Bild(un)fälle. Immer dieser Ärger mit dem Visuellen

Die Kuratorin Sylvia Necker im Interview

Dr. Sylvia Necker lebt und arbeitet als Historikerin, Ausstellungsmacherin sowie Klangwerkerin im ostwestfälischen Minden. Seit 2019 ist sie Leiterin des LWL-Preußenmuseums Minden und des LWL-Besucherzentrums im Kaiser-Wilhelm-Denkmal.

 

 

Christine Bartlitz: Dein Vortrag bei dem Workshop am ZZF in Potsdam zum Thema „Bildethik[1] hatte den Titel „Nazis im Bild. Die Online-Ausstellungen Deutscher NS-Dokumentationszentren“. Damals hast du diesen wunderbaren Begriff des „Bildunfalls“ geprägt. Daran knüpft meine erste Frage an: Wie viele Hitler-Bilder verträgt eine Website? Kannst du mir von deinen Erfahrungen berichten, die du als Bildkuratorin für Web-Ausstellungen von Gedächtnis-Institutionen gemacht hast, gerade bezogen auf NS-Täterbilder?

Sylvia Necker: Ich denke, dass es für viele immer noch faszinierend ist, sich genau diese Bilder anzuschauen. Das ist mir jetzt wieder bei der Ausstellung „Planen und Bauen im Nationalsozialismus“ aufgefallen, an der ich als Forscherin mitgewirkt habe.[2] Da hängen drei Bilder nebeneinander, die Hitler zeigen, wie er sich architektonische Modelle ansieht. Warum braucht es davon drei? Ich frage mich, was mir solch ein Bild überhaupt sagen soll. Als Forscher:innen setzen wir solche Bilder durch ihre permanente Reproduktion immer wieder neu und ikonisieren sie damit auch. Daher scheint es unausweichlich zu sein, bei einer Architekturausstellung über die Zeit des Nationalsozialismus Hitler mit einem städtebaulichen Modell zu zeigen.

 

Sollten wir also auf solch ein Bild in einer Ausstellung verzichten?

Sylvia Necker: Wir können auf ziemlich viel verzichten. Ich hatte neulich eine Diskussion mit einer Kollegin, die argumentiert hat, dass gerade Bilder aus Konzentrationslagern oder von Leichenbergen unverhandelbar seien. Schüler:innen müssten diese Bilder zur Kenntnis nehmen. Diese Fotografien hätten so eine wichtige Bedeutung für die Erkenntnis, dass sie unverzichtbar seien – nur die Forschungscommunity sei ihrer mittlerweile überdrüssig. Ich würde sagen, bei den NS-Propagandabildern ist das nicht der Fall. Natürlich muss man bestimmte Personen, zum Beispiel Hitler oder Himmler, schon kennen, aber ich glaube nicht, dass sie markiert werden müssen durch diese immer wieder gleichen Fotografien. Diese Bilder transportieren doch auch: „Interessant, Hitler vor einem Architekturmodell.“ Das ist keine sachliche Dokumentation, sondern eher affirmativ und effektheischend.

 

… und damit transportieren wir auch die propagandistische Bildsprache.

Sylvia Necker: Genau. Ich transportiere sie, ich reproduziere sie, ich bin erneut davon fasziniert, weil es so schöne Farbfotos sind. Ich bin der Meinung, dass an dieser Stelle von unserer Seite, also von denjenigen, die diese Bilder in Ausstellungen und Büchern neu reproduzieren, ein Bewusstsein vorhanden sein sollte, ob es wirklich notwendig ist, diese Fotografien wieder und wieder zu zeigen.

 

Kommen wir zum Thema Internet, denn der Bildethik-Schwerpunkt auf dem Online-Portal Visual History beschäftigt sich ja mit der digitalen Veröffentlichung von Bildern. Wenn du also eine Website zu dem genannten Ausstellungsprojekt „Planen und Bauen im Nationalsozialismus“ entwerfen solltest, würdest du dann komplett auf Bilder der Nazi-„Riege“ verzichten? Und was ist mit einem Foto, auf dem das Modell von „Germania“ zu sehen ist?

Sylvia Necker: Ich würde – zugespitzt gesagt – nur das nationalsozialistische Siedlungshaus zeigen.[3] Was mich an Ausstellungen interessiert, ist eben, Dinge hervorzuheben, die vermeintlich noch nicht gesehen worden sind oder die viele nicht mit einem bestimmten Thema verbinden. Viele denken beim Thema NS-Architektur sofort an Albert Speer und „Germania“. Solche Vorstellungen dürfen in einer Ausstellung gerne gebrochen werden, die brauchen wir nicht mehr. Wir müssen nicht noch einmal „Albert Speer“ sagen, sondern „Deutsche Arbeitsfront, Siedlungshaus. Schaut mal dahin“.

 

Aber kannst du es dir leisten, bei einer Ausstellung oder Website solche Basisinformationen komplett wegzulassen, weil du davon ausgehst, dass die Leute das sowieso schon wissen? Wissen sie es wirklich? Denken alle beim Thema NS-Architektur an Albert Speer und „Germania“ – oder sind es doch nur wir Fachhistoriker:innen? Wie weit musst du die Bedürfnisse nach Basisinformationen bedienen, um dann in einem zweiten Schritt das Siedlungshaus zeigen zu können?

Sylvia Necker: Es ist vielleicht umgekehrt: Das Siedlungshaus könnte der Kern sein. Vielleicht gibt es noch die Information, dass sich Albert Speer gerne Architekturmodelle angeschaut hat. Wir sollten zeigen, dass Architektur im Nationalsozialismus eben so viel mehr war. Es gab nicht nur diese Modelle, nicht nur diese Repräsentationsarchitektur, sondern NS-Architektur war das, was wir jeden Tag an der Ecke sehen, nämlich die Siedlungshäuser, die bis heute dort stehen, die Tankstellen und die Autobahnen, über die wir täglich fahren. Genau das sollte als Essenz einer Ausstellung präsentiert werden.

 

Ich finde deine Argumentation sehr überzeugend, bezogen auf die NS-Architektur. Wenn es aber um eine Ausstellung zum Beispiel zum Obersalzberg geht, stellt sich die Frage noch einmal ganz anders. Wie ließe sich zum Beispiel auf der Website einer solchen Gedächtnis-Institution mit den Bildern von Hitler, Eva Braun etc. umgehen?

Sylvia Necker: Wenn ich die Bilder in einer Ausstellung oder auf einer Website nicht zeige, sind sie dennoch vorhanden. Das Internet ist voll davon. Meine Argumentation wäre: Wir haben so unendlich viele Reproduktionen von Hitler, Goebbels und so weiter, dass es interessant wäre, zu überlegen, ob es nicht auch mit weniger geht. Es ist nicht eine Frage von ganz oder gar nicht. Es geht eher darum zu entscheiden, an welchen Stellen sind diese Bilder zentral für die Geschichte, die ich erzählen will, sodass ich wirklich nicht darauf verzichten kann.

Aber, um das Beispiel Obersalzberg aufzugreifen, es lassen sich auch ganz andere Bilder setzen. Natürlich sind Fotos wie dieses Bild auf der Terrasse oder der Blick durch das große Panoramafenster auch zeitgenössische Ikonen, die immer wieder abgebildet werden. Interessant finde ich es, auch Bilder zu finden, die zum Beispiel den Alltag dort zeigen. Genau das geschieht ja in der im September 2023 neu eröffneten Ausstellung.[4]

Einige Kolleg:innen könnten das allerdings als Verharmlosung verstehen. Ich würde eher sagen, dass damit eine Bildfacette ergänzt wird, die wir bisher noch nicht hatten, weil wir bislang immer die zehn gleichen Bilder gezeigt haben. Das ist wie bei einer Bildagentur, die 30.000 Bilder im Archiv hat und immer nur 100 zeigt und verkauft, weil alle dieselben Bilder haben wollen. Wir sollten mit der Ressource Bild und der Erzählkraft von Bildern viel kreativer umgehen und den Nutzer:innen mehr vertrauen. Warum sollte die Geschichte am Obersalzberg ohne diese Bildikonen nicht verstanden werden?

 

… weil mich mein Bildgedächtnis leitet. Ich erwarte das Bild, meistens bekomme ich es – und damit ist meine Erwartungshaltung erfüllt. Und es geht auch um Klickzahlen: Die Benutzer:innen sollen auf die Seite kommen und auch dort bleiben. Werden sie auch kommen, wenn sie die erwarteten Bilder dort nicht finden? Wollen wir uns solchen Sehgewohnheiten verweigern?

Sylvia Necker: Umgekehrt lässt sich das auch denken: Wenn das erwartete Bild fehlt, gibt es vielleicht viel mehr Aufmerksamkeit gegenüber dem, was tatsächlich dort zu sehen ist.

 

Würdest du solch ein Konzept zum Beispiel auf der Website einer Gedächtnis-Institution transparent machen?

Sylvia Necker: Wir sollten auf jeden Fall unsere Bildpraxis – also das, was wir als Kurator:innen tun – stärker methodisch beschreiben. Ich habe gemeinsam mit Studierenden der Uni Bielefeld eine Ausstellung gemacht zum Thema „Schwarz Weiß. Preußen und Kolonialismus“.[5] Sie haben in den Texten beschrieben, warum sie bestimmte Bilder, vor allem rassistische, nicht in der Ausstellung zeigen. Es gab aber etliche Besucher:innen, die das überhaupt nicht verstanden haben. Dabei ist es so spannend, die eigene Praxis, mit bestimmten Bildern umzugehen, zu reflektieren.

Das könnte auch ein interessanter Aspekt von Ausstellungen sein, auch von Online-Ausstellungen, um zu verstehen, warum Dinge so und nicht anders präsentiert werden. Ausstellungen sind nichts Essentialistisches, sie haben immer eine erzählerische Variante. Es stellt sich die Frage der Perspektive, nach dem Material und auch die nach der Verfügbarkeit: Welche Objekte sind gar nicht vorhanden und können daher nicht gezeigt werden, und welche Objekte zeigen wir bewusst nicht, obwohl wir sie im Archiv haben. Daher wäre es ziemlich gut, bei jeder Ausstellung, bei jeder Website, bei jedem (E-)Buch eine Art reflektierende Meta-Ebene mit dabei zu haben.

 

Der Kurator und Fotograf David Rojkowski hat im Jahr 2022 für das Portal Visual History einen Kommentar zu einer Ausstellung über den Russisch-Ukrainischen Krieg geschrieben, die er mit kuratiert hat. Er hat darin u.a. die internen Diskussionen angesprochen, ob Gewaltbilder aus diesem Krieg gezeigt werden sollen oder nicht.[6] Das ist meines Erachtens eine gute und nachahmenswerte Methode, um solche Aushandlungsprozesse transparenter zu machen.

Sylvia Necker: Genau, in jüngster Zeit artikulieren immer mehr Kurator:innen auch ihre Perspektiven und verweisen darauf, wer diese Ausstellungen gemacht hat. Manchmal gibt es auch eine Art von Personalisierung, indem ein:e Kurator:in ihr Lieblingsobjekt zeigt. Das ist eine ganz wichtige Entwicklung, weil wir damit unsere Hegemonie ein Stück weit abgeben und nicht immer so tun, als wüssten wir für alle Zeiten Bescheid. Denn wir präsentieren ja zum Zeitpunkt X zum Beispiel eine Bild-Text-Collage auf einer Website oder im Museum, die drei Monate später schon ganz anders aussehen könnte. Aber es gibt Gründe, warum sie zu dem Zeitpunkt so kuratiert worden ist – und die sollten wir zeigen.

Das ist im Übrigen auch ein Unterschied zwischen analogen und digitalen Ausstellungen. Digital haben wir nicht diese Fixierung. Auf einer Website kann ich Dinge auftauchen lassen oder Bildkacheln drehen. Das ist im analogen Bereich sehr kompliziert aufzubauen. Für einen Tisch, auf dem sich zwanzig Bilder mit Text drehen lassen, brauche ich einen sehr guten Tischler und leider auch sehr viel Geld.

 

Ein Kaleidoskop ist eine gute Idee. Da lässt sich auch ein Hitler mit reinbringen, aber er ist nicht allein dort zu sehen und nimmt nicht die halbe Website ein.

Sylvia Necker: Richtig. Das würde auch deutlich machen, dass Bilder immer Teil einer großen Bildgruppe sind oder eben eines Kaleidoskops. Das heißt nicht, dass Bilder relativiert werden, aber so werden Blicke auf Details möglich, die vorher untergegangen sind. Was ist die Botschaft, wenn ich ein Foto Hitlers als Header einer Website einsetze? Was für ein Mehrwert an Informationen gibt mir dieses Bild, das Hitler oder andere NS-Funktionäre zeigt? Wenig, es sei denn, ich erkläre die Bildsprache gleich mit in der Bildunterschrift: Hitler am Berghof hat natürlich enorm viel mit politischer Repräsentation zu tun. Aber das findet sich leider zumeist nicht in der Unterschrift zum Bild, sondern diese lautet nur: „Hitler am Berghof“.

 

Du hast beim Workshop davon berichtet, dass NS-Fotografien, die du im Rahmen einer Ausstellung digital veröffentlicht hast, teilweise kopiert und für andere Zusammenhänge genutzt worden sind: von Hobbyhistorikern, aber auch von Anbietern rechtsextremer Seiten im Internet. Denn selbst wenn wir Fotografien mit kontextualisierenden Bildunterschriften versehen, sind sie damit nicht davor geschützt, kopiert und sogar in neue Kontexte – zum Beispiel rassistische, antisemitische oder gewaltverherrlichende – gestellt zu werden.

Sylvia Necker: Auf jeden Fall, das ist ein Problem. Wir sind davon abhängig, dass Bilder den Kontext benötigen, sonst brauche ich sie als Ausstellungsmacherin oder Historikerin gar nicht zu zeigen. Aber durch die technischen Möglichkeiten kann ich das nicht mehr kontrollieren. Insofern würde ich auch aus diesem Grund auf bestimmte Bilder verzichten. Denn selbst in einer analogen Ausstellung können Bilder abfotografiert werden. Es ist jeweils eine Entscheidung.

Die Besucher:innen reagieren darauf ganz unterschiedlich: mit Abwehr und Unverständnis, aber auch mit Bestätigung. Solche Erfahrungen haben in den letzten Jahren auch Kolleg:innen gemacht, wenn es um das Thema Kolonialismus ging: Soll koloniale Gewalt gezeigt werden oder nicht? Es gibt gute Gründe, auch ethische, diese Bilder nicht zu zeigen. Denn unser Anspruch ist ja nicht, alles zu zeigen, was wir haben. Denn eines ist sicher: Sobald etwas gepostet wird, Bild oder Text, ist es nicht mehr einzufangen. Deswegen ist es auch unsere Aufgabe, auf der eigenen Website oder in der Ausstellung eine kluge Entscheidung für das Zeigen oder Nichtzeigen zu treffen und diese dann transparent zu machen.

 

Mein Eindruck ist, dass in der neueren Kolonialgeschichte schon viel passiert ist, viel mehr über diese Fragen diskutiert und reflektiert wird. Lässt sich einiges davon auf die NS-Forschung übertragen?

Sylvia Necker: Ich weiß gar nicht, wer hier von wem lernt. In der NS-Forschung haben sich in den letzten Jahren ungeschriebene Regeln entwickelt, die in einer Ausstellung zumeist beachtet werden, wie zum Beispiel keine Fotografien von Leichenbergen groß zu ziehen. Ich habe den Eindruck, dass es viele gibt, die sagen, das haben wir in der NS-Forschung ausführlich diskutiert, bei Fotografien, die koloniale Gewalt zeigen, sind wir genauso aufmerksam. Andere dagegen ignorieren das komplett.

Aber es gibt schon häufiger Trigger-Warnungen, die darauf hinweisen, dass in der Ausstellung koloniale Gewalt in Bild und Text gezeigt wird und Ansprechpartner:innen vor Ort zur Verfügung stehen oder dass sogar ein Safer Space vor Ort eingerichtet ist.[7] Die Sensibilität dafür, was ausgestellt wird, ist größer geworden. Manche Fehler, die bei NS-Ausstellungen gemacht worden sind, würden so nicht mehr passieren. Einen direkten Lerneffekt gibt es nicht, glaube ich, es ist eher eine Einübung. Ich habe das selbst erfahren, als es um antisemitische Bilder in einer Ausstellung ging. Keiner der Besucher:innen hat einen antisemitischen Kommentar hinterlassen.[8] Dagegen gab es sofort rassistische Kommentare in einer anderen Ausstellung über Kolonialismus – die Menschen sind einfach noch nicht geübt darin, mit dem Thema umzugehen.

 

Oder sie trauen sich eher, ihre rassistischen Gedanken beim Thema Kolonialismus rauszulassen?

Sylvia Necker: Nein, ich denke, es gibt noch gar kein Bewusstsein dafür, dass das ein Problem ist.

 

Der Kommentar wird also gar nicht als rassistisch empfunden?

Sylvia Necker: Genau. Da zeigt sich der noch nicht eingeübte Umgang mit Bildern und warum bestimmte hochproblematische Motive nicht gezeigt werden sollten. Wir haben im Museum in Minden eine Plexiglasbox aufgestellt und darauf geschrieben: „Entsorgen Sie Ihren rassistischen Müll. Werfen Sie hier alle Ihre rassistischen Bilder hinein: von Fotoalben über Postkarten bis hin zur Werbung.“ Mir gefiel die Idee als Form der Interaktion mit den Besuchenden. Doch unsere Erfahrung war, dass einige Leute regelrecht böse wurden und gar nicht verstanden haben, warum die Kaffeepackung ruhig mal in den Müll wandern kann. Wir haben die Box „Entsammlungsstation“ genannt. Es gab auch Kritik von Kolleg:innen im Museum, die befürchteten, dass durch solche Aktionen Kolonialgeschichte überhaupt nicht mehr ausstellbar sei und alle Objekte für immer im Depot bleiben oder in den Müll wandern müssten. Darum ging es mir ja gar nicht, aber bestimmte Bilder bringen eben Emotionen hervor.

Eine Plexiglasbox mit Broschüren u.Ä. auf einem Tisch

„Entsammlungsstation“ in der Ausstellung „Schwarz weiß. Preußen und Kolonialismus“ im LWL-Preußenmuseum Minden. Besucher:innen waren aufgerufen, Gegenstände mit rassistischer Bildsprache in die Ausstellung mitzubringen und dort zu „entsorgen“.
Fotografin: Louisa Kambartel, Minden, 5.9.2023, LWL/Kambartel ©

Im Haus der Geschichte Österreich wurde von Dezember 2021 bis Januar 2023 die Ausstellung „Hitler entsorgen“ gezeigt.[9] Die Besucher:innen konnten anhand von Karten bei einzelnen Objekten selbst entscheiden: „Ich würde das Objekt aufbewahren / verkaufen / zerstören, weil …“

Sylvia Necker: Die Aktion war großartig, weil sie thematisiert hat, dass Museen nicht nur Orte des Sammelns sind, sondern dass sie auch eine Verantwortung besitzen. Es braucht nicht die dreihundertste Hakenkreuzfahne und auch nicht das zehntausendste SS-Abzeichen und all die anderen NS-Objekte von den Dachböden. Dieses Konzept habe ich ja letztlich für die Box in unserer Kolonialismus-Ausstellung adaptiert, um mit den Besucher:innen über die kolonialen Bildmotive ins Gespräch zu kommen: Welche Bilder könnten schwierig sein? Und warum?

Bei Bildern aus der NS-Zeit funktioniert das besser. Da sind sich die Leute einig, dass eine „Stürmer“-Karikatur ein Problem in einer Ausstellung sein kann. Aber zum Beispiel koloniale Zigarettenbilder und dazugehörige Alben mit wirklich höchst rassistischem Inhalt und schlimmen Bildunterschriften werden oft schön geredet: „Das Album habe ich von meiner Oma. Warum soll das jetzt in den rassistischen Mülleimer? Das sind doch nur lustige Zeichnungen. Das behalte ich.“

 

Was hältst du eigentlich davon, Bilder im Internet zu verändern, sie zu verpixeln oder nur in Teilen sichtbar zu machen, um auf die bedenklichen Motive hinzuweisen. Manche sehen das als eine unzulässige Veränderung der historischen Quelle. Wie stehst du dazu?

Sylvia Necker: Das ist eine schwierige Frage. Gut wäre es, wenn sowohl die originale Quelle als auch die vorgenommene Veränderung zu sehen ist, als ein Zeichen, das wir mit den Nutzer:innen kommunizieren wollen. Oder es wird zumindest im beigefügten Text deutlich, dass diese Bildquelle aus ganz bestimmten Gründen verändert worden ist. Aber wir sollten Geschichte nicht überdecken. Wenn wir etwas nicht zeigen wollen, sollten diese Bilddetails wenigstens im Text beschrieben werden. Es ist auch unsere Aufgabe als Historiker:innen, deutlich zu machen, wie unterschiedlich Bilder rezipiert werden. Im Ersten Weltkrieg war eine rassistische Postkarte vermeintlich nicht problematisch, hundert Jahre später ist sie es schon – und trotzdem ist sie ein Dokument der Zeitgeschichte.

 

Ja, das ist ein wichtiger Punkt.

Sylvia Necker: Wenn wir Teile von Bildern nicht zeigen, sie abdecken oder verpixeln, markieren wir damit auch, dass wir als Historiker:innen jetzt die Hoheit über diese Bilder haben. Rein inhaltlich kann ich das nachvollziehen, aber methodisch finde ich das schwierig. Ich würde mir wünschen, dass die Möglichkeit besteht, genau in diesem Zwischenraum von Zeigen und Nichtzeigen zu operieren: vielleicht technisch die Möglichkeit schaffen, Layer über das Bild zu legen, die alle anklickbar sind und verschiedene Ansichten bieten. Im Museum der Arbeit in Hamburg haben die Kurator:innen bei einer Ausstellung, die sich mit Kolonialismus beschäftigte, einzelne Bilder tatsächlich komplett geschwärzt ausgestellt.[10]

 

Als Marker, als Leerstelle?

Sylvia Necker: Genau. Das wäre auch eine Idee für die Hitler-Bilder. Da sie sowieso schon omnipräsent im Bildgedächtnis sind, brauchen wir die Reproduktion nicht. Da könnte auch nur ein schwarzer Rahmen gezeigt werden mit einem Verweis auf das Bild.

 

Aber wenn ich an die Bilder von der Befreiung der Konzentrationslager denke … Ich kann die Haltung deiner Kollegin, von der du vorhin gesprochen hast, verstehen. Wir brauchen diese Fotos, gerade weil immer wieder neue Generationen kommen, die dieses Bildgedächtnis eben noch nicht haben.

Sylvia Necker: Das stimmt natürlich. Ich habe immer wieder Seminare an der Uni zu Fotografien und Bildikonen aus der Bundesrepublik und der DDR gegeben. Meistens kam bei bestimmten Bildern von Benno Ohnesorg die Frage: „Benno wer?“ Und es gibt gar nicht mal so wenig Menschen, die Heinrich Himmler nicht seiner Funktion und Aufgabe im Nationalsozialismus zuordnen können. Die Frage bleibt aber, ob wir das bebildern müssen.

 

Es gibt einen gewissen Bildungsauftrag für eine Gedächtnis-Institution, das ist klar. Die entscheidende Frage ist, ob man dafür diese propagandistischen, rassistischen, antisemitischen Bilder reproduzieren muss.

Sylvia Necker: Richtig. Was immer funktioniert, ist das Zeigen einer Vielfalt von Perspektiven. So können andere Bilder und Ausschnitte gewählt und damit auch begründet werden.[11]

 

Ich möchte gerne auf den „Bildunfall“ zurückkommen: Worauf bezieht sich der Begriff? Was verstehst du darunter?

Sylvia Necker: In einer Illustrierten habe ich vor einigen Jahren eine Werbeanzeige für ein Gas-Unternehmen gesehen mit dem Slogan „Das Gas für morgen“. Auf der gegenüberliegenden Seite fand sich ein historischer Bericht über Auschwitz. Das ist in jeder Hinsicht geschmacklos, unethisch und eine Frage von Bildkonversation, die nicht geht und redaktionell verhindert werden muss. Auch in Ausstellungen werden manchmal einzelne Bilder groß gezogen, und niemand achtet darauf, was das für eine Bildwirkung im gesamten Raum ergibt und welche Korrespondenz mit anderen Exponaten stattfindet. Das kann ziemlich schief gehen.

 

Sprecht ihr in deinem Team aktuell über solche Fragen, wenn ihr eine Ausstellung im Netz oder analog macht?

Sylvia Necker: Wir sprechen sehr viel miteinander, es gibt Modelle der Ausstellung und technische Möglichkeiten. Wir können zum Beispiel ein Mockup machen und den Raum virtuell imitieren. Festgeschriebene Richtlinien gibt es nicht, es geht immer um die Aufmerksamkeit von jedem Einzelnen. Bildunfälle passieren dann, wenn man nachlässig mit einem Bild umgeht. Manchmal frage ich mich auch, wie Motive von Museen und Dokumentationszentren in bestimmten Farben auf irgendwelche Baumwolltaschen kommen. Es ist für mich auch ein Bildunfall, wenn sich ein NS-Dokumentationszentrum auf seiner Website in den Farben Schwarz, Weiß, Rot präsentiert, die Farben der Reichskriegsflagge. Eine ästhetische Reproduktion von Bildwelten müsste eigentlich auch reflektiert werden. Aber wir können ja nicht auf jede Baumwolltasche eine Fußnote drucken – obwohl das eigentlich eine ziemlich gute Idee wäre.

 

Bilder haben – viel stärker als Text – ein partizipatives Element, gerade wenn sie digital wieder verwendet, geteilt werden. Das Internet ist ein gigantisches Erinnerungsarchiv und bietet viele Partizipationsmöglichkeiten, gerade in Bereichen, wo das sonst gar nicht möglich ist.

Sylvia Necker: Ja, Plattformen wie Instagram und Pinterest bieten so viele Möglichkeiten, Bilder eigenständig zu komponieren. Die Nutzer:innen werden damit zu Kurator:innen und nehmen sich Deutungsmacht. In einer klassischen Ausstellung haben nur die Kurator:innen die Hoheit über die Objekte, sie haben alles ausgewählt und arrangiert. Die Besucher:innen haben keinen Einfluss darauf.

Es gibt im Internet immer wieder tolle Accounts, wo Bilder zu ganz bestimmten Aspekten gesammelt werden, z.B. wird an einer Stelle jede noch vorhandene DDR-Bauplastik fotografiert und gepostet.[12] Das hat einen eher dokumentarischen Charakter, aber es gibt durchaus auch Angebote mit künstlerischem Anspruch. Ein digitales Bild kann sofort kopiert werden, was im Fall von NS-Bildern problematisch ist, wenn sie von Rechtsextremen genutzt werden. Darüber haben wir ja schon gesprochen. Aber die positive Seite an der digitalen Wiederverwendung ist, dass das Bild zum Material für kollektives Gestalten wird. Das Internet ist nichts anderes als ein riesiger Gestaltungsknäuel.

Ich hätte gerne entsprechend dazu analoge Räume im Museum, wo jed:e etwas einbringen und auch verändern kann. Diese Formate haben wir noch zu wenig ausprobiert. Mit der Ausstellung „Hitler entsorgen“ wurden auch Erfahrungen gesammelt zu der Frage, ob die Leute überhaupt ihre Objekte mitbringen wollen und sagen: „Das soll entsorgt werden“ oder „Das wollen wir unbedingt verkaufen“. Diese Offenheit – „Was denkt ihr über die Objekte?“ – sollten wir uns auch bei Bildern zu eigen machen und nicht immer glauben, über Verdecken oder Verbote würden wir die Sache lösen. Da sind die Kunstmuseen schon viel weiter, die auch mit ihren Objekten experimentieren und die Besucher:innen mehr einbeziehen. Allerdings gibt es bei bestimmten historischen Fragen klare Grenzen. Es gibt keine Notwendigkeit, den Holocaust neu zu kommentieren.

Weißer Raum mit Tisch und Stühlen sowie einer Projektion an der Wand: „Reden“

In der Ausstellung „Jüdisch? Preußisch? Oder was? Beziehungen und Verflechtungen im 18. und 19. Jahrhundert“, die 2021 bis 2022 im LWL-Preußenmuseum Minden zu sehen war, konnten Besuchende im Raum „Reden“ an einem runden Tisch an Overhead-Projektoren Fragen an die Ausstellung oder ihre eigenen Gedanken zum Thema formulieren. Die Möglichkeit zur Interaktion mit der Ausstellung wurde sehr rege genutzt.
Fotografin: Hannah Meisinger, Minden, 14.1.2022, LWL/Meisinger ©

Wenn wir auf Partizipation setzen, müssen wir es dann auch aushalten, wenn rassistische Kommentare kommen? Was machst du mit solchen Aussagen in einem digitalen Besucher:innenbuch? Löscht du solche Kommentare, weil du so etwas nicht auf der Museums-Website stehen lassen willst und kannst?

Sylvia Necker: Das ist der Grund, warum ich solche Formate eher analog umsetze. Im Netz kann ich das überhaupt nicht kontrollieren: weder die Meinungen noch die Reichweite und die Auswirkungen. In einem Ausstellungsraum haben wir den Besucher:innen zum Beispiel die Möglichkeit gegeben, eigene Fußnoten den Objekten hinzuzufügen: Wenn ihnen etwas fehlte, sie etwas ergänzen wollten oder neue Ideen hatten, konnten sie eine „Besucher: innen-Fußnote“ ausfüllen und der Ausstellung hinzufügen. Und es gab einige, die das wahrgenommen haben: „Ich hätte mir an dieser Stelle noch eine Karte gewünscht, das sieht man nicht so gut.“ Wir haben jeweils darauf reagiert und zum Beispiel eine Karte in der Ausstellung ergänzt, allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass Karten ziemlich problematisch sein können, da sie Weltbilder transportieren.

All das kann als eine Art von Diskurs in Form einer Collage in der Ausstellung nachempfunden werden. So etwas ist digital aber kaum machbar, weil es im Internet viel häufiger zu einer oft aggressiven Art des Besserwissens kommt. Daher würde ich solche Formate prinzipiell analog machen, auch wenn ich es grundsätzlich gut finde, analog und digital den Austausch mit den Besucher:innen zu suchen.

Während der Laufzeit der Ausstellung „Schwarz weiß. Preußen und Kolonialismus“ im LWL-Preußenmuseum Minden wurden hunderte von „Besucher:innen-Fußnoten“ verfasst, die in der Ausstellung an mehreren Stellen eine Wandcollage bildeten. Die Kommentare wurden vom Museum nicht zensiert; es finden sich inhaltliche Bemerkungen wie auch begeisterte Aussagen. Manche Besuchenden äußerten auch Unmut, insbesondere an den Stellen, wo die Ausstellung die europäische Verantwortung für die koloniale Gewalt und den Genozid an den Herero und Nama thematisierte.
Fotografin: Louisa Kambartel, Minden, 5.9.2023, LWL/Kambartel ©

Liebe Sylvia, ich danke dir für das anregende Gespräch.

 

 

Das Interview wurde am 18. April 2023 in Berlin geführt.

Transkription: Iulia Sucutardean

 

 

[1] Bildethik – Zum Umgang mit Bildern im Internet, Workshop 18. März 2019 ZZF Potsdam, https://visual-history.de/2019/02/12/bildethik-zum-umgang-mit-bildern-im-internet/; das Themendossier, hg. v. Christine Bartlitz, Sarah Dellmann, Annette Vowinckel, unter https://visual-history.de/2020/07/20/themendossier-bildethik/ [10.11.2023].

[2] Ausstellung der Unabhängigen Historikerkommission (UHK): MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus, Berlin, Akademie der Künste, 19.04.-16.07.2023, https://www.adk.de/de/projekte/2023/macht_raum_gewalt/index.htm [10.11.2023].

[3] Zum NS-Siedlungsbau vgl. Sylvia Necker, NS-Wohnungspolitik – zwischen volksgemeinschaftlicher Utopie und Realität, in: Die Unabhängige Historikerkommission „Planen und Bauen im Nationalsozialismus“ (Hg.), Planen und Bauen im Nationalsozialismus – Voraussetzungen, Institutionen, Wirkungen, 4 Bde., München 2023, S. 430-477.

[4] Dokumentation Obersalzberg: „Idyll und Verbrechen“, neue Dauerausstellung 2023, https://obersalzberg.de/ [10.11.2023].

[5] Ausstellung: Schwarz weiß. Preußen und Kolonialismus. Minden, 4.11.2022 bis 10.09.2023. Ein Kooperationsprojekt des LWL-Preußenmuseums Minden mit Studierenden der Universität Bielefeld, https://www.lwl-preussenmuseum.de/de/ausstellung/rueckblick/kolonialismus/ [10.11.2023].

[6] David Rojkowski, Wir hatten ein normales Leben. Ukraine 2006-2022. Eine Ausstellung, in: Visual History, 21.06.2022, https://visual-history.de/2022/06/21/rojkowski-wir-hatten-ein-normales-leben-ukraine-2006-2022/ [10.11.2023]

[7] Zur Debatte um einen Safer Space zur Ausstellung „Das ist kolonial“ im LWL-Industriemuseum Dortmund Zeche Zollern siehe https://zeche-zollern.lwl.org/de/ausstellungen/das-ist-kolonial/ [10.11.2023].

[8] Ob das heute – im Oktober/November 2023 – noch so wäre, ist möglicherweise fraglich.

[9] Ausstellung: Hitler entsorgen. Vom Keller ins Museum, Wien, Haus der Geschichte Österreich, 12.12.2021-08.01.2023, https://hdg  oe.at/hitler_entsorgen [10.11.2023].

[10] Ausstellung: Grenzenlos. Kolonialismus, Industrie und Widerstand, Museum der Arbeit, Hamburg, 29.09. bis 17.07.2021, https://www.shmh.de/ausstellungen/grenzenlos-kolonialismus-industrie-und-widerstand/. Siehe dazu auch: Johanna Hügel, Tagungsbericht: Antirassistisches Kuratieren: wie geht das?, in: H-Soz-Kult, 22.08.2022, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-129196 [10.11.2023].

[11] Vgl. zum Thema: Maren Jung-Diestelmeier/Sylvia Necker/Susanne Wernsing, Antisemitische und rassistische Objekte und Bilder in Ausstellungen? Ein Gespräch über erprobte Strategien und offene Fragen, in: Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung 29 (2020), Bd. 29, S. 26-53, online unter https://api-depositonce.tu-berlin.de/server/api/core/bitstreams/8c030faf-654a-4c3b-98f6-157dc0d13687/content [10.11.2023].

[12] Vgl. u.a. die Sammlung architekturbezogener Kunst der DDR fotografiert von Martin Maleschka: https://www.instagram.com/baubezogenekunstddr/?hl=de [10.11.2023].

 

 
 

 

Zitation


Sylvia Necker und Christine Bartlitz, Bild(un)fälle. Immer dieser Ärger mit dem Visuellen. Die Kuratorin Sylvia Necker im Interview, in: Visual History, 15.11.2023, https://visual-history.de/2023/11/15/bartlitz-necker-bildunfaelle-immer-dieser-aerger-mit-dem-visuellen/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2675
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Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet, hg. von Christine Bartlitz, Sarah Dellmann und Annette Vowinckel

Themendossier: Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet

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