(Un)sichtbarkeit und Unsicherheit

Fotoalbum der Familie Lindenberger, Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Michael Lindenberger © Seite 34

In dem Lindenberger-Konvolut befindet sich eine Fotografie, die zunächst einmal viele Fragen aufwirft. Zu sehen ist ein Lastwagen mit Anhänger, beide beladen mit großen Fässern. Davor stehen zwei Männer, ein weiterer sitzt auf dem Kutschbock des Anhängers. Im Hintergrund sieht man unverkennbar die Berliner Siegessäule. Die Bildunterschrift lautet „Joseph Lindenberger + Mietzner“.

Trotz der geringen „Auflösung“ kann man den rechten der beiden Männer, die vor dem Lastwagen stehen, als Joseph Lindenberger identifizieren. Wer jedoch „Mietzner“ ist, bleibt ebenso unklar wie die Identität des verbleibenden dritten Mannes. Man kann ebenso unsicher sagen, dass auf dem kleinen Hängeschild am Anhänger „I. Lindenberger“ steht, was den Zug dem Fischhandelsunternehmen der Familie Lindenberger zuordnet. Bestätigt wird das durch die erkennbare Beschriftung einiger Fässer mit „Salmon“, der englischen Bezeichnung für Lachs. Daraus ergibt sich wiederum die Vermutung, dass es sich bei den anderen Männern um Angestellte der Firma handelte. Allerdings hatte Joseph Lindenberger nie eine offizielle Funktion im Familienunternehmen.

Warum diese Männer mit dem Betriebsfahrzeug samt Ladung nun ausgerechnet vor der Siegessäule eine Fotografie machen ließen, bleibt ebenfalls offen. Der Bildausschnitt ist auf den Lastzug fokussiert. Man kann also vermuten, dass es sich um eine Art des Posierens vor einem berühmten Berliner Wahrzeichen handelt, eventuell aus einer Motivation der Selbstverortung oder Aneignung heraus. Diese Vermutung wird bekräftigt durch die sich auf den ersten Blick nicht erschließende Tatsache, dass das Bild nicht auf dem Großen Stern, wo die Siegessäule heute steht, sondern auf dem ehemaligen Königsplatz, dem heutigen Platz der Republik, gemacht wurde.

Das erschließt sich zunächst an dem Gebäude, das sich hinter der Siegessäule andeutet: Dabei handelt es sich um die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Kroll-Oper. Auch die recht nah stehenden Bäume in der hintergründigen Umgebung deuten auf den alten Standort hin. Außerdem sieht man am oberen Bildrand den Ansatz des Kapitells, also dem oberen Säulenende, und zählt darunter nur drei Segmente im Säulenschaft. Es muss sich folglich um die Siegessäule vor ihrer Versetzung 1938-1939 an den Großen Stern im Rahmen der Umgestaltungspläne von Albert Speer für Berlin handeln, bei der diese um ein viertes Segment erhöht wurde. Neben den Informationen, die das Bild in rein visueller Form gibt, kommt noch der Umstand hinzu, dass der darauf zu sehende Joseph Lindenberger bereits 1938 Deutschland verließ – die Fotografie muss also vor der Versetzung aufgenommen worden sein. Da er sich ab 1920 in Merseburg aufhielt, stellt sich die Frage, ob das Foto davor oder während eines Besuchs in Berlin entstanden ist.

Doch warum ist der Standort der Aufnahme überhaupt relevant? Die Antwort auf diese Frage liegt in dem, was man auf dem Bild nicht sieht. Man sieht nicht die monumentalen Denkmäler für Bismarck, Moltke und von Roon, die ebenfalls versetzt wurden, und den Reichstag, der wahrscheinlich von den Nazis 1933 in Brand gesetzt wurde, um mit der anschließenden Verordnung ihre Diktatur auszubauen. Man sieht auch nicht, welchen Namen dieser bedeutsame Platz inmitten Berlins hatte: Nachdem er zur Zeit der Weimarer Republik bereits Platz der Republik hieß, änderten die Nationalsozialisten den Namen 1933 wieder zu Königsplatz. Da das Datum der Aufnahme trotz der eingrenzenden Vermutungen unbekannt ist, kann man nur sagen, dass sie an einem bedeutenden und symbolischen Ort gemacht wurde.

Die Vermutung, dass die Aufnahme in einem bewussten Verhältnis zu ihrer Umgebung entstanden ist, wird jedoch von einem weiteren, nicht-sichtbaren Detail konterkariert: Die berühmte goldene Statue der Viktoria, die auf der Säule emporragt, ist aufgrund des Bildausschnitts nicht zu sehen. Warum sollte man diesen wichtigen Teil des Wahrzeichens weglassen, wenn man davor posiert? Eventuell handelt es sich doch um eine eher zufällige Fotoaufnahme – also ein „Schnappschuss“. Möglich ist auch, dass der Fotograf dieses Detail nicht aufnehmen konnte oder schlichtweg „kein Auge“ dafür hatte. Dass der Fokus auf dem Lastzug war, steht jedenfalls fest.

Da im Album weitere Fotografien von Fahrzeugen, meist Personenkraftwagen, mit Familienmitgliedern davor oder darin enthalten sind, ist auch eine Zurschaustellung von Besitz und Status vorstellbar. Auf der gleichen Seite wie die hier behandelte Fotografie etwa sieht man eine offene Kutsche mit doppeltem Pferdegespann, darauf einen Kutscher mit Zylinderhut sitzen. Dennoch fand keine der anderen Aufnahmen vor einem Wahrzeichen statt. Bedenkt man, dass damals im Unterschied zur heutigen Zeit eine Kamera nicht stets mitgeführt wurde, ist eine gewisse Absicht hinter der Ortswahl wahrscheinlich. Zudem fällt beim Abgleich mit den übrigen Bildern des Albums auf, dass es sich bei der Fotografie um die einzige handelt, in der die Arbeit bzw. das Unternehmen von Isaac Lindenberger abgelichtet sind.

Die Frage, warum man den mit Fischfässern beladenen Lastzug auf dem Königsplatz beziehungsweise Palast der Republik und vor der Siegessäule aufnahm, muss leider unbeantwortet bleiben. Dennoch zeigt diese Fotografie aus dem Album der Familie Lindenberger vortrefflich, dass eine Bildbedeutung sowohl aus dem, was man darauf sieht, als auch aus dem, was man nicht sieht, besteht. Die hier an mehreren Details sichtbar gewordene Unsicherheit, die sich im wissenschaftlichen Umgang mit einer historischen Fotografie ohne ausreichende Hintergrundinformationen einstellt, ist natürlich keine Besonderheit dieses Fotos. Allerdings wirkt sie auf die potenzielle Bedeutung, die sich aus dem Standort der Aufnahme ergibt, verstärkend.

 

 

Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: „un.sichtbar. Blicke auf das Fotoalbum einer jüdischen Familie 1904-1969“, herausgegeben von Christine Bartlitz, Christoph Kreutzmüller und Theresia Ziehe

Themendossier: un.sichtbar: Blicke auf das Fotoalbum einer jüdischen Familie 1904-1969

 

 
 

 

Zitation


Jan-Niklas Welling, (Un)sichtbarkeit und Unsicherheit, in: Visual History, 14.02.2024, https://visual-history.de/2024/02/14/unsichtbar-welling-unsichtbarkeit-und-unsicherheit/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2716
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