbedingungen und mit vielfältigen Selbstbehauptungsstrategien.[3]

Trotz der damaligen Fotografierverbote und der Ausbeutung und Repression in den Lagern gibt es erstaunlich viele Fotografien im Privatbesitz ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Sie sind allerdings über alle Herkunftsländer verstreut und gelangen meist allein dann in deutsche Archive, wenn die Betroffenen oder ihre Angehörigen persönlich Kontakt aufnehmen und bereit sind, ihre Familienfotos einer Einrichtung im Land der Täter zu übergeben. Die Analyse von Fotografien ist für die eher mit Schriftquellen arbeitende Geschichtswissenschaft eine methodische Herausforderung; erst in den letzten Jahren hat sich so etwas wie eine „Visual History“ als Forschungsfeld etabliert.[4] Besonders schwierig ist die Interpretation privater Fotografien; sie erfordert biografische Nachforschungen, detaillierte Lokalkenntnisse, Sprachkenntnisse zur Entzifferung der Widmungen und schließlich einen Blick für kultur- und geschlechtsspezifische Posen und Gesten.[5]

Wenn die Besitzerinnen oder Besitzer ihre Bilder in einem Fotoalbum angeordnet und kommentiert haben, entspricht das gewissermaßen einer autobiografischen Erzählung, einem bildlichen Erinnerungsbericht. Bislang sind nur wenige Fotoalben ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter bekannt. Ich kenne drei Alben von Niederländern, zwei waren in Berlin, einer in Göttingen eingesetzt. Die Alben gelangten über persönliche Begegnungen an Geschichtswerkstätten oder Dokumentationszentren.[6] Weitere Alben sind wohl noch bei Angehörigen, manche auch auf Flohmärkten oder Online-Auktionen zu finden, so etwa ein Album einer in Helmstedt eingesetzten Ukrainerin.[7]

Das Album von Nadeshda Bojko enthält im Vergleich zu den mir bekannten Alben allerdings sehr wenige Informationen. Es umfasst offenbar lediglich vier Seiten mit 14 Fotografien, die nicht mit Bildunterschriften versehen wurden. Allein auf der ersten Seite steht „Für Blondie von Aelita Sch., Friedensau, 7.12.1945“.

Doppelseite eines Fotoalbums: links: Schrift, rechts: zwei Fotos von zwei Frauen sowie einer Burg

„Für Blondie“. Links Nadeshda Bojko, rechts Aelita Sch., unten die Burg Neuhaus. Quelle: Ekaterina Terentewa ©

Offenbar bekam die blondgelockte Nadeshda Bojko das Album von einer Freundin, mit der sie im Winter 1945 in Friedensau bei Magdeburg zusammenarbeitete. In der dortigen Theologischen Hochschule betrieb zunächst die Wehrmacht, dann die Sowjetarmee ein Lazarett, in dem Nadeshda Bojko nach ihrer Befreiung und vor ihrer Rückkehr in die Ukraine einige Monate arbeitete. Sieben der 14 Fotos entstanden während ihrer Arbeit für die Rote Armee nach der Befreiung. Möglicherweise ist Aelita Sch. auf dem linken Foto auf der ersten Seite des Albums abgebildet.

Viele der hier genannten Hintergrundinformationen erschließen sich jedoch nicht aus dem Album selbst, sondern sind über den Austausch des Stadtarchivs Wolfsburg mit Nadeshda Bojkos Tochter zusammengetragen worden sowie einem 2018 für die Initiative „Unsterbliches Regiment“ verfassten Text eben dieser Tochter zu entnehmen.

 

Aleksandar Nedelkovski: Im Fotoalbum ist auch eine Porträtaufnahme zu finden, die Nadeshda Bojko zu ihrer Zeit als Zwangsarbeiterin zeigt, deutlich am aufgenähten „OST“-Stoffzeichen zu erkennen. Es kann nicht rekonstruiert werden, wann und unter welchen Umständen die Porträtaufnahme entstanden ist. Die Kulturwissenschaftlerin Britta Lange benennt solche Fotografien unabhängig davon, ob es sich nun um eine Atelier- oder eine Erfassungsfotografie handelt, „Fotografien-wider-Willen“.[8] Wie bewerten Sie diese Aufnahme?

Albumseite mit vier kleinen Fotografien: eine Frau im Porträt, zwei Frauen vor einem Haus, eine andere Frau im Porträt sowie ein Mann

Links oben Nadeshda Bojkos Erfassungsfotografie; in der Mitte Nadeshda Bojko und Inga in der Burg Neuhaus; rechts zu sehen sind Inga und unten Józef. Quelle: Ekaterina Terentewa ©

Cord Pagenstecher: Die meisten Fotoalben enthalten nicht nur selbstgeknipste Aufnahmen, sondern auch geschenkte oder gekaufte Bilder professioneller Fotografen, Postkarten oder Passbilder. Dies gilt besonders für Fotoalben von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, die sehr eingeschränkte Fotografier-Möglichkeiten hatten. Den aus der Sowjetunion verschleppten „Ostarbeitern“ war genau wie den polnischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern der Besitz eines Fotoapparats und der Kauf von Filmen verboten. Daher hoben sie vor allem solche Fotos auf, die sie von Familienangehörigen oder Lagerkameradinnen und -kameraden, selten auch von Deutschen, geschenkt bekamen. Dazu kamen auch Porträts und Gruppenfotos, die in einem Fotostudio, einem Automaten oder von einem Lagerfotografen aufgenommen wurden, und eben Erfassungsfotos aus der Arbeitskarte oder dem Lagerausweis.

Dieses Foto ist vermutlich ein solches Erfassungsfoto, aufgenommen laut Stempel auf der Rückseite durch das Wolfsburger Fotostudio Walter Hönl. Inwiefern dieser Fotograf vom Volkswagenwerk beauftragt war, ist unbekannt.[9] Der ungerade beschnittene Rand und Spuren eines Stempels oder rostiger Heftklammern lassen vermuten, dass es aus einem Ausweisdokument herausgelöst wurde. Auf der Brust trägt Nadeshda Bojko allerdings nicht die bei Registrierungsbildern übliche Nummer, sondern, etwas schräg befestigt, das „OST“-Abzeichen. Dieses diskriminierende Abzeichen bekamen die sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in der Regel nach der Registrierung und mussten es stets sichtbar tragen. In Nadeshda Bojkos Gesicht ist die Erschöpfung, Angst und Erniedrigung zu sehen, die die „Hygiene“-, Erfassungs- und Verteilungsprozeduren in den Durchgangslagern bei den Betroffenen auslösten.

Dieses Foto ist offensichtlich wider Willen aufgenommen worden. Solche Erfassungsfotos versinnbildlichen die umfassende und erniedrigende Kontrolle, die die Struktur des Zwangsarbeitssystems kennzeichnete und die Erinnerung der Betroffenen bis heute prägt. Bildlich gleichen sie anderen Registrierungsfotos vor oder nach der NS-Zeit. Sie dienten in ihrem Gebrauch aber nicht nur der Erfassung, sondern manchmal auch der rassistischen Selektion. Wie blond die Haare, wie gerade die Nase auf einem Foto war, konnte bei eventuellen Strafverfahren gegebenenfalls über Leben und Tod entscheiden. Bei Nadeshda Bojko ist davon nichts bekannt, jedoch gelang es ihr aufgrund ihrer blonden Haare und ihres guten Schuldeutsches, sich zumindest zeitweise als Volksdeutsche auszugeben und dadurch einer etwas leichteren Arbeit zugewiesen zu werden.

 

Aleksandar Nedelkovski: Mitunter – das zeigen weitere Porträtaufnahmen von „Ostarbeiterinnen“ und „Ostarbeitern“ aus dem Wolfsburger Stadtarchiv (StadtA WOB, S20) und insbesondere auf deren Rückseiten festgehaltene persönliche Widmungen – handelte es sich bei ihnen um regelrechte Tauschobjekte. Warum und zu welchem Zweck wurden solche Fotografien aufgehoben? Immerhin erinnern sie ihren Besitzer beziehungsweise ihre Besitzerin an Verschleppung, Zwangsarbeit und Unfreiheit.

 

Cord Pagenstecher: Viele Erfassungsfotos verblieben später im Privatbesitz. Wir müssen uns vor Augen führen: Für viele Betroffene war ihr Ausweisfoto nach dem Krieg das einzige „Souvenir“ ihrer in Deutschland verlorenen Jugend. Zum Abschied bei Kriegsende oder bei einer Verlegung in ein anderes Lager schenkten manche Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ihr Porträt, und sei es ein Erfassungsfoto, ihren Freundinnen oder Lagerkameraden als Zeichen der Erinnerung. Oft schickten sie es auch per Post als Lebenszeichen an die zu Hause gebliebenen oder in andere Lager verschleppten Familienangehörigen.

In den Lagern wurden in der Tat häufig Fotoabzüge oder Filmmaterial gegen Zigaretten oder Brot getauscht. Mit Widmungen versehene Fotografien dienten jedoch der Erinnerung an eine Lagerfreundschaft. In den Zwangsarbeiterlagern litten die aus ihrer Heimat verschleppten Menschen, viele noch Jugendliche oder Kinder, nicht nur unter Ausbeutung, Gewalt, Diskriminierung, Hunger, Kälte und Bombenangriffen, sondern sie hatten auch Heimweh und Sehnsucht nach ihrer Familie. Unter diesen Umständen waren Freundschaften von großer Bedeutung. Sie gaben Anerkennung, spendeten Trost, waren gelebte Solidarität. Viele junge Menschen verliebten sich auch in Kameradinnen und Kameraden aus anderen Herkunftsländern.

Aus den Widmungen auf der Rückseite geht oft hervor, wie schmerzhafte Erinnerungen auch mit einem scheinbar glücklich lächelnden Porträt verbunden sein können, wie ambivalent die Erinnerung an die eigene, in der Fremde verlorene Jugend oft war.[10]

 

Aleksandar Nedelkovski: Innerhalb des Albums findet sich auch eine Porträtaufnahme eines jungen Mannes, die, so wirkt es für mich, nach Kriegsende aufgenommen worden sein muss. Sein Name, das wissen wir von Nadeshda Bojkos Tochter, ist Józef. Er war ein polnischer Zwangsarbeiter, der der verletzten Nadeshda Bojko bei Fliegeralarm dabei helfen musste, von der Krankenstation in den Luftschutzkeller zu gelangen.[11] Welche Rolle spielen Fotografien in solchen speziellen Erinnerungsfällen?

 

Cord Pagenstecher: Das Bild kann durchaus während des Krieges entstanden sein; darüber ist nichts Genaues bekannt. Vermutlich hatte der junge polnische Zwangsarbeiter Józef (Nachname unbekannt) sein Porträt Nadeshda Bojko zur Erinnerung geschenkt. Welche Verbindung die beiden außer der Erfahrung der Bombenangriffe auf der Krankenstation hatten, wissen wir nicht.

Viele ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter besitzen Fotos, die die Bombenangst als prägende Erfahrung der Zwangsarbeit thematisieren, etwa Bilder der brennenden deutschen Häuser, der Beerdigung getöteter Kameradinnen und Kameraden oder der nach der Rückkehr von der Arbeit zerstört vorgefundenen eigenen Baracke. Nadeshda Bojko hatte die traumatische Erfahrung einer schweren Verletzung und immer wieder die fürchterliche Angst bei weiteren Bombardements erlebt; da half das Porträt eines hilfsbereiten jungen Mannes vermutlich bei der Verarbeitung der erlebten Schrecken.

 

Aleksandar Nedelkovski: Das Fotoalbum zeigt überwiegend Aufnahmen, die zwar nach Kriegsende, aber noch in Deutschland aufgenommen worden sind. Auf einer solchen sehen wir Nadeshda Bojko gemeinsam mit einer Freundin als „Touristinnen“ vor der Burg Neuhaus, die bis 1939 als Reichssportschule des Reichsnährstandes genutzt wurde und die unweit der damaligen „Stadt des KdF-Wagens“ gelegen ist. Offenbar ist sie oder sind die beiden noch einmal an den Ort ihrer Zwangsarbeit zurückgekehrt. Wiederum andere Fotografien stammen aus dem Lazarett der Sowjetarmee in der Theologischen Hochschule Friedensau, wo sie als Krankenschwester aushalf. Was erzählen uns diese Bilder?

Fotoalbumseite mit drei Bildern: oben zwei Gruppenbilder mit vielen weiß gekleideten Personen; rechts unten eine Frau auf einem Stuhl

Fotografien aus ihrer Zeit im sowjetischen Lazarett im Gebäude der Theologischen Hochschule Friedensau. Quelle: Ekaterina Terentewa ©

Cord Pagenstecher: Leider sind die Aufnahmedaten meistens nicht bekannt; ohne historisches und biografisches Kontextwissen erzählen die Bilder erst einmal wenig. Zu ihrer Interpretation sind also weitere Recherchen nötig.

Aus den 2018 von der Tochter aufgezeichneten Erinnerungen geht hervor, dass zwei Fotos 1943 auf der Burg Neuhaus nahe der „Stadt des KdF-Wagens“ aufgenommen wurden. Ein Bild zeigt Nadeshda Bojko, die in der Küche arbeitete, mit ihrer deutschen Arbeitskollegin Inga (Nachname unbekannt), die in der Ingenieurskantine bediente. Offenbar konnten die jungen Frauen in der knappen Freizeit zu der – vor dem Krieg als Reichssportschule genutzten – Burg spazieren und sich dort von irgendjemandem, vielleicht einem Bekannten der Arbeitskollegin, fotografieren lassen.

Solche Ausflugsfotos gibt es von vielen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern. Sie dokumentieren einerseits, dass „zivile“ Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, selbst wenn sie aus der Sowjetunion stammten, gewisse Bewegungsspielräume hatten, wie es sie in Konzentrationslagern oder Kriegsgefangenenlagern nicht gab. Diese so harmlos wirkenden Freizeitbilder belegen eine wichtige Funktion privater Fotografien, nämlich glückliche Momente, Ausflüge, Feiern, Freundschaftstreffen für die Erinnerung zu dokumentieren. Zentrale Aspekte der Zwangsarbeit wie Arbeit, Gewalt, Widerstehen oder Flucht sind fast nie fotografisch dokumentiert.

Drei der Fotos im Album erhielt Nadeshda Bojko vermutlich von ihrer deutschen Arbeitskollegin Inga. Rechts neben dem Ausflugsfoto ist ein Porträt von ihr eingeklebt. Bekanntschaften mit deutschen Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen, Nachbarinnen und Nachbarn oder zumindest freundliche Gesten von deren Seite waren selten, wurden aber umso aufmerksamer registriert und später genau erinnert, oft auch besonders emotional beschrieben.

Die sieben letzten Fotografien entstanden dagegen nach der Befreiung, als Nadeshda Bojko in Lazaretten der Roten Armee arbeitete, zunächst in Salzwedel, dann in Friedensau. Viele sowjetische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wurden nach der Befreiung in den Filtrierlagern auf eine mögliche Kollaboration hin befragt und mussten dann für längere Zeit in der sowjetischen Armee dienen oder für diese im besetzten Deutschland arbeiten. Nadeshda Bojko ist auf dem Bild rechts unten sitzend ganz links abgebildet. Sie hatte schon als Jugendliche von einem Medizinstudium geträumt und scheint hier im Kollektiv des Lazaretts gut eingebunden zu sein, wenn wir den von offensichtlich professionellen Fotografen auf typische Weise arrangierten Gruppenfotos glauben wollen. Diese Bilder sind die einzigen des Albums, in dem ein Arbeitskontext zu sehen ist, wenngleich in stark inszenierter Weise. Das Bild oben links, auf dem Nadeshda Bojko einen vor ihr liegenden Verletzten versorgt (oder dies im Freien nachspielt), wirkt geradezu wie eine christliche Pietà-Darstellung.

Albumseite mit vier Fotos: drei Gruppenbilder sowie ein Bild von einem Mann auf einer Bahre, der von einer weißgekleideten Frau versorgt wird.

Nadeshda Bojko in Salzwedel. Sie arbeitete nach der Befreiung als Krankenschwester im dortigen Lazarett der Roten Armee. Quelle: Ekaterina Terentewa ©

Aleksandar Nedelkovski: Die Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch schreibt, dass einzelnen Fotografien in einem Fotoalbum stets eine soziale Funktion zugewiesen wird. Das gemeinsame Betrachten der Aufnahmen eröffnet sodann die Möglichkeit, sich gemeinsam zu erinnern, aber auch Familiengeschichte weiterzuerzählen. Welche Funktionen übernehmen Fotoalben von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern bei der Tradierung eines Familiennarrativs, der Aufarbeitung beziehungsweise Weitergabe von Traumata?

 

Cord Pagenstecher: Einige Funktionen der privaten Fotografie im Allgemeinen habe ich bereits benannt. Hervorheben möchte ich, dass private Fotoalben der privaten Erinnerung dienen. Sie werden in der Regel nur im Freundes- und Familienkreis gezeigt. In der familiären Überlieferung spielen sie eine wichtige Rolle, da sie häufig Angel- und Ausgangspunkte für persönliche Erinnerungserzählungen und damit für die intergenerative Geschichtsvermittlung sind. Wie dies mit diesen Fotos in dieser Familie war, darüber könnte ich ohne weitere Informationen von der Tochter nur spekulieren.

 

Aleksandar Nedelkovski: Welche Rolle spielen solche Fotoalben im kollektiven Gedächtnis? In welcher Form werden solche Erinnerungsbilder geteilt, so sie überhaupt den privaten, geschützten Raum verlassen?

 

Cord Pagenstecher: Verschiedene Studien haben die Bedeutung dieser familiären Tradierung von Geschichtsbildern auch für die kollektive Erinnerungskultur gezeigt.[12] Dies gilt vermutlich auch für Fotoalben ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die – vor allem, aber nicht nur in der Sowjetunion – als potenzielle Kollaborateurinnen und Kollaborateure jahrzehntelang aus dem kollektiven Gedächtnis ausgegrenzt wurden. Erst nach dem Ende des kommunistischen Regimes und vor allem im Zuge der Entschädigungsdebatte konnten die privaten Erinnerungen an die Zwangsarbeit öffentlich gemacht werden. Manchmal wurden nun, mehr als fünf Jahrzehnte nach dem Krieg, die privaten Erinnerungsbilder wieder öffentliche Dokumente: Im Kontext von Entschädigungsanträgen verhalfen sie als Nachweis der geleisteten Zwangsarbeit ihren Besitzerinnen und Besitzern gelegentlich zu einer kleinen finanziellen Kompensation für ihre Leiden, wenn sie denn anerkannt wurden.

Aus allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion erhielt die 1988 gegründete – und 2022 offiziell aufgelöste – Menschenrechtsorganisation Memorial 1990 nach einer Falschmeldung in einer Zeitung über 400.000 Briefe von ehemaligen „Ostarbeitern“ und „Ostarbeiterinnen“, die auf eine Entschädigung hofften. Darunter waren auch zahlreiche Fotografien, mit denen Memorial später Ausstellungen und Publikationen erarbeitete.[13] Viele Betroffene schickten solche Fotos auch an deutsche Archive und Forscherinnen wie Forscher, die dann in ihren Veröffentlichungen mit diesen Bildern versuchten, den anonymen und erniedrigten Opfern der Zwangsarbeit ein persönliches Gesicht zu geben. Vielfach fanden Angehörige die Fotos aber auch erst nach dem Tod der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Manche warfen sie weg, manche verkauften sie auf Flohmärkten oder über Online-Auktionen, manche recherchierten nach ihren Kontexten und nahmen Kontakt mit deutschen Lokalarchiven auf.

Im Fall von Nadeshda Bojko zeichnete die Tochter die Erinnerungen der Mutter auf, beschrieb die Fotos, recherchierte im Internet nach historischen Kontexten und erarbeitete daraus eine Würdigung ihrer verstorbenen Mutter. Diesen 26-seitigen Text verfasste sie im Jahr 2018 als Beitrag zum „Unsterblichen Regiment“. Das „Unsterbliche Regiment“ ist eine zunächst zivilgesellschaftlich entstandene Initiative zur familienbiografischen Erinnerung an die im Großen Vaterländischen Krieg gefallenen Sowjetsoldaten. Rasch wurde diese 2012 in Tomsk entstandene Bewegung von Wladimir Putin und der nationalistischen Propaganda vereinnahmt; zum 70. Jahrestag des Sieges zogen im Mai 2015, ein Jahr nach der Annexion der Krim, wohl zwölf Millionen Menschen mit selbstgemachten Porträts ihrer als Soldaten der Roten Armee gefallenen Väter und Großväter durch die Städte Russlands.[14] In dieser familiär verankerten, nationalen Heldenerzählung haben die ehemaligen „Ostarbeiter“ normalerweise keinen Platz, erst recht nicht die lange Zeit auch noch sexueller Kollaboration verdächtigten „Ostarbeiterinnen“. Dass Ekaterina Terentewa 2018 in dem seit vier Jahren von Russland annektierten Sewastopol ihre als „Ostarbeiterin“ aus der Ukraine nach Deutschland verschleppte Mutter als Kämpferin des „Unsichtbaren Regiments“ würdigt, ist daher bemerkenswert.

 

 

Dieser Beitrag ist ein leicht veränderter Nachdruck; die Originalveröffentlichung findet sich in:
Das Archiv. Zeitung für Wolfsburger Stadtgeschichte, Jg. 8 (März 2023), S.1-3, online unter https://www.wolfsburg.de/kultur/geschichte/izs-neu/izs-aktuelles/das-archiv. Wir danken Alexander Kraus und Aleksandar Nedelkovski herzlich für die Genehmigung.

 

 

[1] Ausführlich dazu Klaus-Jörg Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit im Volkswagenwerk 1939-1945. Frankfurt a.M. 1986; Hans Mommsen/Manfred Grieger, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996, S. 544-598.

[2] Aussage aus den biografischen Aufzeichnungen der Tochter, Ekaterina Terentewa.

[3] Cord Pagenstecher, „Erfassung, Propaganda und Erinnerung. Eine Typologie fotografischer Quellen zur Zwangsarbeit“, in: Wilfried Reininghaus/Norbert Reimann (Hg.), Zwangsarbeit in Deutschland 1939-1945. Archiv- und Sammlungsgut, Topographie und Erschließungsstrategien, Bielefeld/Gütersloh 2001, S. 254-266.

[4] Gerhard Jagschitz, „Visual History“, in: Das audiovisuelle Archiv 29/30 (1991), S. 23-51; Gerhard Paul, Visual History – Ein Studienbuch, Göttingen 2006; Jürgen Danyel/Gerhard Paul/Annette Vowinckel (Hg.), Arbeit am Bild. Visual History als Praxis, Göttingen 2017; Gerhard Paul, Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des „Dritten Reiches“, Göttingen 2020.

[5] Vgl. Hanna Lehun, Zensiert, beschlagnahmt, geheimgehalten. Privatfotos ukrainischer Zwangsarbeiter_innen aus der Sammlung im Winnyzja Regionalarchiv, Berlin: MA Humboldt Universität 2018, online unter https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/22324 [03.07.2023]; Sina Freinatis, Zwischen Stigma und Selbstbehauptung. Private Fotografien von NS-Zwangsarbeiter:innen. Berlin: MA Humboldt-Universität 2020.

[6] Theo de Jooden, Interview im Alter von 88 Jahren, zur Verfügung gestellt auf den Seiten des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide, online unter https://www.dz-ns-zwangsarbeit.de/zeitzeugenarchiv/interviews/video/de-jooden-theo/ [03.07.2023]; Fotos von dem niederländischen Zwangsarbeiter C[ees] Louwerse (Student) fotografiert, zur Verfügung gestellt auf den Seiten des Stadtarchivs Göttingen, Sammlung Tollmien, online unter http://www.zwangsarbeit-in-goettingen.de/texte/fotolouwerse.htm [03.07.2023]; Cord Pagenstecher, Private Fotoalben als historische Quelle, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 6 (2009), H. 3, S. 449-463, online unter http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Pagenstecher-3-2009 [03.07.2023].

[7] After Silence, „While staying in Germany“, online unter http://ostarbeiter.in.ua/photos_en.html [03.07.2023].

[8] Ausführlich dazu Susanne Regener, Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999; Cornelia Brink, Vor aller Augen: Fotografien-wider-Willen in der Geschichtsschreibung, in: WerkstattGeschichte 47 (2008), S. 61-74, online unter https://werkstattgeschichte.de/wp-content/uploads/2017/01/WG47_061-074_BRINK_AUGEN.pdf [03.07.2023].

[9] Walter Hönl war zwischen 1939 und 1940/1941 VW-Werksfotograf. Nach seinem Ausscheiden bei Volkswagen eröffnete er das erste Fotostudio in der „Stadt des KdF-Wagens“.

[10] Beispiele bei Lehun, Zensiert, beschlagnahmt, geheimgehalten, S. 33 und 79; Bella Čistova/Kirill Čistov, „Fliege, mein Briefchen, von Westen nach Osten …“ Auszüge aus Briefen russischer, ukrainischer und weißrussischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter 1942-1944, Bern u.a. 1998, S. 184; After Silence, „While staying in Germany“.

[11] Bojko hatte bei einem früheren Bombenangriff auf das Volkswagenwerk Kopfverletzungen erlitten. In ihrer Erinnerung sprach sie von Angriffen, die Ostern 1943 erfolgt seien. Unserer Kenntnis nach wurden jedoch mit Ausnahme des Nachtangriffs vom 17./18. Juni 1940 erst ab April 1944 Angriffe auf das Werk geflogen. Ausführlich dazu Manfred Grieger, Target Volkswagenwerk. Bombenkrieg und Unternehmenspolitik, in: Günter Riederer (Hg.), Luftkrieg und Heimatfront. Ein vergessener Fliegerlynchmord in der „Stadt des KdF-Wagens“, Braunschweig 2016, S. 41-56.

[12] Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M. 2002; Michael Papendick/Jonas Rees/Maren Scholz/Andreas Zick, MEMO Deutschland – Multidimensionaler Erinnerungsmonitor, Berlin/Bielefeld 2022, online unter https://www.stiftung-evz.de/was-wir-foerdern/handlungsfelder-cluster/bilden-fuer-lebendiges-erinnern/memo-studie [03.07.2023].

[13] Irina Scherbakowa (Hg.), Für immer gezeichnet. Die Geschichte der „Ostarbeiter“ in Briefen, Erinnerungen und Interviews, Berlin 2019.

[14] Julie Fedor/Andrea Huterer/Olga Radetzkaja/Volker Weichsel, „Russlands ‚Unsterbliches Regiment‘. Der Staat, die Gesellschaft und die Mobilisierung der Toten“, in: Osteuropa, Jg. 67 (2017), H. 5, S. 61–85.

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