Advent, Advent 2024 …
Visual History – Xmas Special
24 x Geschichte(n) des Jahres 2024
Kolleg:innen am ZZF haben jeweils ein Foto für das Jahr 2024 aus ihrer privaten digitalen Handy-Sammlung ausgewählt: Welche Geschichten stecken hinter den Bildern, welche Fragen werfen sie auf, welche Vergangenheit halten sie wach?
Die Bilder und Texte sind vom 1. bis zum 24. Dezember 2024 auf dem Instagram-Account von Visual History als ein digitaler Adventskalender veröffentlicht worden – hier sind sie noch einmal gesammelt zu sehen.
Im ganz nördlichen Brandenburg liegt der Ort Zempow. Dort gibt es im Sommer an jedem ersten Sonntag im Monat einen Kofferraum-Flohmarkt. Manche Tische sehen aus wie Wimmelbilder. Hier finden sich, neben einer Puppe mit Keramik-Kopf (Typ: Die Neue Frau) eine Gürtelschnalle mit Hammer und Zirkel, ein Untersetzer mit französischer Cognac-Werbung und der Super-8-Tonfilm Ganovenehre: eine Art ost-/west-europäische Wohnzimmerarchäologie des 20. Jahrhunderts.
Annette Vowinckel, Flohmarkt, Zempow (Brandenburg), Oktober 2024, CC BY-NC-ND 4.0
Zum Tag des offenen Denkmals war ich bei der ehemaligen Abhörstation der Amerikaner auf dem Teufelsberg. Vor Ort ging es mehr um Vibes als um Denkmale: Street Art! Street Food! Rooftop Bar! – bei über 30 Grad. Im September!
Auf der Rückseite dann doch noch ein Hinweis auf die Geschichte des Ortes – das Museum „Alliierte in Berlin“ bot aber auch nur Kalte Krieg Vibes.
Geschichte schien mir 2024 nicht nur auf dem Teufelsberg vor allem Vibes zu sein.
Die Vibes der abgebildeten Rooftop Bar waren aber wirklich top! It’s the end of the world as we know it and I feel fine.😊
Sabrina Runge, Teufelsberg, Berlin, September 2024, CC BY-SA 4.0
Nur für einen Augenblick zeigte sich der Skaftafellsjökull genannte Ausläufer des größten Gletschers in Europa. Gerade genug Zeit, um ein Foto zu schießen und mich nachdenklich zu stimmen. Wie viel Zeit bleibt uns noch, um solche dahinschmelzenden Eisriesen zu retten?
Etwa 18% ihrer Gesamtfläche haben die isländischen Gletscher seit Ende des 19. Jahrhunderts verloren. Auf dem Rest der wolkenverhangenen Wanderung wurde mir klar, dass wirklich jeder Augenblick zählt.
Josephine Kuban, Vatnajökull Nationalpark, Island, September 2024, CC BY-NC-ND 4.0
Bei einer Wanderung im Gamengrund nahm ich im August 2024 dieses Foto auf. Der Aufkleber „Kein Raum der AfD“ gab mir im Vorfeld der Landtagswahl in Brandenburg Hoffnung.
Doch das Foto zeigt neben aktuellen politischen Positionierungen auch erinnerungskulturelle Aushandlungsprozesse: 1941 traf sich hier eine Widerstandgruppe, deren Mitglieder enttarnt und 1944 hingerichtet wurden. Eine Bronzetafel, die seit 1974 an ihr Schicksal erinnerte, wurde 2021 von Unbekannten gestohlen. An ihrer Stelle steht nun „Nie wieder Faschismus!“ auf dem Gedenkstein.
Svea Hammerle, Im Gamengrund, Brandenburg, August 2024, CC BY-NC-ND 4.0
„Nicht Burg, Schloss!“ lautet der lakonische Kommentar unseres Sohnes, als wir auf der Reichsburg Cochem angekommen sind.
Er trifft damit intuitiv einen Punkt, denn von der Burg aus dem 12. Jahrhundert war wenig übrig, als der Berliner Eisenhändler Louis Ravené sie 1868 kaufte und zu seinem Sommersitz umbauen ließ. Zu besichtigen ist daher heute ein Stück Historismus: eine romantische Phantasie im neogotischen Stil – ein bisschen Neuschwanstein an der Mosel sozusagen.
Christoph Classen, Cochem, November 2024, CC BY-SA 4.0
Als Phase tiefer künstlerischer Depression wird die Gegenwart angesichts der Kriege in der Ukraine, in Israel und Palästina beschrieben. Das Konzert von Abdullah Ibrahim in diesem Sommer war ein Eintauchen in eine andere Zeit und andere Räume. Der 90-Jährige musste auf dem Weg zum Flügel gestützt werden; er gab dann zusammen mit seiner Band ein langes, umwerfendes Konzert. Ibrahims Lied Mannenberg war „the beat that beat apartheid“.
Der Abend mit ihm und seiner Musik versetzte mich zurück in jene Zeit des Aufbruchs. Beglückt ging ich nach Hause.
Isabel Enzenbach, Berlin, September 2024, CC BY-NC-ND 4.0
Hier war viel. Ursprünglich als Preußische Kriegsschule gedacht, residierten in diesem Potsdamer Gebäude schon Offiziersanwärter, Nazi-Archivare, die SED, der brandenburgische Landtag und Geflüchtete. Heute steht es leer, der Dachstuhl ist teils ausgebrannt und der Zutritt verboten.
Aneignungsversuchen kann es sich dennoch nicht entziehen, insbesondere visuellen. Eine russische Flagge samt Symbol „Z“ wurden angebracht und entfernt. Weithin sichtbar ist die gesprayte „71“ – sie steht für den Stadtteil Potsdam West.
Tobias Eder, Potsdam, 31.12.2023, CC BY-SA 4.0
I saw this table full of Playmobil figures at a market in Kreuzberg, and the wild array of colors, costumes and faces made me smile. I am constantly amazed at the diversity of the people around me, each of them with their own stories and relationships, dreams and disappointments, triumphs and tragedies.
In these times of crisis and division, I often wish that each of us would take a moment to recognize that, underneath all of our apparent differences, we are ultimately all in this together, that we are all alive at this moment, that we are all connected by this miracle of life.
Lee Holt, Marheinekeplatz, Berlin, September 2024, CC BY-NC-ND 4.0
Die Brücke von Mostar am frühen Morgen. Die in osmanischer Zeit erbaute und im Bosnienkrieg zerstörte Stari Most ist zwar längst wieder aufgebaut. Aber das einstige Wahrzeichen versöhnter Religionsgemeinschaften ist heute das Sinnbild einer gespaltenen Gesellschaft, wo die eine Seite des Flusses überwiegend von katholischen Kroaten und die andere Seite fast nur von muslimischen Bosniaken bewohnt ist.
Lediglich die Straßenhunde von Mostar wandeln arglos zwischen beiden Teilen. Und wer weiß: Vielleicht träumt diese Weißpfote ja von der Wiedervereinigung der Stadt.
Katja Stopka, Privatfoto, Mostar, Bosnien und Herzegowina, September 2024, CC BY-NC-ND 4.0
Der Kulturpalast im Stil des Sozialistischen Klassizismus am Warschauer Hauptbahnhof wurde 1955 fertig gestellt. Von einem seiner Eingänge aus blickte die Kolchosbäuerin damals noch immer auf eine nahezu vollständig zerstörte Stadt.
Ob sie heute zufrieden wäre mit der Aussicht, ist schwer zu sagen. Jedenfalls ist die Stadt unverwechselbar.
Sandra Starke, Warschau, April 2024, CC BY-SA 4.0
Bauhausdesign? Nein, eine Kachel aus Sevilla vom Beginn des 16. Jahrhunderts. Gesehen im Museu Nacional do Azulejo in Lissabon. Maurischer Einfluss.
Kleine Erinnerung daran, dass Osten und Westen immer im engen Austausch standen und sich gegenseitig bereichert haben. Gleichzeitig erschüttern das grafische Design und die Technik zur standardisierten Vervielfältigung unsere Sicherheit, dass wir erst im 20. Jahrhundert die Moderne entdeckt haben.
Corinna Kuhr-Korolev, Lissabon, September 2024, CC BY-SA 4.0
Am 5. Juni werfe ich drei Briefe in einen Briefkasten am Kölner Neumarkt. Es sind die Briefwahlunterlagen zur Europawahl – meine und die von zwei Nachbar:innen. Sie haben sie mir anvertraut.
Stets beantragen wir der Flexibilität halber Briefwahl, aber in den letzten Jahren war es jeder/m von uns schon passiert, dass wir die ausgefüllten Stimmzettel nicht rechtzeitig eingeworfen haben. Es war völlig klar, dass das dieses Mal nicht passieren darf, zu viel steht derzeit auf dem Spiel. Also verschickte ich ein Beweisfoto.
Lucia Halder, Köln, Juni 2024, CC BY-NC-ND 4.0
Hinter Glas hängt das Plakat für „The Zone of Interest“. Im unteren Drittel eine Szene vom Fest im „Paradiesgarten“ der Familie des Kommandanten Höß. Hinter der weiß getünchten Gartenmauer deutet der Spielfilm das Gefangenenlager an und den Himmel über dem „SS-Interessengebiet“. Das Poster indes konfrontiert dort allein mit einer schwarzen Fläche. In diesem Schwarz fängt sich durch das spiegelnde Glas der Abglanz unserer Gegenwart.
Auschwitz und wir. Wie wird Jonathan Glazers Spielfilm und seine Oscar-Dankesrede gedeutet – in drei, zehn und dreißig Jahren?
Axel Doßmann, Aushang des Filmtheaters am Sendlinger Tor, München, März 2024, CC BY-NC-ND 4.0
Ich wollte schon immer mal Polarlichter sehen. Nie hätte ich gedacht, dass ich die Himmelserscheinung einmal über Berlin sehen würde. Doch am Abend des 10. Oktober 2024 zeigte mir Instagram plötzliche mehrere Posts mit Polarlichtern über Berlin. Sofort rannte ich an mein Küchenfenster und sah erstmal: nichts.
Erst als ich mein Smartphone zum Himmel ausrichtete und mehrere Langzeitaufnahmen machte, erblickte ich die Polarlichter in ganzer Pracht. Nur mit dem digitalen Auge erkannte ich die Realität. Die Aurora Borealis wurde eine Aurora Digitalis.
Hanno Hochmuth, Polarlichter über dem Chamissoplatz in Kreuzberg, Berlin, Oktober 2024, CC BY-NC-ND 4.0
Computer – Kunst – Geschichte
„Zentrum für Datenverarbeitung“ – so hieß das ehemals dreiteilige Ensemble des Potsdamer Rechenzentrums, dessen Verwaltungsgebäude heute ein lebendiges Kunst- und Kreativhaus ist. Der Volkseigene Betrieb „Maschinelles Rechnen“ spielte seit den 1970er Jahren in den Planungen eines landesweiten Computernetzwerks eine zentrale Rolle.
Für die internationalen Gäste der ZZF-Tagung „Transnational Pathways to the Digital Age“ bot der Besuch des „Rechenzentrums“ eine besondere Chance, die lokalen Entwicklungspfade ins digitale Zeitalter zu studieren. Die Gruppe steht vor einem Kunstwerk Martin Gnadts (2020) an der durch den Abriss der alten Rechnerhalle entstandenen Wand an der Nordseite des Gebäudes.
Michael Homberg, Besuch des ehemaligen Potsdamer Rechenzentrums anlässlich der ZZF-Tagung „Transnational Pathways to the Digital Age“ am 1./2. August 2024, CC BY-NC-ND 4.0
Im Juni war ich in Hamburg auf der BiblioCon. Fußläufig zu unserem Hotel lag die Elbphilharmonie. Für die „Kosmische Reise“ der Berlin Academy of American Music gab es sogar noch Karten. Gegeben wurden Bernstein, Gershwin und Copland, sowie Uraufführungen von Josefine Opsahl und Missy Mazzoli. Es war toll.
In der Pause aber hatte die Elbphilharmonie selbst ihren großen Auftritt. Deren Glasfenster boten einen hinreißenden Ausblick auf die untergehende Sonne über dem Hafen. In der Architektur spiegelte sich wiederum das Abendlicht, als wäre es Teil des Gebäudes.
Ich habe in diesem Jahr selten so viele Menschen lächeln gesehen.
Helen Thein-Peitsch, Elbphilharmonie, Hamburg, Juni 2024, CC BY-SA 4.0
Im Sommer tauche ich in eine teils prekäre Lebensrealität von zwei kleinbäuerlichen Betrieben in Bayern ein. Im Kopf habe ich: wütende Bauern auf hupenden Traktoren. Die Ankündigung der Ampel, Subventionen im Agrarbereich abzuschaffen, hat protestierende Bäuerinnen und Bauern in die deutschen Innenstädte gebracht. Wie überall in Europa geht es dabei um viel mehr als um den Preis für Diesel. Verhandelt wird die europäische Agrarpolitik: Handelsabkommen, überbordende Bürokratie und Umweltauflagen in Zeiten des Klimawandels.
Wie kann die Agrarwende gelingen, ohne all die Unzufriedenen von der AfD abholen zu lassen?
Christine Bartlitz, Kleinbäuerlicher Hof in Bayern, Juni 2024, CC BY-NC-ND 4.0
Aus meiner Promotion heraus habe ich eine Ausstellung kuratiert. Sie heißt „Das Leben festhalten. Fotoalben jüdischer Familien im Schatten des Holocaust“ und läuft seit Juni im Schöneberg Museum .
Das Plakat an der Fassade freut mich besonders. Auf dem Foto sind Erich und Bubi Chotzen zu sehen. Es ist im Frühsommer 1938 auf dem Teupitzer See aufgenommen. Durch das Poster bekommen sie eine Sichtbarkeit, die ihre Zeit ihnen auf gewaltvollste Weise verwehrte.
Robert Mueller-Stahl, Fassade des Schöneberg Museums mit Ausstellungsankündgung „Das Leben festhalten. Fotoalben jüdischer Familien im Schatten des Holocaust“, Berlin, Juni 2024, CC BY-NC-ND 4.0
Das „Haus der Offiziere“ in Wünsdorf war bis 1994 Haupt- und Kulturquartier für die in der DDR stationierten sowjetischen/russischen Truppen. 40.000 Soldaten, Offiziere und ihre Familien lebten hier. Einst ein Prachtbau, Militärturnanstalt, ab 1924 Heeressportschule, danach kam die Westgruppe der Roten Armee.
Jetzt verfällt das Gelände; es mangelt an nachhaltigen Konzepten. Investor:innen steigen immer wieder aus. Vielleicht ist es nicht die schlechteste Idee, die Natur als Siegerin der Geschichte walten zu lassen und zu zeigen, wie Imperien, ob tausendjährig oder neo-zaristisch, untergehen. Sie werden immer untergehen …
Annette Schuhmann, Haus der Offiziere in Wünsdorf, Juli 2024, CC BY-SA 4.0
Kaum ein anderes Wahrzeichen der italienischen Hauptstadt wird öfter fotografiert als die Fontana di Trevi. Der Blick hinter den imposanten Oceanus offenbart die Fassade des Palazzo Poli. Aber wie wäre es mit einem Perspektivwechsel? Aufgenommen wurde das Foto aus den Räumlichkeiten des im Palazzo ansässigen Istituto Centrale per la Grafica.
Janaina Ferreira dos Santos, Fontana di Trevi, Rom, Juni 2024, CC BY-SA 4.0
Dies ist der Blick aus einer Höhle. Aus einer nachgebauten Höhle. Mit 20 Mit-Höhlenforscher:innen entdecken wir gleich Chauvet II. Tauchen ein in die Tiefenzeit der Menschheit. Fotos darf man innen nicht aufnehmen. Die Aura der Kopie @Walter Benjamin, Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit @Jean Baudrillard, Simulakrum @Umberto Eco, Hyperrealität.
Achim Saupe, Chauvet 2, Ardèche Vallon-Pont-d’Arc, Frankreich, August 2024, CC BY-SA 4.0
Looks spooky? Das dachte auch Bram Stoker, als er 1890 den Friedhof der Hafenstadt Whitby besuchte. Einige Grabsteine tragen die Namen von Toten … doch sind die Gräber leer. Denn sie erinnern an fern der Heimat ertrunkene Seeleute.
Ein leeres Grab: Das ist natürlich die ideale Behausung für einen Vampir, der neu in der Stadt ist und einen Sargdeckel über dem Kopf sucht. Daher ließ der Londoner Schriftsteller den aus Transsylvanien sich einschiffenden Dracula in Whitby an Land gehen. Ich erlebte die Magie des historischen Romanschauplatzes im Oktober.
Das Buch ist ein Zeitspiegel: Es karikiert die Furcht der viktorianischen Gesellschaft vor Einwanderung aus Osteuropa ebenso wie vor der weiblichen Sexualität. Und Stokers Untoter lebt bis heute: Deshalb schließt Eure Fensterläden, wenn ihr ein Flügelschlagen vernehmt, sobald die Nacht hereinbricht.
Jutta Braun, Whitby Abbey, Oktober 2024, CC BY-SA 4.0
Auf einer von Studierenden der Public History organisierten Exkursion hat mich ein Ort besonders beeindruckt: ein Regenbogen ohne Farbe – nur noch verschiedene Grautöne sind erkennbar.
Das Denkmal „Arcus“ steht mitten in Wien in einem Parkt und erinnert an die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen. Die bunte Vielfalt ist verschwunden, zurück bleibt nur ein Schatten – aber immerhin dieser bleibt. So sollen Trauer aber auch Hoffnung symbolisiert werden – bei mir hat es funktioniert.
Irmgard Zündorf, Arcus, Resselpark, Wien, Juli 2024, CC BY-NC-ND 4.0
Wismar am 24. Dezember 2023, nach einer Christvesper in der St. Georgen Kirche. Das fulminante Bauwerk, das als Gotteshaus und Kulturkirche gleichsam genutzt wird, hatte uns bewegt, nicht minder die Rede des Pastors, der von seinen erschütternden Begegnungen mit asylsuchenden Menschen erzählte und ein Plädoyer für offene Türen und Herzen hielt.
Danach gingen wir durch die regennassen, verwunschenen Gassen mit dem malerischen Widerschein der Lichter – schön und doch bedrückend menschenleer.
Anja Tack, Wismar, 24.12.2023, CC BY-NC-ND 4.0
Wir wünschen allen Leser:innen von Visual History frohe Weihnachtstage und ein gesundes und freundliches neues Jahr 2025!