Energie und Ästhetik

 

Ein Jahr, bevor Wolfsburg im Zuge der kommunalen Gebietsreform praktisch über Nacht zur Großstadt werden sollte, schuf Heinrich Heidersberger an einem klaren Novembermorgen des Jahres 1971 mit Kraftwerk der Volkswagen AG die wohl beeindruckendste und zugleich auf eigentümliche Weise auch unwirklichste Fotografie aus seiner Stadt: Sie zeigt mit Blick über das Hafenbecken in totaler Frontalität das Kraftwerk als die zentrale Energieversorgungseinheit des Volkswagen-Konzerns, dessen Gründung die Stadt ihre Existenz verdankt. Aufgrund der langen Belichtungszeit manifestiert sich in der Fotografie der aufsteigende Rauch des Kraftwerks zu undurchdringlichen Schwaden, hinter denen Teile der Kraftwerksarchitektur verschwinden und der an den Schloten zu abstrakten weißen Schlieren gerinnt (Abb. 1)

Abb. 1: Heinrich Heidersberger, Kraftwerk der Volkswagen AG, Wolfsburg 1971; © Institut Heidersberger, #04148_5

Das Wasser des Stichkanals wirkt wie zugefroren. Die in die Tiefe des Bildes fluchtende Versorgungsbrücke, die „über“ den Köpfen der Betrachterinnen und Betrachter beginnt, scheint den Real- und Bildraum miteinander zu verbinden, wodurch eine immersive, in das Bildgeschehen hineinziehende Wirkung entfaltet wird. Das quer zur Bildebene liegende Binnenschiff, dessen stark angeschnittener leerer Frachtraum die Fotografie nach unten hin begrenzt, verankert die Perspektive zugleich örtlich: Der ebenfalls stark angeschnittene Steuerstand verbindet visuell die Betrachterseite des Stichhafens mit der Architektur des Kraftwerks auf der gegenüberliegenden Seite. Durch diese visuelle Kopplung der verschiedenen Bereiche findet das den Wirtschaftszyklus bedingende Zusammenspiel von Ressourcen (Kohle), Transportmedium (Wasser) und Verbraucher (Kraftwerk) in der Fotografie eine adäquate Entsprechung.

In kaum einem anderen Bild Heidersbergers wirkt Architekturlandschaft so künstlich und so entleert wie hier. Trotz der in der Fotografie festgehaltenen Dynamik des aufsteigenden Rauches und der daraus zu schließenden industriellen Aktivität des Werkes hat man den Eindruck einer vollkommen menschenverlassenen Szenerie. Die Utopie des unermüdlichen Fortschritts und die Dystopie des Stillstands scheinen sich in dem Bild zu begegnen – und das wenige Monate vor Erscheinen des berühmten Berichts des Club of Rome, Die Grenzen des Wachstums.

Das durch einen weiter gefassten Ausschnitt bedingte Kontextualisieren des zentralen, die Stadt dominierenden Motivs des Kraftwerks, also das stringente visuelle Einbeziehen größerer lokaler Zusammenhänge, ist ein wesentliches Kompositionsmerkmal, das auch bereits in Heidersbergers ersten Fotografien der Stadt Wolfsburg zu entdecken ist und zur Spannung seiner Bilder beiträgt, zu ihrer geradezu immersiven Qualität. War es zunächst noch das schlotlose Kraftwerk, das ab den 1960er Jahren die Silhouette Wolfsburgs prägte, wurde dies in frühen Fotografien von Heidersberger aufgrund der ikonischen Wirkung der vier Schornsteine teilweise nachträglich mit Schloten versehen und diese in das Bild hineinretuschiert wie zum Beispiel bei Rodeln am Hohenstein, Wolfsburg (circa 1958) (Abb. 2).

Abb. 2: Heinrich Heidersberger, Rodeln am Hohenstein, Wolfsburg circa 1958; © Institut Heidersberger, #9100_7.1

So wie man hier als Betrachtende an den winterlichen Freizeitaktivitäten gewissermaßen mit teilnimmt und in das Bildmotiv hineingezogen wird, so fotografiert Heidersberger auch aus anderen Perspektiven als teilnehmender Beobachter, wie etwa bei einem mit Farbfilm fotografierten Kirmesbild, das wohl im Jahr 1961 entstanden ist: Aus dem Geschehen heraus ist auch hier trotz des angefüllten Bildraumes im Hintergrund das alles dominierende Kraftwerk zu sehen (Abb. 3).

Abb. 3: Heinrich Heidersberger, Schützenfest, Wolfsburg circa 1961; © Institut Heidersberger, #9100

Heinrich Heidersberger ist mit seinen meist stark konturierten, oft in nüchterner Frontalperspektive verfassten Fotografien einerseits dem Rationalismus der Zweiten Moderne verpflichtet, der Zeit der beginnenden Globalisierung im 20. Jahrhundert. Andererseits klingen aber auch noch vereinzelt hin und wieder vormoderne, ja geradezu romantisierende Sentenzen in seinen Fotografien an, wie etwa bei dem Kirmesbild oder bei der Fotografie eines im milchigen Licht der Wintersonne dahinziehenden Autozugs, vollbeladen mit VW-Käfern, deren Dächer das milde Licht der Sonne reflektieren (Abb. 4).

Abb. 4: Heinrich Heidersberger, Käferzug, Wolfsburg 1961; © Institut Heidersberger, #9100_68.1

Es mag der Spannung der Zeit geschuldet sein, in der Heidersberger gearbeitet hat, der Spannung zwischen dem nostalgischen Rückblick auf eine vergangene Zeit auf der einen und dem unbedingten Wunsch nach Fortschritt auf der anderen Seite, die zu diesem „Dazwischen“ in seinem Werk geführt hat: zwischen Natur und Technik, zwischen Mensch und Industrie, zwischen Ästhetik und Energie.

 

 

 

Die Fotografie Kraftwerk der Volkswagen AG (1971) gilt als Schlüsselwerk des deutschen Fotografen Heinrich Heidersberger. Vor genau fünfzig Jahren entstanden, ist sie über die Jahre identitätsstiftend für das Werk wie für die Stadt geworden.

Aufgrund des Jubiläums hat die Wolfsburger Zeitschrift für Stadtgeschichte „Das Archiv“, hg. v. Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation der Stadt Wolfsburg, im aktuellen Heft 22 (November 2021) verschiedene Autor*innen gebeten, diese ikonische Fotografie zeitlich einzuordnen und historisch zu kontextualisieren.

Wir bedanken uns bei der Redaktion der Zeitschrift, insbesondere bei Alexander Kraus, sowie beim Institut Heidersberger für die Genehmigung, den Beitrag von Andreas Beitin auf Visual History als Nachdruck veröffentlichen zu können. Die Originalveröffentlichung findet sich online in: Das Archiv. Zeitung für Wolfsburger Stadtgeschichte, Nr. 22, November 2021, S. 4.

 

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