Fotografierte Kuriosität
Das Foto ist aus ganz verschiedenen Gründen auffällig: Helene, die Frau auf Skiern links im Bild, ist sehr schick und untypisch für ihr Vorhaben gekleidet. Sie trägt eine Mütze mit einer auffälligen Schleife und einen Kurzmantel mit Schößchen und Pelzkragen. Im Bildvordergrund sind zwei schlittenartige Gefährte mit Lenker und Bremse zu sehen. Auf einem davon sitzt ein junger Mann, hinter ihm eine junge Frau mit Trillerpfeife im Mund und auf dem anderen ein Junge. Sie sind nahezu gleich angezogen: dunkle Hosen, Schutz an den Schienbeinen, heller Pullover mit Schal und Mütze oder Rollkragen, helle Handschuhe. Am rechten hinteren Bildrand steht ein Junge auf Skiern hinter einer Kamera auf einem Stativ und blickt durch den Sucher auf eine Gruppe von Kindern im Hintergrund, die etwas unsortiert auf ihren Schlitten sitzen.
Etwas weiter vorne und links vom fotografierenden Skijungen steht ein schicker, nicht wintersporttauglich gekleideter Mann. Skier lassen sich nicht erkennen. Seine rechte Hand verschwindet in der Manteltasche. Es sieht so aus, als würde er in seiner linken Hand einen Gegenstand halten und auf etwas mit dem Daumen drücken, vielleicht ein kleines Feuerzeug entzünden. Dabei schaut er direkt in die Kamera und bewegt sich im Gegensatz zu den anderen fotografierten Personen nicht, so ist er scharf erfasst. Er könnte eine Stoppuhr in der Hand haben, immerhin hat die Frau auf dem Schlitten auch eine Trillerpfeife im Mund. Vielleicht hat er aber auch einen Fernauslöser in der Hand? Diese funktionierten zu der Zeit meistens mit einer Drahtschlinge, die man meistens auch auf dem geschossenen Foto sehen kann. Hier ist sie nicht zu entdecken. Könnten wir sie nur nicht sehen, dann wäre der Fotograf selbst Teil des Fotos. Überhaupt sprächen im Jahr 1918 ein vorhandener Fernauslöser für einen in der Fototechnik versierten und wohlhabenden Besitzer. Vermutlich ist dieser Mann Joseph Lindenberger, der Ehemann von Helene.
Das Foto zeigt eine kuriose Szenerie, aus der nicht mehr ersichtlich wird, warum die Personen gleichzeitig an dem Ort in ihrer jeweiligen Position auf einem Foto festgehalten werden. Und es zeigt einen Fotografen, der ein Foto macht – vielleicht sogar zwei von ihnen.
Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: „un.sichtbar. Blicke auf das Fotoalbum einer jüdischen Familie 1904-1969“, herausgegeben von Christine Bartlitz, Christoph Kreutzmüller und Theresia Ziehe
Themendossier: un.sichtbar: Blicke auf das Fotoalbum einer jüdischen Familie 1904-1969
Zitation
Lisa Querner, Fotografierte Kuriosität, in: Visual History, 14.02.2024, https://visual-history.de/2024/02/14/unsichtbar-querner-fotografierte-kuriositaet/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2720
Link zur PDF-Datei
Nutzungsbedingungen für diesen Artikel
Dieser Text wird veröffentlicht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0. Eine Nutzung ist für nicht-kommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle zulässig. Im Artikel enthaltene Abbildungen und andere Materialien werden von dieser Lizenz nicht erfasst. Detaillierte Angaben zu dieser Lizenz finden Sie unter: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de