Rezension: Acelya Bakir, Sehen, Hören, Mitmachen
Die mediale Inszenierung der Moskauer Schauprozesse und die Mobilisierungskampagnen in der Sowjetunion (1936-1938)
Die Moskauer Schauprozesse zwischen 1936 und 1938 gelten allgemein als Inbegriff des öffentlich sichtbaren Staatsterrors der Sowjetunion. Mit ihnen entledigte sich Stalin seiner innerparteilichen Konkurrenz, unter der sich fast die gesamte alte Garde der Bolschewiki sowie einige deutsche Kommunisten befanden. Mit ihnen und ihrer öffentlichen Resonanz sicherte Stalin seine Alleinherrschaft ab. Die Prozesse waren öffentliche Verhandlungen, in denen innerparteiliche Oppositionelle – allen voran der sich bereits im Exil befindliche ehemalige Gründer der Roten Armee, Leo Trotzki – wegen angeblicher terroristischer bzw. staatsfeindlicher Aktivitäten angeklagt und in der Folge samt und sonders liquidiert wurden.
Bislang sind diese Prozesse vor allem in ihren machtpolitischen und strafrechtlichen Dimensionen untersucht worden, während ihr Zeige- und Demonstrationscharakter – gleichsam die Schauseite der Prozesse – weitestgehend im Schatten der historiografischen Forschung verblieben sind. Nur eine scheinbare Ausnahme von dieser Regel stellte die 1995 erschienene Studie des Pariser Historikers Fred E. Schrader über die „Sozialgeschichte eines politischen Feindbildes“ dar,[1] die sich bei näherer Betrachtung jedoch als Etikettenschwindel erweist. Anders als der Titel suggeriert, untersucht Schrader hier die Inszenierung des ersten großen Prozesses und seine Interpretationen durch Trotzki, den abwesenden eigentlichen Hauptangeklagten der Prozesse, als Ausdrucksformen sozialer Vorstellungswelten (représentations). Zudem beschränkt sich Schraders Studie, wie der Titel zurecht beschreibt, auf den ersten Prozess von 1936.
Aus diesem Grund stellt die bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnete Düsseldorfer Dissertationsschrift von Acelya Bakir mit dem Titel „Sehen, Hören, Mitmachen. Die mediale Inszenierung der Moskauer Schauprozesse und die Mobilisierungskampagnen in der Sowjetunion (1936-1938)“, die soeben im Stuttgarter Franz Steiner Verlag erschienen ist, die erste Studie zur Bilder- und Symbolwelt der Moskauer Prozesse in ihrer Gesamtheit überhaupt dar. Sie darf daher sowohl im inhaltlichen wie im methodischen Sinne als Pionierstudie gewertet werden. Erstmals überhaupt werden in ihr die Moskauer Prozesse in ihrer Doppelbödigkeit von staatlicher Repression und integrativer Massenmobilisierung in den Blick genommen.
Bakir begreift die Prozesse mit dem Osteuropa-Historiker Karl Schlögel nicht primär als juristische Verfahren, sondern als „mediale Ereignisse“[2] und Akte der politischen Kommunikation zwischen Staat und Bevölkerung, die auf das Geschichtsbild und das Selbstverständnis der Zeitgenossen zielten. Die sowjetische Bevölkerung, so Bakir, sollte die Prozesse „sehen, hören, erleben und wenn möglich sogar an ihnen partizipieren“. (S. 13) Dabei bezieht die Autorin in ihre Untersuchung neben den Tätern und den Opfern der Prozesse explizit auch die sowjetische Bevölkerung ein.
Quellen der Studie sind neben Texten wie den publizierten Prozess-Stenogrammen und Presseberichten vor allem Produktionen der visuellen und auditiven Massenmedien wie Radioübertragungen, Plakate, Karikaturen und Filme. In einer aufwändigen und überaus sorgfältigen Recherche, die nach dem Überfall Putins auf die Ukraine und die weitgehende Abriegelung Russlands heute so nicht mehr möglich wäre, hat die Autorin acht russische Zentral- und Regionalarchive wie das Staatsarchiv der Russländischen Föderation, das Russische Staatsarchiv für Literatur und Kunst, die entsprechenden Zentralarchive für Fernsehen und Rundfunk, die umfangreiche Plakatsammlung der Russischen Staatsbibliothek sowie eine weitere Reihe von Bibliotheken aufgesucht. Auf diese Weise gelang es ihr, allein 18 sowjetische Periodika einer quantitativen und qualitativen Analyse zu unterziehen.
Angesichts der Tatsache, dass auch noch in den 1930er Jahren eine beträchtliche Zahl von Bewohnern der Sowjetunion des Lesens und Schreibens nicht mächtig war, zielt die Analyse von Frau Bakir vor allem auf scheinbar einfach und unkompliziert zugängliche Bildquellen, deren Inhalte auch ohne Schreib- und Lesekompetenz vermittelbar waren.
Bakirs Begriff von Visualität reicht weit über eine reine Medienproduktanalyse hinaus, da sie ebenso theatralische Inszenierungsformen und Partizipationsformate einbezieht. Konkret sind es drei Untersuchungsfelder, denen das Interesse der Autorin gilt: die Inszenierung in den Gerichtssälen vor Ort; die verschiedenen, von den Machthabern genutzten Medialisierungsformen sowie die Mobilisierung der sowjetischen Bevölkerung durch spezifische Partizipationsformate. Diesen Untersuchungsfeldern folgt die Gliederung der Studie in ihren drei Hauptkapiteln: der Inszenierung des ersten Prozesses von 1936 als Strafprozess im „Oktobersaal“ des Moskauer Gewerkschaftshauses, der mit dem Todesurteil für 16 Angeklagte endete (S. 52-98), die auf Mobilisierung zielende Medialisierung der Prozesse in dem Kapitel „Medialisierung & Mobilisierung“ (S. 99-325) sowie den die Prozesse begleitenden Partizipationsformen in dem Kapitel „Partizipation & Mobilisierung“ (S. 326-377). Ein ausführliches Fazit (S. 378-386) beschließt die auch sprachlich gelungene Untersuchung. Zusammen mit Literaturanhang und Register umfasst die Arbeit 432 Seiten, einschließlich 128 Abbildungen und fünf Tabellen.
Theoretisch und methodisch ist die Dissertationsschrift dem Konzept der Visual History – ihrem breiten Bild-Begriff und ihrem offenen Methoden-Instrumentarium – verpflichtet. Ganz im Sinne des Visual Turn, wie ihn Horst Bredekamp und der Autor dieser Rezension verstehen, begreift Bakir Medien als Akteure und Erzeuger von wahrnehmungsbezogenen Erfahrungen und Handlungen mit jeweils eigener Agenda. (S. 43f.) Und sie denkt, analysiert und schreibt (mit ausdrücklicher Bezugnahme auf den Rezensenten) in erster Linie vom Bild her,[3] d.h. sie begreift bzw. verwendet visuelle Quellen nicht passiv als bloße Illustration.
Auf diese Weise geraten ihr die performativen Kräfte der medialen Bilder der drei Moskauer Prozesse in den Blick: etwa die Karikaturen auf den Titelseiten der großen sowjetischen Zeitschriften wie „Krokodil“ oder „Izvestija“ (S. 155-196) und die massenhaft reproduzierten Plakate und Transparente im öffentlichen Raum (S. 196-225), non-fiktionale, dokumentarische Filmberichte der sowjetischen Wochenschauen (S. 268-322), darunter der Prozessfilm Prigovor suda – prigovor naroda aus dem Jahr 1938. (S. 277-310)
Ein interessantes, aber letztlich nicht überraschendes Nebenprodukt der Analyse dieser Bildproduktionen – insbesondere bei der Darstellung von Trotzki – ist die Mobilisierung antijüdischer Ressentiments, wie etwa im Topos vom „Blutraub“, wodurch sich die sowjetische Berichterstattung anschlussfähig an nationalsozialistische Propagandanarrative erwies.
Den Produktionen der untersuchten Medien fiel nach Bakir die Funktion zu, „die Fiktionalität des Prozessnarrativs bildlich zu vermitteln, sodass diese zu einer Realität wurde, die ihre Betrachter als solche annahmen“. (S. 224) Mit Hilfe von fiktionalen wie non-fiktionalen Bildmedien sei eine eigene visuelle Realität – Bakir nennt sie mit Bezug auf Klaus Waschik „virtual reality“ (S. 217 u. 267) – entstanden.[4] Diese hätte eine zweite Inszenierungsebene generiert, die mit den tatsächlichen historischen Gegebenheiten in den Gerichtssälen und der inneren Logik der Strafverfahren nichts oder allenfalls wenig zu tun hatte, gleichwohl aber handlungsrelevant war, da sie die Sowjetbürger emotional ansprach und mobilisierend wirkte. Auf diese Weise seien die Prozesse zu Medienereignissen und Plebisziten avanciert, an denen die gesamte Sowjetbevölkerung teilhaben konnte. Ausführlich beschreibt die Autorin die Kontexte und die Spezifika der einzelnen Medien und deren Adressaten.
Wie von der Visual History gefordert, belässt es Bakir nicht bei einer Kontext- und Produktanalyse, sondern thematisiert auf allen Ebenen auch die soziale Praxis des Einsatzes der untersuchten Medien wie etwa im Kapitel über die Inszenierung des Prozesses im Moskauer „Oktobersaal“. Dadurch rücken ihr scheinbar auch so nebensächliche Dinge wie die räumlich-architektonischen Gegebenheiten des Verhandlungsorts und das Bühnenbild bis hin zur Sitzordnung von Anklägern, Angeklagten und Zuschauern sowie dem Theater entliehene Inszenierungstechniken wie Choreografie und Dramaturgie, Kleidung, Körperhaltung und Mimik in den Fokus. Schließlich reicht es der Autorin nicht aus, nur die Publikationskontexte und Bildinhalte zu beleuchten, wichtig sind ihr ebenso der zeitgenössische Umgang und Einsatz der verschiedenen medialen Produktionen. Auf diese Weise wird deutlich, dass etwa Karikaturen als „Nachrichtenbilder“ fungierten und als „Brandbeschleuniger für das Verschwörungsnarrativ der inneren Feinde“ wirkten. (S. 196)
Bakir belässt es zudem nicht bei der Untersuchung der medialen Strategien und Produktionen. Indem sie einem breiten Bild-Begriff folgt, bezieht sie Partizipationsformate wie Versammlungen, Kundgebungen, Manifestationen im öffentlichen Raum sowie Resolutionen in ihre Untersuchung mit ein. Die Choreografie von Kundgebungen begreift sie etwa als Teil der stalinistischen Mobilisierung. Wie der Nationalsozialismus sei auch der Stalinismus eine „Mobilisierungsdiktatur“ gewesen, die auf dem Wege der politischen Kommunikation Beteiligung eingefordert habe. Nach Ansicht der stalinistischen Führung sollten Medien nicht einfach nur passiv konsumiert werden oder ein Geschehen abbilden, sondern Handlungen auslösen, aus denen dann Zustimmung für das Regime erwachsen könne. „Die Menschen sollten sich zu den Prozessen positionieren, ihre Zustimmung signalisieren und selbst Todesurteile unterzeichnen. Die Beteiligung versprach, Teil einer imaginierten Gemeinschaft und eines Plebiszits zu werden.“ (S. 384)
Die Studie macht das aufeinander abgestimmte arbeitsteilige und adressatenspezifische Vorgehen der einzelnen untersuchten Medien deutlich. Während fiktionale Bildmedien wie Karikatur und Plakat der Verstärkung der Verschwörungsnarrative dienten, sollten Fotografien nicht etwa Prozessinhalte vermitteln bzw. die Angeklagten bildlich inkriminieren, sondern „vielmehr das Positive an den Prozessen vervielfältigen: die landesweite Beteiligung der Bevölkerung an den Prozesskampagnen und damit die erfolgreichen staatlichen Mobilisierungsanstrengungen.“ (S. 239) Ähnlich wie den Fotografien oblag den non-fiktionalen Dokumentationen des Films die Funktion, die Involvierung der Bevölkerung in Szene zu setzen, in deren Namen die Prozesse stattfanden.
Nach Bakir schöpfte die stalinistische Führung die Potenziale der Medien der Zeit – anders als etwa zur gleichen Zeit im „Dritten Reich“ – allerdings nicht einmal ansatzweise aus, da diese immer auch von der Führung unkontrollierbare Risiken bargen. So gab es trotz aller Kontrollvorkehrungen keine Direktübertragungen des Rundfunks aus dem Gerichtssaal; diese fanden immer nur zeitversetzt statt. Auch Fotografien und Filme blieben in ihren Sujets begrenzt, da es ausdrückliches Ziel der Prozessführung war, eben nicht Nähe zum Geschehen und zu den Angeklagten herzustellen, sondern umgekehrt die Verbannung der Angeklagten aus Öffentlichkeit und Erinnerung zu organisieren. Pressefotografien zeigten daher auch nicht die Strafprozesse selbst, sondern vor allem die populistischen Inszenierungen auf den Straßen und in den Betrieben, die dazu dienten, „die politisch wichtigere Botschaft der einmütigen Ermächtigung des Volkes zu bezeugen bzw. diese überhaupt erst auszulösen“. (S. 383) Der stalinistische Staat vermied es schließlich, Bildikonen zu schaffen, die später an die eigentlichen Geschehnisse und Opfer hätten erinnern können.
Charakteristisches Element aller prozessbegleitenden Medienkampagnen zu den Moskauer Prozessen war somit die Exkommunikation und Auslöschung der Namen der Angeklagten sowie die Vernichtung ihrer Bilder im öffentlichen Bewusstsein: die damnatio memoriae. Umgekehrt sollte die Bevölkerung kollektiv als „Volksrichter“ in das Geschehen eingebunden werden, das Gericht als „Gericht des Volkes“ gegen vermeintliche „Volksfeinde“ erscheinen.
Die Analyse einzelner Bildmotive und Inszenierungen hätte ich mir an manchen Stellen durchaus noch etwas intensiver gewünscht, insbesondere was deren Verwendung in anderen politischen und kulturellen Zusammenhängen betraf. Auffällig ist nämlich, dass etliche Plakatmotive bereits in den Kampagnen der deutschen Kommunisten in der Weimarer Republik Verwendung fanden und auch von den Nazis vor und nach 1933 benutzt wurden.
Damit stellt sich zugleich die Frage, ob es gegebenenfalls eine Zeiten und kulturelle Räume übergreifende Bildsprache von Diktaturen der Zwischenkriegszeit gab, wofür Bakirs Studie zahlreiche Belege enthält. Dass die Autorin selbst diese Vergleichsebene im Blick hat, zeigt eine Formulierung in ihrem Resümee, wo sie schreibt: „Wünschenswert wären über eine sowjetische Perspektive hinaus systemübergreifende Vergleiche mit Prozessen der nationalsozialistischen Diktatur oder Kriegsverbrechertribunalen in einer longue durée …“ (S. 386) So böten sich Vergleiche der medialen Berichterstattung der Moskauer Schauprozesse mit der über die Berliner Schauprozesse des Volksgerichthofs gegen die Beteiligten des Aufstandes vom 20. Juli 1944 oder die Schauprozesse des Kalten Kriegs wie dem Slánský-Prozess 1952 in der ČSSR oder den Waldheimer Prozessen 1950 in der frühen DDR an. Durch solche Vergleiche könnte noch deutlicher zu Tage treten, was Spezifika der Moskauer Prozesse waren und wo diktaturübergreifende Gemeinsamkeiten solcher Schauprozesse existierten.
Insgesamt zeigt die Studie materialreich und eindrucksvoll, welche Erkenntnispotenziale eine über die reine Politikgeschichte hinausgehende Untersuchung der medialen Kommunikationsstrategien für das Verständnis des stalinistischen Systems und der sowjetischen Gesellschaft bietet, insbesondere was zeitgenössische Wirkungsintentionen und Wirkungsweisen betrifft. Summa summarum handelt es sich bei der vorliegenden Dissertationsschrift von Acelya Bakir um eine mustergültige theoriegeleitete wie quellengesättigte Studie zur Visual History eines historischen Ereignisses mit Modellcharakter, der zahlreiche Leserinnen und Leser zu wünschen sind.
Acelya Bakir, Sehen, Hören, Mitmachen. Die mediale Inszenierung der Moskauer Schauprozesse und die Mobilisierungskampagnen in der Sowjetunion (1936-1938), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2024, 432 Seiten, 128 Abb., 70,-€
[1] Fred E. Schrader, Der Moskauer Prozeß 1936. Zur Sozialgeschichte eines politischen Feindbildes, Frankfurt a.M./New York 1995.
[2] Karl Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937, München 2008, S. 103.
[3] Gerhard Paul, Vom Bild her denken. Visual History 2.0.1.6. in: Jürgen Danyel/Gerhard Paul/Annette Vowinckel (Hg.), Arbeit am Bild. Visual History als Praxis, Göttingen 2017, S. 15-72.
[4] Klaus Waschik, Virtual Reality. Sowjetische Bild- und Zensurpolitik als Erinnerungskontrolle in den 1930er-Jahren, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7 (2010), H. 1, online https://zeithistorische-forschungen.de/1-2010/4745 [12.12.2024].
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