Ein Album – Eine Erzählung?

Blick in ein aufgeschlagenes Fotoalbum

Fotoalbum der Familie Lindenberger, Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Michael Lindenberger © Foto: Junseok Won

Jedes Fotoalbum hat eine Erzählung, sie verläuft auf zwei Ebenen. Eine ist im Fotoalbum selbst enthalten, und die Fotos sind ihre Eckpunkte. Die Anordnung im Album setzt die Bilder mit ihren Protagonisten, Orten und Ereignissen in Beziehung. Doch erst die betrachtende Person verbindet diese Bilder zu einer Geschichte, zu einer zweiten, die aber mit der ersten verbunden ist.

 

Welche Geschichte hat dieses Fotoalbum?

Der Kleber auf dem Albumrücken gibt den ersten Hinweis: „Fam J. Lindenberger + Fam L. Taitza“. Es geht um Joseph Lindenberger und seine Frau Helene, geb. Taitza. Die ersten Seiten stellen die beiden vor allem durch Portraits aus verschiedenen Zeiten vor. Es folgen 99 Bilder – eine Mischung aus Portraitaufnahmen, Familienbildern und Fotos aus dem Leben, manche spontan „geknipst“ und andere professionell arrangiert. Auf allen Bildern sind Menschen zu sehen: Entweder sind es Joseph und Helene oder Personen, die mit ihnen in Beziehungen stehen. 34 Bilder sind durch Bildunterschriften ergänzt, meist in Form von Hinweisen zu Zeit, Ort und/oder abgebildeten Personen.

Ein wichtiger Baustein der Erzählung ist die Anordnung der Bilder. Es sind Ansätze einer Chronologie erkennbar. Diese wird jedoch zumeist gleich wieder durchbrochen mit zeitlichen oder thematischen Sprüngen oder durch leere Seiten. So endet das Album mit zwei Gruppenfotos von der Bar Mitzwa von Helenes und Josephs Sohn Hermann 1933, obwohl auf der vorigen Seite Fotos aus dem Jahr 1969 kleben.

Inwiefern das Album Teil einer aktiven familiären Erinnerungspraxis war, lässt sich nur vermuten. Es wirkt wenig benutzt und zügig zusammengeklebt. Es scheint, als sollte vor allem die Geschichte von Joseph und Helene gesichert werden. Im Unterschied zum Album sind die einzelnen Bilder teilweise stark genutzt worden. Ihre jeweilige Geschichte, bevor sie ins Album gekommen sind, lässt sich nicht nachvollziehen. Ihr Zustand könnte jedoch Hinweis dafür sein, dass sie einen emotionalen Wert hatten und zum Beispiel bei sich getragen wurden.

Ein handschriftlicher Kommentar gibt Aufschluss über den Autor des Buches: „Urgroßeltern – Isaak und Esther Lindenberger / Töchter – Resi, Meta und Lotte“. „Urgroßeltern“ macht hier eine Beziehung sichtbar, welche über die im Album abgebildete Zeit hinausreicht. Wie Hintergrundrecherchen und ein Gespräch mit Michael Lindenberger, dem Urenkel Isaaks und Esthers und Enkel von Joseph und Helene, belegten, ist er Ersteller des Albums. Ob die Gestaltung des Albums eine intentionale Entscheidung war oder vielmehr pragmatischen Gründen unterlag, lässt sich nicht vollständig rekonstruieren.

 

Hat das Album eine Erzählung?

Die Fotos erzählen von einer bürgerlichen Normalität des privaten Lebens. Auffallend ist, dass die meisten Bilder keine Kontextualisierung haben. So werden etwa Verfolgung und Flucht nur im Ortswechsel mit dem Hintergrundwissen sichtbar.

In gewisser Weise bleiben die Fotos Fragmente von Geschichten.

 

 

Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: „un.sichtbar. Blicke auf das Fotoalbum einer jüdischen Familie 1904-1969“, herausgegeben von Christine Bartlitz, Christoph Kreutzmüller und Theresia Ziehe

Themendossier: un.sichtbar: Blicke auf das Fotoalbum einer jüdischen Familie 1904-1969

 

 
 

 

Zitation


Lisa Querner, Ein Album – eine Erzählung?, in: Visual History, 14.02.2024, https://visual-history.de/2024/02/14/unsichtbar-querner-ein-album-eine-erzaehlung/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2707
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