Eine Familiengeschichte in Bildern
Ein Interview mit dem Stifter Michael Lindenberger
Michael Lindenberger, der das Fotoalbum seiner Großeltern dem Jüdischen Museum Berlin stiftete, sprach im Interview über seine bewegte Familiengeschichte, den Nachlass seiner Eltern und seinen Wunsch, die Erinnerungen zu bewahren.
Das Fotoalbum der Familie Lindenberger stammt aus dem Jüdischen Museum Berlin, wo es zwar teilweise erfasst, aber noch nicht vollständig erschlossen oder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist. Aus diesem Grund wurde es für das Projekt ausgewählt. Michael Lindenberger, der Sohn von als jüdisch verfolgten Berlinern, gab das Fotoalbum zusammen mit weiteren Dokumenten zur Familiengeschichte im Jahr 2015 an das Jüdische Museum Berlin. Es stammt aus dem Nachlass seines Vaters.
Die Fotos befanden sich teilweise in chronologischer Reihenfolge auf losen Seiten. Einzelne Bilder hatten auf der Rückseite Beschriftungen zu Zeit, Ort oder abgebildeten Personen. Michael Lindenberger sortierte die Seiten, fügte teilweise Bildunterschriften hinzu und ordnete die losen Bilder ein. So gelang es ihm, ein größtenteils chronologisches Fotoalbum zu erstellen, das Momente der Familiengeschichte von 1904 bis 1942 erzählt.
Teilen der Familie Lindenberger, die seit mehreren Jahrzehnten in Berlin ansässig und dort erfolgreich im Handel tätig waren, gelang 1938 die Flucht ins Ausland. Darunter waren auch die Großeltern und Eltern des Stifters, die die Bilder mit ins damalige Palästina nahmen. Dort standen die Ankömmlinge vor neuen Herausforderungen, da das familiäre Vermögen nicht mitgenommen werden konnte, Geschäfte und Häuser zwangsverkauft werden mussten und Sendungen – sogenannte Lifte – konfisziert wurden. Um die Familie zu ernähren und in Palästina ein neues Leben aufzubauen, mussten die Frauen ihren Schmuck verkaufen und die Männer Jobs als Lastwagen- oder Taxifahrer annehmen.
Im Jahr 1957 kehrte Michael Lindenberger im Alter von 15 Jahren mit seinen Eltern und seinem damals neunjährigen Bruder nach Deutschland zurück. Als Familie besuchten sie auch 1958 Berlin, wo seine Urgroßeltern eine Engros- & Export-Fischhandlung betrieben hatten. Die ehemaligen Lagerhallen und Geschäftsräume der Firma Lindenberger, über deren Eingang man damals immer noch den Familiennamen erahnen konnte, lösten nicht nur bei den Eltern, sondern auch bei Michael starke Gefühle aus.
Obwohl in der Familie nicht viel über die eigene Vergangenheit gesprochen wurde, erhielt Michael Lindenberger durch das Fotoalbum tiefe Einblicke in die eigene Geschichte und Herkunft. Er kann heute aus den einzelnen Erzählungen, Dokumenten, die erhalten blieben, und seinen Erinnerungen die Hintergründe vieler Bilder erklären. Außerdem erfuhr er mehr über die Fluchtgeschichte seiner engsten Verwandten und die Schicksale weiterer Familienmitglieder, die den Holocaust nicht überlebten. Gerade das Bewahren der Vergangenheit und das Weitergeben an die Öffentlichkeit sind für ihn wichtig. Für ihn und seinen Bruder gehören die Dokumente und Fotografien in ein Museum.
Für Michael Lindenberger ist dieses Album die Familiengeschichte: Einerseits ist sie eine freudige Geschichte, da die Bilder ein Zeugnis für das Leben und Überleben sind, andererseits ist sie eine traurige Geschichte, denn das Album zeigt, wie schnell sich die Umstände ändern können und eine Familie alles verlieren kann.
Das Interview wurde am 22. Dezember 2023 mit Michael Lindenberger in Frankfurt am Main geführt.
Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: „un.sichtbar. Blicke auf das Fotoalbum einer jüdischen Familie 1904-1969“, herausgegeben von Christine Bartlitz, Christoph Kreutzmüller und Theresia Ziehe
Themendossier: un.sichtbar: Blicke auf das Fotoalbum einer jüdischen Familie 1904-1969
Zitation
Clara Müller, Eine Familiengeschichte in Bildern. Ein Interview mit dem Stifter Michael Lindenberger, in: Visual History, 14.02.2024, https://visual-history.de/2024/02/14/unsichtbar-mueller-eine-familiengeschichte-in-bildern/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2714
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