„Unbequeme Konkurrentinnen“

Die frühe fotografische Ausbildung von Frauen im Berliner Lette-Verein ab 1890

Im Februar 1866 wurde der Verein zur Förderung der Erwerbstätigkeit des weiblichen Geschlechts unter dem Vorsitz des Juristen und Sozialpolitikers Wilhelm Adolf Lette (1799-1868) und unter dem Protektorat der preußischen Kronprinzessin Victoria (1840-1901) in Berlin gegründet.[1] Die Pläne des Vereins umfassten zwei Wege zur Verbesserung der weiblichen Bildungschancen: Zum einen setzte man auf eine „lebenspraktische und berufliche Bildung“.[2] Hierfür sah der Verein die Gründung verschiedener Institute oder die Unterstützung bereits bestehender Einrichtungen vor. Weiterhin setzte der Verein auf eine wissenschaftliche Wissensvermittlung. Ab 1869 konnten Frauen in der vom Lette-Verein unterstützten Bildungseinrichtung, dem Victoria-Lyceum, Vorlesungen renommierter Wissenschaftler hören und erhielten so u.a. Einblicke in die Medizin, das Rechtswesen, die deutsche Klassik, Musiktheorie, Botanik, Physik.[3]

Nach Lettes Tod im Jahr 1868 übernahm zunächst der Jurist Franz von Holtzendorff (1829-1889) und ab 1872 Lettes Tochter Anna Schepeler-Lette (1827-1897) den Vereinsvorsitz. Unter ihrer Leitung wurde der Lette-Verein – diesen Namen erhielt er 1869 zum Gedenken an seinen Gründer – zum Schulträger: So entstanden u.a. 1872 eine Handels- und Gewerbeschule sowie 1886 eine Haushaltungsschule. Im Laufe der Zeit wurden Schülerinnen u.a. zu Hauswirtschafts- und Gewerbelehrerinnen, Schneiderinnen, Putzmacherinnen und Bibliotheksassistentinnen ausgebildet. Die Fotografie stand zu Beginn noch nicht im Lehrplan, wurde aber als mögliche Erwerbstätigkeit für Frauen in Erwägung gezogen. Überliefert ist, dass die Fotografin Emma Planck, die ein Atelier in der Leipziger Straße betrieb, anbot, Schülerinnen des Lette-Vereins gegen Entgelt zu unterrichten.[4]

Ab Ende der 1880er Jahre wurde innerhalb des Lette-Vereins darüber nachgedacht, einen fotografischen Ausbildungszweig anzubieten.[5] Die Fotografie war zu diesem Zeitpunkt ein immer noch junges Medium, 1889 wurde ihr 50. Geburtstag zelebriert, und es galt noch auszuloten, in welchen Disziplinen sie zukünftig eingesetzt werden konnte. Sicher war zu diesem Zeitpunkt aber schon, dass die Nachfrage von fotografischen Bildern, ob in der Medizin, im Privaten, in der Industrie und in technischen Berufen, rasant anstieg. Vorbild für die Gründung einer fotografischen Unterrichtsanstalt war die 1888 in Wien etablierte Graphische Lehr- und Versuchsanstalt (zuerst unter dem Namen k.k. Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie und Reproduktionsverfahren): die erste institutionalisierte Vollzeit-Ausbildungsmöglichkeit für Männer, die aber auch Kurse zu einzelnen fotografischen Verfahren am Abend anbot, damit vor allem Gehilfen die Möglichkeit erhielten, sich nach getaner Arbeit weiterzubilden.[6] Der Ruf nach einer solchen Lehranstalt wurde daher in männlich dominierten Fachkreisen auch im deutschen Kaiserreich lauter.

Parallel fanden im Lette-Verein Verhandlungen über die Einrichtung einer Photographischen Lehranstalt für die Ausbildung von Frauen statt, da im hauseigenen Stellenvermittlungsbüro immer mehr Angebote und Gesuche im Bereich der Fotografie eingingen: Besonders Kopiererinnen, Retoucheurinnen und Empfangsdamen in fotografischen Ateliers waren gefragt – die Gehälter schwankten dabei zwischen 50 und 100 Mark monatlich. Von einer einheitlichen, soliden und institutionalisierten Ausbildung versprach man sich noch weit höhere Honorare.[7]

Zunächst wurde wieder über die Möglichkeit gesprochen, Schülerinnen außerhalb in frauengeführten Ateliers ausbilden zu lassen, was aber verworfen wurde, da eine Atelierausbildung nur eingeschränkt Wissen über fotografische Verfahren und Techniken vermitteln würde. Auch wurde das Potenzial bildgebender Verfahren in weiteren Anwendungsbereichen erkannt, sodass sich Anna Schepeler-Lette für die Gründung einer eigenen Lehranstalt einsetzte, die mit der finanziellen Unterstützung einer Stiftungssumme von knapp über 15.000 Mark realisiert werden konnte: Im Oktober 1890 wurde die Photographische Lehranstalt eröffnet, die, in Preußen für Frauen, als „das erste Institut der betreffenden Art mit rein praktischem Zwecke“ galt.[8]

Mit Gründung der Photographischen Lehranstalt wurden Frauen im Lette-Verein nun nicht mehr ausschließlich für Berufe in gewerblichen und kaufmännischen, sondern auch in naturwissenschaftlich-technischen Bereichen ausgebildet. In der Lehranstalt waren es zunächst exklusiv weibliche Schülerinnen, die von nun an mit strukturierten Lehrplänen und Spezifikationen zu Fotografinnen und technischen Assistentinnen ausgebildet wurden. Sie gestalteten als Absolventinnen verschiedenste Berufsfelder maßgeblich mit und wurden so für ihre männlichen Kollegen zu einer „unbequeme[n] Konkurrenz“[9].

Eine Untersuchung dieser Ausbildungssituation und der Vernetzung von Frauen um 1900, die mit fotografischer Technik ihren Lebensunterhalt verdienten, bietet die Möglichkeit, fotografische Berufsfelder wieder sichtbar zu machen, die durch die Photographische Lehranstalt des Lette-Vereins geprägt wurden und in denen fast ausschließlich Frauen tätig waren. In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Arbeiten zur Geschichte der Fotografie erschienen, trotzdem ist nur wenig über Ausbildungswege, Professionalisierungsschübe und die soziale Vernetzung der beteiligten Akteur:innen bekannt. Die substanziellen Fortschritte, die in den letzten dreißig Jahren auf dem Gebiet der Visual History gemacht worden sind, betreffen eher die Bildbestände als die professionellen Rahmenbedingungen der Bildproduktion einschließlich der wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen sowie der Ausbildungswege von Fotograf:innen. In dem Dissertationsprojekt blicke ich daher auf die Anfänge dieser institutionellen Ausbildungsmöglichkeit in Berlin für Fotografinnen und wissenschaftlich technische Hilfskräfte und ordne diese in zeitgenössische Diskurse ein.[10]

Wie aus zeitgenössischen Quellen – für das Dissertationsprojekt wurde hauptsächlich die Fachzeitschrift „Photographische Mittheilungen“ ausgewertet – hervorgeht, führte das immer professioneller agierende Amateur:innenwesen vor der Gründung der Photographischen Lehranstalt nicht nur zu einer Konkurrenzsituation mit Berufsfotografinnen, sondern auch zu einem Qualitätsabfall fotografischer Produkte, häufig begründet durch eine fehlende oder zu kurze Ausbildungszeit. Auch wenn sich die Diskurse hauptsächlich um die sogenannte Fachfotografie, sprich: Portrait- oder Landschaftsfotografie drehten, und diese Genres nicht im Fokus des Projekts stehen, so ist die Diskussion über eine institutionalisierte Ausbildung als Ausgangspunkt für die Entstehung spezialisierter Einrichtungen von großer Bedeutung. Fachkreise forderten die korrekte Beherrschung verschiedener fotografischer Verfahren in der Praxis, also eine solide Grundausbildung. Ziel des Projekts ist es daher auch, einzuordnen, in welchem gesellschaftlichen Umfeld die Eröffnung der Photographischen Lehranstalt des Lette-Vereins stattfand und was daraus folgte, nämlich die Entscheidung für alternative und innovative Wege in der Ausbildung.

Die Photographische Lehranstalt des Lette-Vereins begann im ersten Wintersemester 1890/91 mit 13 Schülerinnen und 51 Kursen. Sowohl die Schülerinnen als auch die Kursangebote nahmen mit jedem Semester zu. Knapp 20 Jahre nach der Gründung besuchten 1909 bereits 194 Schülerinnen und 28 Amateurinnen die Anstalt. Neben den sogenannten Vollschülerinnen, also Schülerinnen, die sich für eine gesamte Ausbildung anmeldeten, besuchten seit 1890 auch immer wieder Amateurinnen die Photographische Lehranstalt für einzelne Lehrgänge.[11] Im Jahr 1902 war der Lette-Verein an seinen heutigen Standort gezogen, den Viktoria-Luise-Platz. Dort beanspruchte die Lehranstalt insgesamt 53 Räume. Für den praktischen Unterricht gab es sechs Ateliers, davon zwei Glasateliers, wie auf Abbildung 1 zu sehen ist. In den Glasateliers wurde mit natürlichem Licht gearbeitet. Auf der Fotografie sind Schülerinnen an der Kamera und bei der Retusche zu sehen. Im Raum befinden sich auch Büsten, mit deren Hilfe fotografische Übungen praktiziert wurden, sowie ein Spiegel für einen letzten prüfenden Blick vor der Aufnahme.

In einem großen zweiteiligen Zimmer sind mehrere junge Frauen in langen Kleidern zu sehen, die verschiedenen Tätigkeiten mit der Kamera nachgehen.

Abb. 1: Anonym: „Die Ateliers der Photographischen Lehranstalt. Dem Unterricht dienen 6 Ateliers, von denen im Bilde die durch eine Schiebetür zu trennende Glasateliers dargestellt sind. In diesen Ateliers finden auch alljährlich die Staatlichen Gehilfenprüfungen für Photographen und Photographinnen der Provinz Brandenburg statt.“ In: Der Lette-Verein und seine Unterrichtsanstalten, Berlin 1912; Lette Verein Berlin © https://easydb.lette-verein.de/#/detail/4f7022ce-0c23-435c-aae2-74c331881f5d [09.09.2023]

Neben den praktischen Unterrichtsräumen gab es auch einen Hörsaal, in dem Vorlesungen zu verschiedenen naturwissenschaftlichen Themen abgehalten wurden (Abb. 2).

In einem altmodischen Klassenzimmer sitzen junge Frauen in Holzbänken; vorne steht ein Mann an der Tafel.

Abb. 2: Anonym: „Photographische Lehranstalt. Hörsaal, in dem der theoretische Unterricht über Experimentalchemie, die photographischen Prozesse, Optik, Elektrizitäts-Lehre, Anatomie, Histologie etc. stattfindet.“ In: Der Lette-Verein und seine Unterrichtsanstalten, Berlin 1912; Lette Verein Berlin © https://easydb.lette-verein.de/#/detail/b4bf2247-5f1c-48a3-8ecc-f9d254ee63a4 [09.09.2023]

Im Laufe der Jahre wurden die Lehrpläne immer wieder angepasst. Es bildeten sich zwei Hauptzweige der Ausbildung heraus mit einer Art Grundausbildung als Basis. Am Beispiel einer Broschüre aus dem Jahr 1934,[12] die für die Ausbildung in der Photographischen Lehranstalt des Lette-Vereins warb, wird deutlich, dass eine fotografische Ausbildung weit mehr umfasste, als auf den ersten Blick angenommen:

 

Lehrgang I: Fachphotographie

Die Ausbildung in der Fachphotographie umfasste praktische Übungen, das Aufnehmen und Fertigstellen der Bilder, die Retusche (Kontrastverbesserung, Helligkeits- oder Schärfenkorrektur, Fleckentfernung etc.) und theoretische Vorlesungen, die in die Photochemie und fotografische Optik einführten. Absolvent:innen dieses Lehrgangs konnten vor allem als Fotograf:innen oder in einem Atelier tätig sein, aber auch in verwandten Gebieten wie bei der Reklame, im Theater, der Mode, dem Kunstgewerbe, der Industrie und Technik eingesetzt werden.

 

Lehrgang II: Wissenschaftlich technische Hilfsarbeit

(Technische Assistentin an wissenschaftlichen Instituten)

Dieser Lehrgang war der am höchsten frequentierte, denn er umfasste die Ausbildung zur Laboratoriums-, Röntgenassistentin sowie zur technischen Assistentin an veterinär-medizinischen Instituten bzw. in chemischen Betrieben.

Anhand der Röntgenfotografie lässt sich nachvollziehen, wie schnell neue Entwicklungen in den Unterricht aufgenommen wurden. Bereits kurz nach Entdeckung der „X-Strahlen“ durch Wilhelm Conrad Röntgen wurde die Ausbildung zur Röntgenograin ab 1896 in die Lehrpläne aufgenommen.[13] Als Anforderungen für die sogenannte fotografische Schwester wurden bestimmt: die Aufnahme sowie das Entwickeln und Fertigstellen des Röntgenbildes, die Herstellung von Kopien sowie die Anfertigung von Projektionsbildern für Vorträge. Die Absolventinnen mussten daher eine solide handwerkliche fotografische Ausbildung durchlaufen haben. Neben der fotografischen Ausbildung waren zudem Kenntnisse in Chemie und Physik, Anatomie und Physiologie gefragt.

Als zusätzliche Wahlfächer wurden Mikro- und Farbenphotographie sowie der Unterricht in mikroskopischer Technik, Parasitologie und Serologie angeboten. Eine technische Assistentin an wissenschaftlichen Instituten musste wissen, was sie fotografierte. Dementsprechend brauchte sie Zusatzqualifikationen: Sie sollte über den histologischen Bau des Körpers genau so viel wissen wie von Schnittmethoden und Färbemethoden der Gewebe. Abbildung 3 gibt Einblick in einen Unterrichtsraum, in dem mikroskopische Präparate hergestellt wurden.

Drei Frauen in langen Kleidern sitzen an Holztischen und arbeiten mit dem Mikroskop.

Abb. 3: Anonym: Photographische Lehranstalt, „Abteilung zur Ausbildung photographisch-wissenschaftlicher Hilfskräfte. Die im Bilde dargestellte Tätigkeit erstreckt sich auf Herstellung mikroskopischer Präparate, Untersuchungen von Blut, Harn, Sputum und Magensaft.“ In: Der Lette-Verein und seine Unterrichtsanstalten, Berlin 1912; Lette Verein Berlin © https://easydb.lette-verein.de/#/detail/ce8c46b3-ea8e-46aa-844f-67c63166b195 [09.09.2023]

Lehrgang III: Metallographie und Materialprüfung

Ein weiterer Zweig der Ausbildung in der Photographischen Lehranstalt war der der Metallographin und Materialprüferin, der 1905 eingeführt wurde. Abbildung 4 und 5 erlauben einen Einblick in die Arbeitsweise der Metallographin. In einem ersten Schritt wurde das zu untersuchende Metallstück mit einer Schleifmaschine so bearbeitet, dass es in einem zweiten Schritt durch chemische Behandlung unter dem Mikroskop untersucht und fotografiert werden konnte. Hauptfächer waren dementsprechend die Makro- (Nahaufnahmen der Struktur) und Mikrophotographie, also Aufnahmen unter einem Mikroskop, die die Strukturen und Zusammensetzungen des Materials offenbaren. Arbeitsfelder der Metallographin waren z.B. Großbetriebe der Metallindustrie.

 

Eine junge Frau im langen Kleid arbeitet an einem Tisch an einem Metallstück.

Abb. 4 Anonym: „Die Metallographin erzeugt auf einer Fläche des zu prüfenden Metallstücks mit Hilfe der elektrisch betriebenen Schleifmaschine Hochpolitur (linkes Bild) […])“, in: Der Lette-Verein und seine Unterrichtsanstalten, Berlin 1912; Lette Verein Berlin © https://easydb.lette-verein.de/#/detail/53fd4f46-510d-4b4f-ac92-f07cc1b46547 [09.09.2023].

Eine junge Frau in einem langen schwarzen Kleid macht ein Foto mit Hilfe eines Mikroskops.

Abb. 5 Anonym: „[…] um alsdann durch Aetzung auf der polierten Fläche mikroskopisch kleine Strukturformen zu erhalten und diese durch den mikroskopischen Apparat bildlich festzulegen (rechtes Bild)“, in: Der Lette-Verein und seine Unterrichtsanstalten, Berlin 1912; Lette Verein Berlin © https://easydb.lette-verein.de/#/detail/1db6db9f-2923-47f6-a9e9-05ce5cb78f03 [09.09.2023].

 

Die Schülerinnen hatten zudem die Möglichkeit, Zusatzlehrgänge zu besuchen. Seit 1914 wurde der Lehrgang Kinematographie angeboten, der die gesamte Apparatetechnik zur Aufzeichnung und Wiedergabe von fotografischen Bewegtbildern umfasste. Seit 1928 kam die Herstellung von Moulagen hinzu, farbige dreidimensionale und lebensgroße Abformungen von Körperteilen zur naturnahen Wiedergabe menschlicher Krankheitsbilder. Weiter gab es Zusatzlehrgänge in der Fotomontage, in der Reportage und Reklame – Bereiche, die gerade mit dem Aufkommen der zahlreichen Illustrierten immer interessanter wurden und wieder neue Tätigkeiten möglich machten. Und es gab einen Lehrgang für „Freunde der Photographie“, der meist künstlerisch ausgerichtete Verfahren beinhaltete.

Absolventinnen der Photographischen Lehranstalt waren technisch hervorragend ausgebildete Fachkräfte, die gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt hatten und – auch häufig schon vor Abschluss ihrer Prüfungen – „abgeworben“ wurden.[14] Aus der Photographischen Lehranstalt heraus entstanden neue Berufszweige, die es auch heute noch gibt, wie z.B. der Beruf der MTA, der medizinisch-technischen Assistentin. Diese hatten mit der allgemein bekannten Portraitfotografie nichts mehr zu tun, fußten aber alle auf fotografischer Technik.

Alle Absolvent:innen waren mit den Grundlagen fotografischer Verfahren vertraut, auf denen dann ihre Spezialausbildungen aufbauten. Die in der Forschung gängige überproportionale Betonung von sogenannten Fachphotographinnen, die selbstständig z.B. im Portraitbereich arbeiteten, machten nur etwa ein Drittel der Absolvent:innen aus.[15] Die Ausbildung im Bereich der wissenschaftlichen Fotografie schien aufgrund der späteren Erwerbsmöglichkeiten eine größere Anziehung auf die Schüler:innen auszuüben.

Die geplante Studie versteht sich als ein Beitrag zur Fotografiegeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und auch als „Teilstück der Berliner Fotografiegeschichte“[16] im Speziellen durch die Betrachtung einer Berliner Institution sowie als Teil der Frauenerwerbsgeschichte. Der fokussierte Zeitraum beginnt im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und endet Anfang der 1930er Jahre. Die Betrachtung der Zwischen- und Nachkriegszeit sowie ein Ausblick auf die heutige fotografische Ausbildung am Berliner Lette-Verein runden die Arbeit ab und erlauben einen Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Das Dissertationsprojekt löst sich von der Wiederentdeckung einzelner Fotografinnen und deren Einbindung in die Geschichte der Fotografie, wie ab den 1970er Jahren im Zuge der Frauenforschung, und fokussiert sich auf die Entwicklung der Fotografie zu einem institutionalisierten Ausbildungsfach für Frauen und Männer mit Schwerpunkt auf der Photographischen Lehranstalt des Berliner Lette-Vereins. Bisher wurde die Photographische Lehranstalt nur über vereinzelte, vereinseigene Archivalien beschrieben, die geplante Studie verortet sie in einem öffentlichen Diskurs um die Professionalisierung und Standardisierung einer fotografischen Ausbildung.

Es ist nicht gering zu bewerten, dass die erste Ausbildungsanstalt im Bereich der Fotografie in Deutschland nur Frauen zugänglich war. Eine gleichwertige Ausbildung für Männer wurde vielfach früher schon gefordert und institutionalisierte sich 1900 parallel zur Gründung in Berlin mit der Eröffnung der Münchner Lehr- und Versuchsanstalt.[17]

Seit 1910 stand die Photographische Lehranstalt in Berlin auch männlichen Schülern offen, ein absolutes Novum für den Verein, der sich auf die Ausbildung von Frauen spezialisiert hatte. Der Lette-Verein reagierte damit auf eine Forderung des Ministeriums für Handel und Gewerbe, den Unterricht für beide Geschlechter zu öffnen. Laut Marie Kundt, eine der ersten Schülerinnen der Photographischen Lehranstalt, Assistentin des ersten Direktors Dankmar Schultz-Hencke und später (stellvertretende) Direktorin, „ein einzigartiger Schritt, da damit zum ersten Male eine für Frauen bestimmte Schule auch Männern zugute kommen sollte“.[18]

Es wurde eine eigene Abteilung gegründet, die mit elf Schülern im ersten Semester startete. Seit dieser Neuorganisation war die Lehranstalt zu einer technischen Mittelschule geworden, „Lehr- und Versuchsanstalt für Bildnisphotographie, wissenschaftliche Photographie und photomechanische Verfahren“, die es möglich machte, nach zweijährigem Besuch das Gehilfenexamen vor der Handwerkskammer abzulegen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es nur ein Zeugnis über erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten gegeben.

Die Photographische Lehranstalt des Lette-Vereins war Vorbild für viele weitere Gründungen ähnlicher Institute, so bereits ein Jahr nach ihrer Eröffnung für die 1891 gegründete Lehranstalt für Photographie des Frauenbildungsvereins in Breslau. Aber auch im Ausland hatte die Anstalt einen guten Ruf. So wurden Vertreter:innen aus Zürich und St. Petersburg nach Berlin geschickt, um sich vor Ort über die Organisation und den Inhalt der Lehrpläne zu erkundigen und diese dann bei sich zu Hause umzusetzen.

Besonders unter der Direktorin Marie Kundt, die die Lehranstalt bis zu ihrem Tod 1932 leitete, hatte sie sich zu einer zentralen Anlaufstelle für Fotograf:innen aus aller Welt entwickelt. Stellvertretend dafür steht folgendes Zitat aus dem Brief eines Fotografen an Marie Kundt, das nicht nur zeitgenössische Zuschreibungen und „Merkmale“ des männlichen und weiblichen Geschlechts zum Ausdruck bringt, sondern auch eine Anerkennung der Leistungen der Photographischen Lehranstalt auf dem Gebiet der Ausbildungsmöglichkeiten in der Fotografie – vor allem für Frauen:

„Es gibt so manchen Fachmann, der recht griesgrämlich dreinschaut, wenn er feststellen muss, daß ihm die Damen eine unbequeme Konkurrenz machen. Wie man sich auch zu der Entwicklung in unserem Gewerbe, besonders im Bildnisfach stellen mag, unbedingt notwendig ist es für das schwache Geschlecht zum Wettkampf mit dem starken gut gerüstet zu sein. Hierbei waren Sie der Waffenschmied, wofür Ihnen in erster Linie Ihre Mitschwestern zu danken haben. Aber auch wir Männer haben Ihnen zu danken, denn gute Leistungen auf der Grundlage einer guten Schulung können dem Ansehen unseres Standes nur förderlich sein.“[19]

 

 

[1] Vorausgegangen war der Gründung die Eingabe der Denkschrift „über die Eröffnung neuer und die Verbesserung der bisherigen Erwerbsquellen für das weibliche Geschlecht“ aus dem Jahr 1864 durch Wilhelm Adolf Lette an den Vorstand und Ausschuss des Centralvereins in Preußen für das Wohl der arbeitenden Klassen, online unter https://www.digitale-bibliothek-mv.de/viewer/fullscreen/PPN667362444/21/LOG_0002/ [09.09.2023]. Eine Kommission empfahl im November 1865 die Annahme des Gesuchs.

[2] Der Bazar, 23.10.1862, S. 308, zit. n. Barbara Krautwald, Bürgerliche Frauenbilder im 19. Jahrhundert. Die Zeitschrift „Der Bazar“ als Verhandlungsforum weiblichen Selbstverständnisses, Bielefeld 2021, S. 176.

[3] Die Quellenbasis des Dissertationsprojekts sind u.a. die Jahresberichte des Lette-Vereins sowie zeitgenössische Publikationen, die anlässlich von Jubiläen oder besonderen Ereignissen, wie dem Internationalen Frauenkongress, der 1904 in Berlin stattfand, angefertigt wurden. Siehe u.a. Lette-Verein (Hg.), Der Lette-Verein. Eine Darstellung in Bild und Wort gewidmet den Teilnehmerinnen des Internationalen Frauen-Kongresses, Berlin 1904; Milly H. Cossmann, 50 Jahre Lette-Verein. 1866-1916. Bericht verfaßt im Auftrage des Vorstandes des Lette-Vereins, Berlin 1916.

[4] Siehe Lilly Hauff (unter Mitarbeit von Elli Lindner), Der Lette-Verein in der Geschichte der Frauenbewegung. Eine Chronik, Berlin 1928, S. 93.

[5] Vgl. Richard Stettiner, Zur Vorgeschichte. Stettiner-Stiftung, in: Die Photographische Lehranstalt des Lette-Vereins. Eine Erinnerungsschrift 1890-1900, Berlin 1901, S. 5-9.

[6] Siehe u.a. Maren Gröning/Ulrike Matzer (Hg.), Joseph Maria Eder. Photographie als Wissenschaft. Positionen um 1900, München 2013; dies., Frame and Focus. Photography as a Schooling Issue, Wien 2015.

[7] Siehe Jenny Hirsch, Festschrift zur 25jährigen Jubiläumsfeier des Lette-Vereins 1866-1891, Berlin 1891, S. 90.

[8] Richard Stettiner, Zur Vorgeschichte. Stettiner-Stiftung, in: Die Photographische Lehranstalt des Lette-Vereins. Eine Erinnerungsschrift 1890-1900, Berlin 1901, S. 5-9.

[9] So Friedrich W. Schroeder, „Photograph für Industrie und Architektur, Heim-, Sport- und Landschaftsaufnahmen“, aus Hamburg in einem Brief an Marie Kundt, in: Glückwunschbuch zum 60. Geburtstag von Marie Kundt am 4. Februar 1930; Archiv Lette-Verein: LV_Archiv_A_0_27_02_001.

[10] Bereits erschienene Publikationen, die die Photographische Lehranstalt thematisieren, gehen meist nicht über eine isolierte Betrachtung der Lehranstalt hinaus: Vgl. Doris Obschernitzki, „Der Frau ihre Arbeit!“ Lette-Verein. Zur Geschichte einer Berliner Institution 1866 bis 1986, Berlin 1987, online unter https://archive.org/details/derfrauihrearbei0000obsc [09.09.2023]; Doris Obschernitzki/Karin Weber-Andreas, Im Blick die Fotografin … aber was noch? Frauenberufe im Lette-Verein 1866-1982, Berlin 1991; Katharina Hausel/Frank Schumacher, „Die dunkle Kammer“ – 120 Jahre Photographische Lehranstalt am Berliner Lette-Verein, in: Rundbrief Fotografie. Digitale Bildmedien in Archiven und Sammlungen 18 (2011), H. 4, S. 4-8.

[11] Siehe Rechenschafts-Berichte (Jahresberichte) des Lette-Vereins ab 1890. Im Großteil online einsehbar über die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena: https://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jpjournal_00001227?XSL.referer=jportal_jpvolume_00226544 [09.09.2023].

[12] Lette-Verein Berlin (Hg.), Photographische Lehranstalt des Lette-Vereins, Berlin 1934.

[13] Bereits im Jahresbericht 1898 wird über eine Absolventin gesprochen, die nach Abschluss ihrer Ausbildung eine Anstellung im Eppendorfer Krankenhaus bei Hamburg antrat, um dort ausschließlich Röntgenaufnahmen anzufertigen (siehe Jahresbericht 1898, S. 9).

[14] Informationen über Absolventinnen finden sich in den Rechenschafts-Berichten (Jahresberichten) des Lette-Vereins, siehe z.B. Jahresbericht 1906, S. 17f.

[15] Siehe. Cossmann: 50 Jahre Lette-Verein, S. 82.

[16] Zitiert nach Jeanne E. Rehnig, Das „Photographische Atelier“ im Warenhaus. Fotografie bei A. Wertheim (1898-1933) und Wolf Wertheim (1909-1914), Würzburg 1999, S. 11.

[17] 1895 eröffnet in Berlin unter der Leitung von Dankmar Schultz-Hencke, Direktor der Photographischen Lehranstalt, eine Fachschule für Fotografen. Gründungen kleinerer Fachschulen sind in den Quellen immer wieder zu finden.

[18] Manuskript von Marie Kundt zum 40-jährigen Bestehen der Photographischen Lehranstalt, Berlin 1930, Archiv Lette-Verein.

[19] Friedrich W. Schroeder „Photograph für Industrie und Architektur, Heim-, Sport- und Landschaftsaufnahmen“ aus Hamburg in einem Brief an Marie Kundt, in: Glückwunschbuch zum 60. Geburtstag von Marie Kundt am 4. Februar 1930; Archiv Lette-Verein: LV_Archiv_A_0_27_02_001.

 

 

 

Zitation


Anne Vitten, „Unbequeme Konkurrentinnen.“ Die frühe fotografische Ausbildung von Frauen im Berliner Lette-Verein ab 1890, in: Visual History, 19.09.2023, https://visual-history.de/project/vitten-unbequeme-konkurrentinnen-lette-verein-berlin/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2626
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