Willy Ronis fotografiert in der DDR
Eine Ausstellung rekonstruiert ein Projekt von 1967
„La vie avant tout“ („Zuerst das Leben“) ist die Ausstellung im Versailler Museum Espace Richaud betitelt, die im Sommer/Herbst 2021 die Fotografien zeigt, die Willy Ronis 1967 in der DDR aufgenommen hat.[1] Sie ist als Einladung zu verstehen, die Bilder eines der wichtigsten Repräsentanten der französischen Fotografie kennenzulernen. Ronis bereiste die DDR für einige Wochen und erarbeitete aus seinen Fotografien eine in Frankreich vielfach (nicht aber in Ost- oder Westdeutschland) gezeigte Ausstellung. Doch seitdem sind nur wenige dieser Bilder in der Öffentlichkeit zu sehen gewesen. Die aktuelle Versailler Exposition und der Katalog sind eine Rekonstruktion dieser Ausstellung nach mehr als fünfzig Jahren. Die Fotografien zeigen nicht nur den fotografischen Ansatz von Willy Ronis und seine Bildsprache, sondern sie erweisen sich bei näherer Betrachtung auch als zeithistorische Quelle und als widerspenstiges Dokument kultureller Aneignung auch jenseits des Kalten Kriegs.
Willy Ronis (1910-2009), bekannt durch sein Bild „Le petit Parisien“, das einen kleinen Jungen zeigt, der mit einem Baguette unter dem Arm die Straße entlangrennt, ist ein hierzulande wenig bekannter Vertreter des „fotografischen Humanismus“, mit dem man in Deutschland vor allem die Pariser Bilder von Robert Doisneau verbindet, zu dem aber auch Éduard Boubat, Izis (Israelis Bidermanas), Brassaï und Henri Cartier-Bresson zählen.
Doisneau war 2016 eine Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau gewidmet,[2] Ronis’ Bilder waren dagegen in Deutschland lediglich in einer Retrospektive im Jahr 2004/05 zu sehen,[3] darunter auch einige wenige, die er 1967 in der DDR gemacht hatte. In Frankreich wurden seine DDR-Fotografien dagegen nach 1967 in etwa 80 Kulturhäusern gezeigt, was die Breitenwirkung linker Kultur zu dieser Zeit verdeutlicht.
Willy Ronis hatte zunächst das Fotoatelier seines Vaters übernommen und als Industriefotograf gearbeitet. Nach seiner Flucht ins unbesetzte Südfrankreich arbeitete er nach Kriegsende wieder als Bildjournalist und Industriefotograf. Er war 1946 Gründungsmitglied der Fotoagentur Rapho und machte sich seit den 1950er Jahren einen Namen als fotografischer Beobachter von Paris. 1960 reiste er als Gast des Fotografiekongresses Interpress-Foto 1960 erstmals in die DDR. Die Bilder Ronis’ gehören heute zum offiziellen nationalen Kulturerbe Frankreichs; sein 1983 dem französischen Staat vermachter Vorlass wird in der Médiathèque de l´architecture et du patrimoine betreut, die die Fotografien auch für die Versailler Ausstellung und dankenswerterweise für diese Rezension zur Verfügung gestellt hat.
Was bedeutet nun aber die Bezeichnung eines Werks als „photographie humaniste“, die im Deutschen – irreführend, wie ich meine – mit fotografischem Humanismus übersetzt wird. Im Vordergrund stehe, so Ronis, eben der Mensch.[4] Es geht also nicht um Humanismus im Allgemeinen, sondern um den Blick der Fotografen (es handelte sich bei dieser Gruppe durchweg um Männer) auf einzelne Menschen in ihrer Umwelt. Das betrifft sowohl die Arbeitsmethode wie auch die Sujets. Ronis’ Fotografien fangen diese Lebensumwelt (fast) immer mit ein, sodass soziale Kontexte en miniature entstehen – allerdings nicht im Sinne einer Anklage sozialer Verhältnisse, sondern mit begleitender Sympathie für die Menschen.
Wenn im Folgenden einige der in der DDR entstandenen Bilder vorgestellt werden, so geschieht dies nicht unter bildästhetischen Gesichtspunkten, sondern mit dem Blick des Zeithistorikers. Denn Ronis war einer offiziellen Einladung in die DDR gefolgt und wurde bei seiner Reise hochrangig betreut.[5] Man könnte sich also vorstellen, dass Ronis, der selbst fest im kommunistischen Milieu Frankreichs verankert war,[6] einen parteilichen oder gar parteibezogenen Blick auf die DDR eingenommen hätte. Davon findet sich jedoch so gut wie nichts, wenn man darunter eine Anlehnung an die visuelle offizielle Staats- und Gesellschaftsdokumentation der DDR versteht. Stattdessen zeigen die Fotografien Alltagsszenen, die, einmal abgesehen von identifizierbaren und bekannten Örtlichkeiten, auch anderswo hätten aufgenommen werden können.[7]
Jedoch treten bei einer Bildlektüre Hinweise zutage, die zeigen, dass Ronis’ Fotografien weder überzeitlich noch ortlos sind. Im Folgen werden exemplarisch fünf von ihnen ausgewählt, um zu zeigen, wie Ronis diese Bezüge herstellt. Dem originalen Bildtitel (auch in deutscher Übersetzung) werden dabei vom Rezensenten ein weiterer Titel und eine knappe Bildlektüre an die Seite gestellt, die seine heutige Sicht verdeutlichen.
Universelles Spiel. Rollerfahrende Jungs, Kinder im Gespräch, fahrradschiebende Erwachsene, so porträtierte Ronis eine Straßenszene in der Altstadt Erfurts im Jahr 1960. Der Rezensent verbindet dieses Motiv nicht mit einer Bezirksstadt der DDR, sondern mit eigenen Kindheitserinnerungen. Er erinnert sich an die Stöße, die das Kopfsteinpflaster verursacht, denen besonders der Junge mit dem Holzroller und seinen kleinen Rädern ausgeliefert gewesen sein wird. Das Foto steht im Katalog im Kapitel „Europa vs. DDR“ im direkten Vergleich mit dem Bild des „petit Parisien“. In diesem Kapitel nehmen die Kurator*innen einen Motivvergleich vor, der die Ähnlichkeiten der DDR-Fotografien mit denen anderswo, meist in Frankreich fotografierten, herausstellt.[8]
Kofferheule. Hier ist er also, der Halbstarke mit Kofferradio, so wie wir ihn uns vorstellen mögen und wie er in der offiziellen Propaganda vom Westeinfluss auf die sozialistische Jugend beschrieben wurde. Ob im Radio wirklich Westmusik lief, wissen wir nicht. Frisur, Hemd, Socken – alles ist hochmodisch, und der Gesichtsausdruck, das Radio und die Hängetasche sind einfach cool. Ronis’ französischer Bildtitel „cycliste transistorisé“ macht deutlicher als die deutsche Titelfassung klar, worauf es ankommt: die Ausstattung. Nicht ganz dazu passt der zweite Sattel auf dem Diamant-Rad. Ob er für den kleinen Bruder oder die kleine Schwester gedacht war?
Nach dem Kinderkaufhaus. Die Sommermode zeigt sich gepunktet und die Kinderkonfektion in großer Serie, so suggeriert es der Bildtitel. Im Schnitt der Kleider zeigen sich jedoch Unterschiede, und es ist dem Betrachter nicht ganz klar, ob das Mädchen links im Bild die Hände ringt, weil sie eine Gleichgekleidete erkennt, oder ob sie, wie andere Personen im Bild auch, ins Schaufenster blickt, das offenbar Aufmerksamkeit erregt.
Zeit haben. Ein Rentner sitzt mit seinem Hund am Zaun eines Schrebergartens vor dem Chemiekombinat VEB Leuna-Werke, eine Ausgabe der Bezirkszeitung der SED in der Hand. Will uns der Herr in seiner Arbeitsjacke und der mit „Freiheit“ betitelten Zeitung etwas sagen oder freut er sich über die Gesellschaft des Fotografen bzw. nach getaner Arbeit auf die Lektüre bei einer Tasse Kaffee?
Rückenschmerzen. Auf einem Kissen liegt eine Arbeiterin, um etwas unter dem Armaturenbrett zu montieren. Im Vordergrund des Bildes steht die körperliche Geschicklichkeit, die, auf einen Acht-Stunden-Tag gerechnet, die Mühen ihrer Arbeit nachvollziehbar macht. Der Blick richtet sich aber auch auf die Bluse und die Riemchensandalen, die die Frage nach Arbeitsschutzkleidung im sozialistischen Betrieb aufwerfen.
Ihre subtilen zeithistorischen Aussagen entwickeln die Fotografien von Willy Ronis erst vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs und seiner Bildwelten. Deutlich wird dies durch einen Motivvergleich mit den Fotografien von Thomas Höpker, der 1974 bis 1976 als Fotojournalist für den „Stern“ in der DDR akkreditiert war. Die dort entstandenen Fotografien, veröffentlicht in mehreren Bildbänden,[9] zeigen die DDR als das „andere Deutschland“ – anders als bei Ronis ist die Vergleichsfolie also die Bundesrepublik. Damit war im Zuge der Détente jedoch nicht eine Positiv-Negativ-Schablone des Systemvergleichs gemeint, sondern ganz offenbar das Erstaunen über das Andere, das sich in einer Trauer über den Verlust und einer Irritation über die Politisierung des Straßenbilds ausdrückt.
Während Höpkers Fotografien sich an ein Publikum in der Bundesrepublik richteten, so wandte sich Ronis an ein französisches. Ronis sieht Vergleichbares, nicht die Unterschiede, ähnlich, wie dies bei den Fotografien des für die „Zeit“ in der DDR akkreditierten Rudi Meisel, oder, bereits zu Beginn der 1960er Jahre, bei den Bildern, die der Bildjournalist René Burri in Ost- und Westdeutschland aufgenommen hat, der Fall ist.[10]
Deutlich wird die Beobachtungsperspektive von außen. So stellt sich in der Umkehrung die Frage nach dem Blick von DDR-Fotografen auf das Unbekannte jenseits der eigenen Landesgrenzen. Das zahlreiche Fotografien enthaltende Pariser Reportagebuch von Fred und Maxi Wander aus dem Jahr 1962 und Roger Melis’ Fotobuch als Ergebnis einer Parisreise Anfang der 1980er Jahre[11] bieten Ansatzpunkte für eine Untersuchung dieses wechselseitigen Blicks: Was erscheint dokumentations- und berichtenswert? Und wie prägt eine Fotografie „von außen“ das Bild eines Landes jenseits des jeweiligen Eigenverständnisses bzw. wie wirkt sie im Kontext kultureller Muster?
Willy Ronis hatte, dies zeigt die Komposition der Ausstellungsreihe, die er selbst nach seiner DDR-Reise damals vorgenommen hat, eine klare Vorstellung davon gewonnen, was er im Ergebnis darstellen wollte.
[1] Ausstellung in Versailles bis 10. Oktober 2021. Katalog: Zuerst das Leben! 1960-67. Willy Ronis in der DDR. Katalogbuch anlässlich der Ausstellung „Willy Ronis en RDA, La vie avant tout“, Espace Richaud, Versailles, 2021. Mit Texten von Nathalie Neumann, Ronan Guinée und Gabrielle de la Selle, zweisprachige Ausgabe, Berlin 2021 (frz. Ausg. Marseille: éditions Parenthèses, Marseille 2021).
[2] Robert Doisneau – Fotografien. Vom Handwerk zur Kunst, Berlin, Martin-Gropius-Bau, 9.12.2016-5.3.2017, https://www.fotografie-in.berlin/martin-gropius-bau-robert-doisneau-photographs/ [30.08.2021]. Mit ihm wirbt derzeit auch das Pariser Stadtmuseum Carnavalet zu seiner Wiedereröffnung 2021.
[3] Mit Ausnahme einer Wanderausstellung 2004/5 unter dem Titel „Willy Ronis. La vie – en passant“, zu der 2004 auch das gleichnamige, von Sylvia Böhmer, Matthias Harder und Nathalie Neumann herausgegebene Fotobuch im Prestel Verlag, München 2004, erschien.
[4] Nathalie Neumann/Ronan Guinée, Die DDR, wie Willy Ronis sie sah: Ein Land wie das unsere?, in: Zuerst das Leben!, S. 10f., hier S. 10.
[5] Die Reise wurde organisiert durch die der KPF nahestehende, aber bis ins gaullistische Lager hinein verankerte, 1958 gegründete Gesellschaft Échanges franco-allemands. Ronis’ Reisebegleiter Willi Kirschey war KPD-Funktionär, Buchenwaldhäftling und 1967 Leiter der Kaderabteilung des DDR-Außenministeriums.
[6] Zum biografischen Abriss vgl. Gabrielle de la Selle, Ein engagiertes Fotografenleben, in: Zuerst das Leben!, S. 12-25.
[7] Die Autor*innen des Katalogs verweisen auf eine intendierte Vergleichbarkeit mit Frankreich für ein französisches Publikum, vgl. Neumann/Guinée, Die DDR, S. 11.
[8] Die übrigen Kapitel – Politik, Städte und Landschaften, Arbeit und Freizeit, Kunst und Kultur – entsprechen der thematischen Einteilung, die Ronis für seine Ausstellungen ab 1967 vorgenommen hat.
[9] Eva Windmöller/Thomas Hoepker, Leben in der DDR, Hamburg o.J. (1976); Berliner Wände. Bilder aus einer verschwundenen Stadt in Ost-Berlin fotografiert von Thomas Höpker. Begleittext von Günter Kunert, München/Wien 1976; Thomas Hoepker, DDR Ansichten. Views of a Vanished Country. Mit einem Vorwort von Wolf Biermann und Texten von Günter Kunert, Eva Windmöller, Thomas Hoepker, Ostfildern 2011.
[10] So auch die resümierende These des Ausstellungsbuchs von Rudi Meisel, Landsleute/Two Germanys 1977-1987, Heidelberg/Berlin ²2016. Die Ausstellung war im c/o Berlin und im Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam zu sehen. Siehe auch René Burri, Die Deutschen, Zürich 1962/Les Allemands, Paris 1963.
[11] Fred Wander, Doppeltes Antlitz. Pariser Impressionen. Mit 165 Fotografien von Fred und Maxi Wander, Berlin (Ost) 1966. Fred Wander (1917-2006), Widerstand und Haft im französischen Exil, Haft in Buchenwald, lebte von 1958 bis 1982 in der DDR. Die Paris-Reise wurde durch die Deutsch-Französische Gesellschaft der DDR unterstützt. Eine Ausstellung der Fotografien im Stadtmuseum Potsdam wurde aufgrund der Besucherkommentare im Gästebuch abgebrochen, vgl. Nathalie Neumann, Eine Fotoreportage im Dienst der deutsch-französischen Freundschaft, in: Zuerst das Leben!, S.46-63, hier S. 48. Roger Melis (1940-2009), Paris zu Fuß. Mit einem Geleitwort von Stephan Hermlin, Berlin (Ost) 1986.
Zitation
Andreas Ludwig, Willy Ronis fotografiert in der DDR. Eine Ausstellung rekonstruiert ein Projekt von 1967, in: Visual History, 28.09.2021, https://visual-history.de/2021/09/28/willy-ronis-fotografiert-in-der-ddr/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2314
Link zur PDF-Datei
Nutzungsbedingungen für diesen Artikel
Dieser Text wird veröffentlicht unter der Lizenz Creative Commons by-nc-nd 3.0. Eine Nutzung ist für nicht-kommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle zulässig. Im Artikel enthaltene Abbildungen und andere Materialien werden von dieser Lizenz nicht erfasst. Detaillierte Angaben zu dieser Lizenz finden Sie unter: http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/.