Ausstellung: Auf derselben Seite. Die Letzten der „Gerechten unter den Völkern“

Fotografien von Lydia Bergida & Marco Limberg im Willy-Brandt-Haus Berlin – 26. Januar bis 7. April 2024

Lydia Bergida und Marco Limberg haben alte Menschen fotografiert – die Jugend ist dabei aber immer präsent. Und diese Präsenz rührt nicht nur daher, dass die Porträtierten oft fröhlich und agil aussehen. Aber der Reihe nach.

Krystina Kowalska, geb. 1931, sorgt sich heute ob der aktuellen politischen Entwicklungen. © Lydia Bergida & Marco Limberg

In der Ausstellung „Auf derselben Seite“ im Willy-Brandt-Haus porträtieren die Fotograf:innen Lydia Bergida und Marco Limberg siebzehn noch lebende Gerechte unter den Völkern. Diesen besonderen Titel vergibt die israelische Gedenkstätte Yad Vashem an Nicht-Jüd:innen, die während des Holocaust Jüd:innen vor ihrer Ermordung retteten – unter Einsatz ihres eigenen Lebens. Denn: „Wer ein Menschenleben rettet, rettet eine ganze Welt“, wie es auf jenen Medaillen steht, die die Gerechten unter den Völkern erhalten.

Was hat Bergida und Limberg zu diesem Projekt bewegt? Die Gegenwart, erfahren wir im Gespräch mit Bergida. Die turbulenten und traurigen politischen Ereignisse der letzten Jahre, die „Zeitenwende“, hätten beide dazu gebracht, die Geschichte einiger Gerechter unter den Völkern fotografisch zu erzählen. Und in den Ausstellungstexten wird deutlich spürbar, dass die „Zeitenwende“ auch die Porträtierten umtreibt. Die oben abgebildete Krystyna Kowalska etwa sieht die aktuellen politischen Ereignisse als eine Wiederholung der Geschichte. Für Łucja Jurczak war es selbstverständlich, nach dem russischen Angriff auf die Ukraine Geflüchtete aufzunehmen – sie empfand es als eine Fortsetzung der Hilfe, die ihre Familie während des Nationalsozialismus für ihre jüdische Freundin Bella geleistet hatte. Bergida und Limberg berichten sogar von einer Person, die sich nicht porträtieren lassen wollte, aus Angst vor Repressalien durch Neonazis.

Aber die gegenwärtigen politischen Entwicklungen waren nicht die einzige Motivation für die Ausstellung: Das Alter spielte genauso eine Rolle. Die Fotograf:innen wollten den noch lebenden Gerechten unter den Völkern die Möglichkeit geben, ihre Geschichte zu erzählen, solange das noch möglich ist. Und diesen wiederum war es wichtig, ihre Geschichte noch einmal erzählen zu können, insbesondere für die Jugend.

Die Gerechte Janina Rożecka beispielsweise ist heute 101 Jahre alt und war als Krankenschwester am Warschauer Aufstand beteiligt. Noch als 95-Jährige führte sie Gespräche mit Schüler:innen. Das trifft auch auf Jadwiga Gawrych zu, deren Familie Jüd:innen in einem Forsthaus versteckt hatte. Ebenso wollte Leszek Mikołjaków mit seiner Teilnahme an dem Projekt eine Botschaft an die Jugend übermitteln. Die Teilnahme war ihm sogar derartig wichtig, dass er sich trotz schwerer Krankheit zumindest von der Straße aus auf seinem Balkon von Bergida und Limberg ablichten ließ, weil ein Besuch in seiner Wohnung nicht möglich war.

Aber nicht nur die Gerechten unter den Völkern, auch Bergida und Limberg möchten mit ihren Aufnahmen und den Geschichten der Porträtierten zur Jugend durchdringen. Die Ausstellung soll eine Brücke von der Vergangenheit in die Zukunft schlagen und so eine Botschaft für nachfolgende Generationen sein, wünscht sich Bergida. Führungen mit Schulklassen sind ebenfalls geplant. Und der Ausstellung „Auf derselben Seite“ könnte es tatsächlich gelingen, Jugendliche abzuholen.

Tadeusz Stankiewicz, geb. 1930, berichtet von seinen Erfahrungen. © Lydia Bergida & Marco Limberg

Denn Bergidas und Limbergs Porträts sind weder pathetisch noch Ehrfurcht einflößend, sondern zutiefst menschlich. Die Gerechten unter den Völkern werden in ihrem Mut gleichermaßen greifbar wie in ihren ganz eigenen Charaktereigenschaften. Da ist etwa Helena Troszczyńska, deren Familie zwischen 1943-1944 zwei Juden versteckte. Die Fotografien in der Ausstellung zeigen aber noch viel mehr von dem, was Helena Troszczyńska ausmacht. Ein Foto von Fingerhüten sticht besonders ins Auge. Troszczyńska arbeitete als Schneiderin und sammelte einige davon. Die Porträtierten derartig nahbar zu machen, gelingt Bergida und Limberg immer wieder ausgesprochen gut.

So sehen wir Tadeusz Stankiewicz auf den Fotos gestenreich erzählen, oder wir erfahren, dass Jadwiga Gawrych in der Nachkriegszeit in einer Frauenband als Schlagzeugerin aktiv war. Es sind diese kleinen, scheinbar unwichtigen Details, die die Ausstellung besonders machen, weil die Gerechten unter den Völkern so für uns greifbar werden. Und gerade diese Greifbarkeit, diese fast schon trivialen Details, die uns auf diese Menschen neugierig machen, sind vielleicht ein ganz wesentliches Element unserer heutigen Beschäftigung mit der Shoah. So kritisierte die Leiterin der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz Deborah Hartmann am 25. Januar 2024 in der „Jüdischen Allgemeine“ eine Erinnerungskultur, die nur Bekenntnisse einfordere und betonte demgegenüber, wie wichtig es sei, sich „aktiv, neugierig und fragend“ mit der Geschichte des Nationalsozialismus zu beschäftigen.[1] Dazu kann die Ausstellung sicherlich beitragen, die die Gerechten unter den Völkern in ihren ganz verschiedenen menschlichen Facetten zeigt.

Diese Besonderheit ergibt sich nicht zuletzt aus der Herangehensweise von Bergida und Limberg. Sie wollen Sympathie mit den Porträtierten wecken und sie nicht als Opfer darstellen. Den beiden war es wichtig, mit ihnen in Kontakt zu treten und keine starren Porträts zu erstellen. Die Aufnahmen sollten deshalb im eigenen Umfeld der Gerechten entstehen, in ihrem Zuhause. Häufig sind auf den Bildern Enkelkinder oder gar Urenkelkinder zu sehen. Bergida und Limberg gelingt es, die „stillen Helden“ zum Sprechen zu bringen.

Genowefa Wisnicka Blazejczyk, geb. 1930, mit ihrer Urenkelin. © Lydia Bergida & Marco Limberg

Jugendliche abzuholen, könnte der Ausstellung auch gelingen, weil die Biografien der Gerechten implizit eine Verbindung zu ihnen herstellen. Zur Zeit der Shoah waren sie selbst Jugendliche, teils fast Kinder. Anna Krzyżowska beispielsweise war sechzehn Jahre alt, als sie Jerzy Korczak, der Jude war, eine Bleibe bot. Die beiden verliebten sich und wurden ein Paar. Tadeusz Stankiewicz fand als Zwölfjähriger gemeinsam mit seiner zwanzigjährigen Schwester den verletzten und bewusstlosen Geflüchteten Szloma Jan Szmulewicz im Wald und rettete ihn.

Außerdem sind die Gerechten häufig selbst jung geblieben; sie sind nach wie vor hochpolitische Menschen, die sich für das Weltgeschehen interessieren. Am eindrücklichsten zeigt uns das wohl Janina Rościszewska-Krawczyk. Noch als 91-Jährige besucht sie so oft wie möglich Demonstrationen in Polen, um für die Demokratie einzutreten.

Zu alledem sind Retter und Helden Personen, die Jugendliche besonders ansprechen – genauso wie uns alle. Es scheint kein Halbjahr vorbei zu gehen, in dem nicht eine neue Superhelden-Verfilmung in den Kinos anläuft. Es wäre spannend zu erfahren, was Jugendliche über die Helden dieser Ausstellung denken, die ihren Großeltern vielleicht ähnlich sehen.

 

Auf derselben Seite – die letzten der „Gerechten unter den Völkern“.
Fotografien von Lydia Bergida und Marco Limberg

26. Januar bis 7. April 2024

Willy-Brandt-Haus
Wilhelmstraße 140, 10963 Berlin

Alle Infos zur Ausstellung auch auf der Website.

 

 

[1] Deborah Hartmann, Unsere Geschichte, in: Jüdische Allgemeine, 25.01.2024, S. 1, online unter https://www.juedische-allgemeine.de/politik/unsere-geschichte-2/ [31.01.2024].

 

 

 

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