Dokumentation und Demütigung:
Judenverfolgung in Amateurfilmen aus dem nationalsozialistischen Wien 1938
Es sind Bilder einer Euphorie, die die nationalsozialistische Berichterstattung über den „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland im März 1938 bestimmten. Bilder jubelnder Menschen, deren Willkommensgesten den Einmarsch der deutschen Wehrmacht legitimieren sollten.[1] Dieses für Fotos und Filme der NS-Propaganda charakteristische Motiv einer begeisterten österreichischen Bevölkerung ist auch in Amateurfilmen zu finden.[2] Die Amateure und Amateurinnen stellten – neben Aufnahmen von mit Hakenkreuzfahnen überschwemmten Städten und Bildern Hitlers im Mercedes – diverse Aufnahmen von der euphorischen NS-Anhängerschaft her.[3] Auch wenn sich ihre Filme auf den ersten Blick nur unwesentlich von den Bildern des Regimes unterscheiden, folgen sie doch einer anderen Darstellungslogik und bieten so einen differenzierteren Eindruck von den Ereignissen.
Gegenbilder, welche die offiziellen Darstellungen korrigieren könnten, sind allerdings selten, doch es gibt sie. Es sind Bilder vom destruktiven Potenzial der nationalsozialistischen Herrschaft, das sich unmittelbar nach dem „Anschluss“ zu entfalten begann. Bilder von der Zerstörung jüdischen Lebens, die im Zentrum des folgenden Beitrags stehen. Die Materialbasis dafür bilden drei Filmdokumente aus dem Jahr 1938 mit Aufnahmen aus Wien, produziert von Amateuren und Amateurinnen unterschiedlicher Herkunft. Sie wurden im Projekt „Ephemere Filme: Nationalsozialismus in Österreich“, das die Gegenüberstellung von offiziellen und für den privaten Gebrauch produzierten Filmen aus der NS-Zeit zum Ziel hatte, digitalisiert und öffentlich zugänglich gemacht.[4] Alle drei Filme sind auf der im Rahmen des Projekts entwickelten Online-Plattform zu sehen, die sich der medienakkuraten Präsentation von digitalisierten Filmmaterialien verpflichtet hat.[5]
Der Amateurfilm als kulturelle Praxis
In Anlehnung an die Medienwissenschaftlerin Alexandra Schneider kann die Amateurkinematografie als eine kulturelle Praxis verstanden werden, die bestimmte Formen der Produktionstätigkeit, des von ihr sogenannten filmischen Texts und der Rezeption vereinte und verschiedene, soziale wie künstlerische, Funktionen erfüllte.[6] Der Begriff des Amateurfilms umfasst alle möglichen Genres nicht kommerzieller Filmproduktion: Familien- und Urlaubsfilme ebenso wie Reportagen von politischen Ereignissen bis hin zu Werbe- und Imagefilmen sowie handlungsbasierten Spielfilmen, die entweder für den privaten Familien- und Freundeskreis oder für ein halb-öffentliches Publikum im Kontext von verschiedenen Vereinen und Organisationen bestimmt waren.
Der Amateurfilm hat seine Anfänge bereits in den 1910er Jahren, konnte sich in Europa jedoch erst in den 1930er Jahren etablieren.[7] Aufgrund der hohen Kosten, die für Filmausrüstung, Material und Entwicklung anfielen, war die Amateurkinematografie zunächst einem wohlhabenderen, bürgerlichen Milieu vorbehalten – im Gegensatz zur privaten Fotografie, die in den 1930er Jahren bereits massenhaft Verbreitung fand.[8] Da die Produktion von Amateurfilmen sehr teuer war, ist es naheliegend, dass insbesondere die weniger vermögenden Amateure und Amateurinnen gewissenhaft auswählten, was sie auf Film festhalten wollten.
Der Amateurfilm ist als spezifische Ausdrucks- und Kommunikationsform zu verstehen, die es den Filmschaffenden ermöglichte, sich auf das gesellschaftliche Umfeld zu beziehen, dieses zu kommentieren und eigene Positionen zu verhandeln.[9] Auch bei dokumentarischen Aufnahmen, die Momente des persönlichen Lebens der Filmemacher und Filmemacherinnen zeigen, handelt es sich nicht um bloße Abbildungen der Lebensrealität, sondern vielmehr um „Aussagen über die Welt“ und über den sozialen Zusammenhang, innerhalb dessen sie entstanden sind.[10]
Über die Filmaufzeichnung wiesen die Amateure und Amateurinnen bestimmte Ereignisse als etwas Besonderes und Erinnerungswürdiges aus. Über die Motivwahl und die formale Gestaltung wiederum stellten sie die gefilmten Ereignisse in subjektiver Weise dar und verliehen ihnen so eine spezifische Bedeutung. Auch wenn die Filmenden aufgrund der Kontingenz der sozialen Situation, in der sie filmten, nicht die volle Kontrolle über die Bilder ausübten, behaupteten sie eine gewisse Autorität über die Aufnahmen, die über die Montage im Zuge der Postproduktion abermals bekräftigt wurde. Dabei handelte es sich um eine gängige Praxis der frühen Amateurkinematografie. Viele Amateure und Amateurinnen edierten ihre Aufnahmen, versahen sie mit Titelbildern, Credits und Zwischentiteln.[11]
Bisher konnten nur wenige, in Österreich gedrehte Amateurfilme aus der Zeit des Nationalsozialismus ausfindig gemacht werden, die Judenverfolgung zeigen. Dieser Umstand lässt sich nicht ausschließlich mit der lückenhaften Überlieferung von lebensgeschichtlichen Quellen, wie sie Amateurfilme darstellen, erklären. Er ist auch Ausdruck der typischen Gebrauchsweisen der Amateurfilmtechnologie. Schließlich wurde diese von Beginn an vorwiegend zur Aufzeichnung glücklicher Lebensmomente genutzt.[12] Die Inhaltsanalyse von mehr als 100 österreichischen Amateurfilmen legt nahe, dass sich dies auch unter nationalsozialistischer Herrschaft nicht änderte.[13]
Von Seiten des Regimes gab es kein explizites Verbot, die Verfolgung von Juden und Jüdinnen zu filmen. Prinzipielle Aufnahmeverbote oder Beschränkungen bestanden nur für wenige Bereiche und Motive, wie etwa für militärische Einrichtungen und übende Truppenteile, Luftaufnahmen, staats- und parteipolitische Veranstaltungen oder die NSDAP und ihre Gliederungen.[14] Es ist nicht anzunehmen, dass alle Amateure und Amateurinnen die Gesetzeslage genau kannten. Wahrscheinlicher ist, dass sie jeweils spontan einschätzten, ob die Situation, in der sie sich befanden, eine Aufnahme zulassen würde oder ihnen der Kameraeinsatz vielleicht Probleme einbringen könnte.
Im Folgenden sollen Amateuraufnahmen von der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung Wiens im Detail untersucht werden. Gegenstand meiner Analyse sind die konkreten Produktionskontexte der Bilder. Wann, wo und unter welchen Bedingungen sind sie entstanden? Außerdem frage ich nach den impliziten Funktionen des Kameraeinsatzes im Rahmen der sozialen Situationen, die hier aufgezeichnet wurden. Welchen Effekt hatte die Kamera auf die gefilmten Personen? Diese akteurszentrierte Herangehensweise wird um eine medienzentrierte Perspektive ergänzt, die den Film als eigenständiges kulturelles Artefakt ernst nimmt, das Lesarten evoziert, die über die unmittelbaren Absichten der Produzenten und Produzentinnen hinauszugehen vermögen.[15] Welche Funktion kommt den Aufnahmen in ihrem szenischen und filmischen Zusammenhang zu? Welche Deutungen legen die Filme nahe? Und schließlich: Welche Erkenntnisse lassen sich für die Erforschung filmischer und fotografischer Darstellungen von Judenverfolgung gewinnen?
Gegenbilder oder: Dokumentation und Widerstand
Bemerkenswerte Aufnahmen von der Verfolgung der Wiener Juden und Jüdinnen finden sich in folgendem Film mit dem Titel „1937-38 Austria, Family and Hitler“[16]. Dabei handelt es sich um den knapp 17 Minuten langen Amateurfilm des nicht-jüdischen, aus den Vereinigten Staaten stammenden Ehepaares Ross und Helen Baker. Aufgrund eines Forschungsaufenthalts von Ross an der Universität Wien lebten die Bakers mit dreien ihrer fünf Söhne von Ende Oktober 1937 bis Ende April 1938 in Wien.[17]
Der Film enthält neben wenigen für Reise- und Urlaubsfilme typischen Sujets größtenteils Aufnahmen, die im März und April 1938 entstanden sind und verschiedene Eindrücke von dem politischen Geschehen und der Stimmung in der Wiener Bevölkerung während des „Anschlusses“ Österreichs an Hitler-Deutschland bieten. Zu sehen sind u.a. die Parade der deutschen Wehrmacht entlang der Wiener Ringstraße, Hitler im Mercedes und am Balkon des Hotel Imperial, die jubelnden NS-Sympathisanten und NS-Sympathisantinnen am Wiener Heldenplatz und die unzähligen Plakate, Fahnen und Girlanden, die das Stadtbild Wiens im Vorfeld der „Volksabstimmung“ prägten.[18] Auffallend dabei ist das Interesse der Bakers für die Tausende von Menschen, die in die Wiener Innenstadt strömten, um die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich zu feiern. Neben zahlreichen Bildern eines euphorischen, die Hand zum nationalsozialistischen Gruß erhobenen Publikums enthält der Film eine Reihe von Szenen, die jene Bilder des Jubels konterkarieren. Es handelt sich um Aufnahmen, die auf die Verfolgung des jüdischen Bevölkerungsteils von Wien verweisen.
Noch bevor der „Anschluss“ formalrechtlich vollzogen war, kam es in Wien zu schweren Übergriffen auf Juden und Jüdinnen, nicht nur durch überzeugte Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen, Mitglieder der SA und der Hitlerjugend, sondern auch durch Personen, die sich aus Politik bislang wenig gemacht hatten.[19] Die antisemitischen Ausschreitungen dauerten mehrere Wochen.[20] Sie erlangten ein Ausmaß, das es in NS-Deutschland bisher nicht gegeben hatte.[21] Juden und Jüdinnen wurden auf offener Straße gedemütigt und misshandelt; ihre Geschäfte und Warenhäuser verwüstet, geplündert oder im Zuge „wilder“, d.h. gesetzlich nicht legitimierter, „Arisierungen“ beschlagnahmt.[22] Parteimitglieder und SA-Männer drangen in Privatwohnungen ein, raubten Geld und Wertsachen, zerstörten die Einrichtung und führten reihenweise „wilde Verhaftungsaktionen“ durch.[23] Eine weitere Variante der Verfolgung im Zuge des sogenannten Umsturz-Pogroms[24] stellte der „Boykott“ jüdischer Gewerbetreibender dar, den die Bakers in ihrem Film dokumentierten.
Zunächst sind verschiedene Geschäftslokale u.a. an der Linken Wienzeile im 6. Wiener Gemeindebezirk zu sehen, die über Beschmierungen als jüdisch markiert wurden, um sie darüber aus dem Wirtschaftsleben auszuschließen. Die nächste Szene zeigt, wie eine Frau anlässlich der Anbringung eines kleinen Schildes das Schaufenster eines Fotogeschäfts in der Währinger Straße im 9. Bezirk reinigt. Sie wird dabei von einem Mann unterstützt bzw. angeleitet. Es handelt sich hier vermutlich um den Eigentümer und die Eigentümerin des Betriebs, vielleicht aber auch um Angestellte. Nachdem die Vitrine wieder verschlossen wurde, treten die Bakers nahe heran, um eine Großaufnahme des angebrachten Schildes anzufertigen. Die Aufschrift „NICHT ARISCHES GESCHÄFT“ lässt sich aufgrund der Unschärfe der Aufnahme allerdings nur erahnen.
Darauf folgen Bilder eines geschlossenen Betriebs mit heruntergelassenen Rollläden. Aufnahmen des Straßenschildes zeigen, dass sich das Geschäft in der Judengasse im 1. Bezirk befindet. Bei den Bildern handelt es sich vermutlich nicht nur um eine bloße Ortsangabe. Die Entscheidung, die Straßentafel mit der Aufschrift „Juden Gasse“ zu filmen, kann zugleich als Reflexion darüber gelesen werden, dass Juden und Jüdinnen einen integralen Bestandteil der Wiener Gesellschaft bildeten.
Die folgenden Aufnahmen zeigen Menschenansammlungen in der benachbarten Seitenstettengasse, in der sich noch heute der Hauptsitz der Israelitischen Kultusgemeinde und der Stadttempel, die Hauptsynagoge von Wien, befinden. Nach Razzien durch Gestapo und SS kam es am 18. März 1938 zur Schließung der Kultusgemeinde, einer Körperschaft öffentlichen Rechts, die das Repräsentations- und Verwaltungsorgan der jüdischen Gemeinde Wiens bildete. Diese wurde zwar im Mai 1938 wiedereröffnet, unterstand von nun an allerdings direkt dem Sicherheitsdienst der SS und der Gestapo.[25] Zu sehen sind wartende und miteinander ins Gespräch vertiefte Personen, vermutlich jüdische Wiener und Wienerinnen. Die Szenen vermitteln Ratlosigkeit und Verunsicherung.
Es folgen Aufnahmen eines geschlossenen Geschäfts, wieder in der Judengasse. Ein Tagebucheintrag von Helen Baker legt nahe, dass sie am 17. März 1938 entstanden sind.[26] Da die Szene mit Bildern von der Juden- und Seitenstettengasse nur eine Klebestelle aufweist und ansonsten in der Kamera geschnitten wurde (durch Ein- und Ausschalten), ist anzunehmen, dass auch die Aufnahmen in der Seitenstettengasse, die sich in unmittelbarer Nähe zur Judengasse befindet, an demselben Tag, also kurz vor Schließung der Kultusgemeinde, gedreht wurden.
Die nächsten beiden Einstellungen zeigen zwei sogenannte Wachposten an unterschiedlichen Orten in der Währinger Straße, diesmal im 18. Bezirk. Dabei handelte es sich um uniformierte Nationalsozialisten, häufig SA-Männer, die vor Geschäften jüdischer Eigentümer und Eigentümerinnen positioniert waren, um „arische“ Kundschaft davon abzuhalten, die jeweiligen Läden zu betreten. Die vermeintlich friedvollen Wachposten ließen den „Boykott“ als legitime und geordnete Aktion erscheinen, im Gegensatz zur gewaltsamen Verunstaltung der Geschäftsfassaden durch antisemitische Schmierereien.[27] Während der erste Wachposten aus etwas weiterer Entfernung aufgenommen wurde, gehen die Bakers an den zweiten SA-Mann näher heran, filmen dabei allerdings verdeckt.
Die Sequenz endet mit Aufnahmen von einer Vielzahl an Personen, vermutlich Juden und Jüdinnen, die vor dem magistratischen Bezirksamt Währing im 18. Wiener Gemeindebezirk anstehen, wohl um Papiere für die bevorstehende Ausreise zu besorgen. Die anwesenden Nationalsozialisten, erkennbar an ihrer Uniform, dürften eine kontrollierende Funktion ausgeübt haben.
Die „Boykott“-Sequenz weist – so wie der gesamte Film – mehrere Klebestellen auf. Wie für ambitionierte Amateure und Amateurinnen üblich, schnitten die Bakers das Filmmaterial nach seiner Herstellung und montierten die Aufnahmen. Diese sind also nicht zwingend chronologisch. Über die Montage der verschiedenen Szenen, die an relativ weit auseinanderliegenden Orten Wiens aufgenommen wurden, wird deutlich, dass es sich bei der Blockade von Betrieben in jüdischem Besitz nicht um ein singuläres Phänomen handelte, sondern um eine stark verbreitete, die Stadt massiv prägende Praxis. Geschäfte, Restaurants und Kaffeehäuser von Juden und Jüdinnen wurden in allen Bezirken mit antisemitischen Aufschriften versehen. Eine Fotoserie des Pressefotografen Albert Hilscher vom März 1938, aufgenommen in der Heinestraße, im 2. Wiener Bezirk, dokumentiert, dass die Verfolgten die diskreditierenden Schmierereien mitunter selbst anbringen mussten.[28] Auch Helen Baker hielt in einem Tagebucheintrag vom 25. April 1938 fest, dass ihr Ehemann beobachtet habe, wie ein Jude dazu gezwungen worden sei, seinen Laden zu beschmieren.[29]
Die Verfolgung jüdischer Gewerbetreibender setzte unmittelbar nach dem „Anschluss“ ein. In Folge des offiziellen „Boykott“-Aufrufs der NSDAP am 22. und 23. April kam es zu einem erneuten Anstieg antisemitischer Ausschreitungen.[30] Das Datum war nicht zufällig gewählt, handelte es sich doch um das Ende der Pessach-Feiertage. Zeitzeugenberichte und Fotos belegen, dass Juden und Jüdinnen vor eigenen und anderen Geschäftslokalen stehen oder in deren Auslagen sitzen mussten, um Schilder zu präsentieren, die zum „Boykott“ des jeweiligen Geschäfts aufriefen.[31] Die Praxis uniformierter Nationalsozialisten, die sich vor Läden positionierten, um „arische“ Kunden und Kundinnen am Eintritt zu hindern, erfüllte einen ähnlichen Zweck. Die Bakers hielten derartige „Boykott“-Maßnahmen nicht nur auf Film fest, Helen Baker berichtete auch in einem Brief vom 1. Mai 1938 von mehreren Begegnungen mit den sogenannten Wachposten:
„Before the election the drive against the Jews was bad, but as soon as the vote was in, they really began to put the screws on. On the last Saturday that we were there, a Nazi was stationed in front of every Jewish store to prevent Aryans going in. We ran several experiments knowing that, as Americans, we could go wherever we chose. They stopped us, asked if we were Aryan and then informed us that it was a Jewish store. With one exception, it was sufficient to say that we were ,Ausländer‘, but this man was downright mean and threatened to arrest me if I went in. It was too close to our departure to take any chances, but I certainly was tempted to call his bluff, for of course he had no right to stop me.“[32]
Die Aktion, über die Helen Baker hier schreibt, dürfte an jenem 23. April, einem Samstag, stattgefunden haben. Ihr Brief gibt, so wie die Filmaufnahme auch, Aufschluss über den Handlungsspielraum ausländischer Staatsangehöriger, sich den nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen zu widersetzen. Die Szene, in der Helen Baker selbst von einem SA-Mann am Eintritt in ein Geschäftslokal gehindert wird, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Einerseits bildet sie das direkte Gegenstück zur Fotopraxis der Nationalsozialisten in Deutschland, die Personen beim Betreten oder Verlassen von Geschäften in jüdischem Besitz fotografierten, um Druck auf diese auszuüben oder sie unter Verwendung des Fotos als Beweisstück als Volksverräter bzw. Volksverräterin zu brandmarken.[33] Andererseits verdeutlicht sie das Engagement der Bakers, den „Boykott“ zu dokumentieren.
Ross Baker positionierte sich mit der Kamera seitlich des Eingangs, sodass beste Sicht auf Helen Baker und den SA-Mann geboten war, dieser den Filmapparat aber nicht sofort entdeckte. Die Aufnahmen entstanden also nicht spontan, sie dürften auf Vorabsprachen zwischen dem Ehepaar beruhen. Vermutlich wollten die Bakers ihre Erfahrungen, von denen auch in Helen Bakers erwähntem Brief zu lesen ist, nochmals für ihren Film nachstellen. Daher ist es wahrscheinlich, dass Helen Baker die Reaktion des SA-Mannes für den Film herausforderte, indem sie versuchte, in das Geschäft einzutreten. Wir sehen, wie sie rechts von ihm stehen bleibt, sodass er der Kamera den Rücken zuwenden muss, um sie am Eintritt in das Lokal zu hindern. Die Bakers scheinen sich darum zu bemühen, die Kamera vor dem SA-Mann zu verbergen, vermutlich um sein Verhalten nicht zu beeinflussen, vielleicht aber auch, um ihn nicht zu provozieren. Schließlich konnten sie nicht wissen, wie der SA-Mann auf die Kamera reagieren würde; ob er es gestatten würde, ausgerechnet von Personen, die sich dem „Boykott“ zu widersetzen versuchten, gefilmt zu werden, ob er die Aufnahme verhindern oder ihnen die Kamera gar wegnehmen würde, möglicherweise unter Gewaltanwendung. Die Wahrscheinlichkeit des letzten Szenarios lässt sich schwer bestimmen.
Eine rechtliche Grundlage dafür, die Aufnahmen zu verbieten, hätte der SA-Mann jedenfalls nicht gehabt.[34] In Berlin wurde jedoch ein deutscher Kameramann von einem SA-Mann attackiert, als er den „Boykott“ jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 filmte.[35] Dies verdeutlicht, dass mit solchen Aufnahmen auch ein gewisses Risiko einherging. Am Ende der Szene läuft Helen Baker auf die Kamera zu, der SA-Mann im Hintergrund blickt ihr hinterher. Ob er die Kamera dabei entdeckte, ist anhand der Aufnahme nicht zu erkennen. Die Szene endet hier.
Die Bilder von geschlossenen, beschmierten oder von SA-Posten bewachten Geschäften veranschaulichen die Zerstörung jüdischer Gewerbetätigkeit. Sie erbringen die visuelle Evidenz, nicht nur für die Verfolgung der Wiener Juden und Jüdinnen, sondern auch für das widerständige Verhalten der Bakers. In ihrem filmischen Zusammenhang erfüllen sie so die Funktion eines kritischen Kommentars zu den zuvor gezeigten Bildern von der jubelnden NS-Anhängerschaft.
Auch im folgenden Filmbeispiel mit dem Archivtitel „Monson Collection: Vienna, 1938“[36] avanciert die Kamera zum Instrument einer Beweisführung. Es handelt sich dabei um 16mm-Aufnahmen, gedreht von Lafayette P. Monson, einem US-amerikanischen Arzt, der zwischen Juli und Oktober 1938 eine Weltreise unternahm.[37] Seine Eindrücke hielt Monson auf Kodachrome, also in Farbe fest. Er produzierte mehrere Stunden Filmmaterial. Auf der zweiten Filmrolle befindet sich – neben Aufnahmen aus Rom, Venedig, Budapest, Belgrad, Bukarest, Sofia und Istanbul – eine kurze, 47 Sekunden dauernde Sequenz, die Monson in Wien drehte.
Auf eine statische Aufnahme vom Eingang des Ambulatoriums der Universitätsklinik für Ohren-, Nasen- und Kehlkopfkrankheiten im 9. Bezirk folgen Szenen, die die Verfolgung der Wiener Juden und Jüdinnen dokumentieren. Sie zeigen ein riesiges Plakat der antisemitischen Wochenzeitung „Der Stürmer“ vor der Wiener Staatsoper und damit die starke Präsenz antisemitischer Propaganda sowie verunstaltete Geschäfte in der Leopoldstadt, dem 2. Bezirk Wiens, in dem viele Juden und Jüdinnen lebten.
Das „Stürmer“-Plakat rückte die Staatsoper als eines der wichtigsten Wahrzeichen der Stadt Wien in einen neuen Bedeutungskontext. Aufgrund seiner Platzierung vor dem Opernhaus musste es viele Betrachtenden an den Ausschluss jüdischer Künstler und Künstlerinnen aus dem Kulturbetrieb erinnern.[38]
Im Vergleich zu jenen Schmierereien, die in den darauffolgenden Einstellungen zu sehen sind, muten die bemalten Geschäftsauslagen im Film der Familie Baker fast harmlos an. Unter den Beschmierungen, die Monson festhielt, finden sich neben verschiedenen Ausprägungen des Schriftzugs „Jude“ auch Judensterne und antisemitische Karikaturen. Auf der Fassade eines Schirmgeschäfts sind zudem die Worte „Nach Dach[au]“ zu erkennen. Über das langsame Abtasten der Schaufenster und Geschäftsfronten mit der Kamera, das jedes Detail der Schmierereien enthüllt, schuf Monson ein visuelles Dokument von der Verfolgung der Wiener Juden und Jüdinnen. Heute sind die im Sommer 1938 entstandenen Bilder Beweis dafür, dass es in Wien noch Monate nach dem „Anschluss“-Pogrom und Monate vor dem Novemberpogrom solche antisemitischen Schmierereien gab.
Der Bedeutungsgehalt der Aufnahmen lässt sich nur dann bestimmen, wenn diese in ihrer Beziehung zueinander betrachtet werden. Mehrere Klebestellen im Material weisen darauf hin, dass Monson die Bilder im Zuge der Postproduktion montierte. Die Abfolge der Aufnahmen, die das „Stürmer“-Plakat und die Beschmierungen in ein Verhältnis setzt, legt eine Lesart nahe, wonach die Verunstaltung von Geschäften in jüdischem Besitz als direkte Folge antisemitischer Propaganda zu verstehen ist. Die Sequenz lässt sich aber auch als eine Reflexion über das Potenzial von NS-Propaganda interpretieren, in das visuelle Kommunikationsrepertoire der Bevölkerung einzudringen. Schließlich findet sich das vom „Stürmer“ verbreitete Sujet des Juden mit Hakennase, langem Bart und Schläfenlocken auf den Geschäftsfronten wieder. [39]
Das Risiko, das Lafayette Monson sowie Ross und Helen Baker angesichts ihrer Filmaufnahmen von den beschmierten und verunstalteten Geschäften jüdischer Eigentümer und Eigentümerinnen eingingen, lässt sich anhand von Berichten aus der Reichshauptstadt näher bestimmen. Im Rahmen des Juni-Pogroms 1938 in Berlin wurden ausländische Journalisten verhaftet, weil sie antisemitische Schmierereien auf Geschäftslokalen fotografierten.[40] Eine rechtliche Grundlage dafür gab es nicht. Joseph Goebbels, damaliger Gauleiter von Berlin, hielt zudem in seinem Tagebuch fest, dass er alle Fotos von „Judenaktionen“, die von der englischen Presse gemacht worden seien, beschlagnahmen lassen wolle.[41]
Des Weiteren geht aus Polizeiberichten vom Juni 1938 hervor, dass ein britischer Austauschlehrer, der Schmierereien fotografiert habe, verwarnt und seine Kamera von der Gestapo konfisziert worden sei. Ein jüdischer Kaufmann, der sein eigenes beschmiertes Geschäft fotografisch habe dokumentieren wollen, sei hingegen sofort verhaftet worden.[42] Ähnliche Schilderungen aus Wien sind bislang nicht bekannt. Die Berichte aus der Reichshauptstadt verdeutlichen allerdings die verbreitete Haltung unter den Nationalsozialisten, wonach Bilder von der Judenverfolgung nicht ins Ausland gelangen sollten.
Bilder der Demütigung oder: „Volksgemeinschaft“ als filmische Praxis
Im Gegensatz zu den ersten beiden Filmdokumenten stammt der dritte Film, der im Zentrum dieses Beitrags steht, nicht von ausländischen Staatsangehörigen, sondern von einem nicht-jüdischen Wiener.[43] Er trägt den Archivtitel „Amateuraufnahmen Wien, Frühjahr 1938“[44] und enthält Bilder aus Wien, die zwischen März und Mai 1938 entstanden sind und verschiedene Ereignisse rund um die nationalsozialistische Machtübernahme in Österreich zeigen. Produziert wurde der rund zehnminütige Film von Walter Nitsche, der, anders als die Familie Baker und Lafayette Monson, zu der vom NS-Regime proklamierten „Volksgemeinschaft“ zählte. Zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ war Walter Nitsche 20 Jahre alt und Schüler der Höheren Staats-Gewerbeschule in der Schellinggasse 13 im 1. Wiener Gemeindebezirk.[45] Im Juni 1938 schloss er die Schule ab und trat kurz darauf eine Arbeitsstelle als Lokalbauleiter bei der „Strassenverwaltung des Landes Niederösterreich“ an.[46] Ende November 1938 wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Walter Nitsche geriet 1944 in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er am 1. Juni 1946 entlassen wurde. Eine Mitgliedschaft Nitsches in der NSDAP oder einer ihrer Suborganisationen ist unwahrscheinlich. Diesbezügliche Recherchen in Archiven und Privatdokumenten waren ergebnislos. Auch innerhalb der Familie ist dazu nichts bekannt.
Bereits Hans Petschar, Direktor des Bildarchivs und der Grafiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, schrieb in der Einleitung zu seiner 2008 veröffentlichten Bildchronologie der nationalsozialistischen Machtübernahme über die Aufnahmen Nitsches.[47] Seine Angaben, dass das Material in den 1980er Jahren auf einem Wiener Flohmarkt gefunden worden sei und keine weiteren Informationen zum Filmemacher vorlägen, müssen angesichts meiner Rechercheergebnisse allerdings revidiert werden.
Als Walter Nitsche im März 1938 zur Kamera griff, um die Machtübernahme der Nationalsozialisten zu filmen, hatte er bereits einen ambitionierten Amateurfilm mit dem Titel „100 Meter Schulchronik“[48] produziert, für den er Titelblatt, Credit und Zwischentitel anfertigte. Sein Film vom „Anschluss“ 1938 enthält zwar eine Vielzahl an Klebestellen – Nitsche edierte seine Aufnahmen im Zuge der Postproduktion – Texttafeln sind allerdings nicht vorhanden.[49] Die Montage folgt zudem keiner Chronologie.
Nitsche bewahrte beide Filme bis zu seinem Tod im Jahr 1991 auf. Seiner Familie hat er diese nie gezeigt.[50] Sie befanden sich in einem kleinen Schrank, zu dem nur er Zugang hatte. Als sein Sohn, Wolfgang Nitsche, die Filme nach dem Tod des Vaters auffand und diese 1992 dem Österreichischen Filmmuseum übergab, ahnte er nicht, was darauf zu sehen war. Erst viele Jahre später, als der Film im Archiv erstmals in voller Projektion gesichtet wurde, trat die historische Relevanz der Aufnahmen zutage.
Nitsches Film enthält neben Bildern der von NS-Symbolen übersäten Wiener Innenstadt Aufnahmen von Militärparaden, von Aufmärschen der HJ bzw. des BDM, aber auch von Adolf Hitler und Hermann Göring im Mercedes. Am Ende befinden sich drei Szenen, die die Verfolgung von Juden und Jüdinnen zeigen: die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus Wien, die „Arisierung“ jüdischen Besitzes und die Gewalt, der die österreichischen Juden und Jüdinnen unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme ausgesetzt waren. Dass es sich bei jenen Personen, die in den Filmaufnahmen zu sehen sind, um Juden und Jüdinnen handelt, wird nur unter Einbeziehung historischen Kontextwissens offenkundig. Denn sie weisen keinerlei sichtbare Attribute auf, worüber sie als jüdisch identifiziert werden könnten.
Die erste Szene der Schlusssequenz (im Ausschnitt ab Minute 00:30) enthält Aufnahmen von Personen, die vor dem polnischen Konsulat am Rennweg im 3. Wiener Bezirk anstehen.[51] Angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung sahen sich viele aus Polen stammende Juden und Jüdinnen, die in Wien lebten, jedoch nie die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten hatten, gezwungen, ein Ansuchen für einen polnischen Pass zu stellen, um so nach Polen fliehen zu können.[52] Nitsche dokumentiert die Situation zunächst aus großer Entfernung. Daraufhin mischt er sich unter die Menschenmenge, um die Personen aus nächster Nähe zu filmen. Ihre Reaktionen legen nahe, dass sie in keinem persönlichen Verhältnis zum Filmemacher stehen, er ihnen also fremd ist. Während einige der Kamera mit Gleichgültigkeit begegnen, wenden sich andere von ihr ab.
Die nächste Szene zeigt den „Boykott“ und die „Arisierung“ von Geschäften jüdischer Eigentümer und Eigentümerinnen. Sie beginnt mit Aufnahmen eines Schaufensters, auf dem ein Schild mit dem Schriftzug „Nichtarisches Geschäft“ angebracht wurde. Es sollte die nicht-jüdische Kundschaft von dem Betreten des Ladens abhalten. In der nächsten Einstellung ist die Auslage des Warenhauses Herzmansky im 7. Wiener Gemeindebezirk zu sehen. Ein darauf installiertes Schild mit Hakenkreuz, auf dem „Herzmansky wieder arisch“ zu lesen steht, verweist auf die erfolgte „Arisierung“ des Unternehmens.[53]
Zwischen den Bildern der beiden Schaufenster befindet sich eine Klebestelle. Nitsche montierte sie also in der gegebenen Reihenfolge. In ihrer Anordnung bilden die Aufnahmen des Warenhauses Herzmansky einen visuellen Kommentar zu der vorhergehenden Einstellung des (noch) nicht „arisierten“ Geschäfts. Anders als der Film der Familie Baker und die Sequenz Lafayette Monsons enthält Nitsches Film keine Darstellungen von Schmierereien, sondern bloß Bilder von feinsäuberlich gestalteten Hinweisschildern, die nicht Chaos, sondern die Wiederherstellung der vermeintlichen Ordnung suggerieren. Aufnahmen von der Verunstaltung und Zerstörung jüdischen Besitzes sind hier nicht überliefert.
Die eindrücklichsten Bilder befinden sich am Ende des Films, von den vorangehenden Aufnahmen durch eine Reihe weißer Kader getrennt. Es sind die einzigen – bislang bekannten – Filmbilder einer sogenannten Reibpartie.[54] Bis heute stehen die Straßenwaschaktionen paradigmatisch für die nationalsozialistische Judenverfolgung in Wien.[55] Juden und Jüdinnen wurden dazu gezwungen, am Boden kniend mit Lauge und Bürste oder auch nur mit bloßen Händen die pro-österreichischen Parolen des christlich-autoritären Vorgängerregimes unter Bundeskanzler Kurt Schuschnigg zu beseitigen, die im Vorfeld der für den 13. März 1938 anberaumten, aber kurzfristig abgesagten Volksbefragung zur Unabhängigkeit Österreichs auf Straßen, Plätze und Brückenpfeiler aufgemalt worden waren.[56] Einheimische Nationalsozialisten,[57] Mitglieder der NSDAP, SA und der HJ veranstalteten wochenlang und in ganz Wien derartige „Putzaktionen“, um Juden und Jüdinnen in aller Öffentlichkeit zu demütigen.[58] Dort, wo die Parolen nicht mehr zu sehen waren, beschmierten die Nationalsozialisten und ihre Anhängerschaft die Straße erneut, um so den Juden und Jüdinnen „Arbeit zu schaffen“.[59]
Bei den Straßenwaschaktionen handelte es sich um ein Demütigungsritual, das nicht nur aufgrund der zu beseitigenden pro-österreichischen Propaganda eine unmittelbare Referenz zum Austrofaschismus aufwies.[60] Zwischen 1933/34 und 1937 wurden Personen, die als Nationalsozialisten wie auch Sozialdemokraten oder Kommunisten identifiziert wurden, im Sinne einer Kollektivhaftung von der Polizei dazu aufgefordert, die von ihnen selbst oder anderen auf Häuserwände, Gehsteige und Denkmäler geschmierten Parolen und politischen Symbole zu entfernen.[61] Abgesehen davon, dass solche „Putzaktionen“ im Austrofaschismus von staatlichen Ordnungskräften angeleitet wurden, wandten sie sich gegen politische Gegner, die aufgrund des Parteiverbots nur aus der Illegalität heraus agieren konnten.
Die Straßenwaschaktionen im Frühjahr 1938 wiederum zielten auf die jüdische Bevölkerung ab, die mit der zu entfernenden Wahlpropaganda der Schuschnigg-Regierung nicht unmittelbar etwas zu tun hatte. Dennoch galten Juden und Jüdinnen als Stützen des christlich-autoritären Regimes, das im Gegensatz zu Hitler-Deutschland keine offen antisemitische Politik verfolgte und eine schützende Funktion für die jüdische Bevölkerung ausübte.[62]
Aus der strukturellen Zusammensetzung der Opfergruppe ergibt sich, dass das Straßenwaschen im Zuge des „Anschluss“-Pogroms vordergründig rassistisch motiviert war. In Zeitzeugenberichten ist in dem Zusammenhang ausschließlich von Juden und Jüdinnen zu lesen. Bis dato sind keine Schilderungen überliefert, wonach auch politische Gegner und Gegnerinnen zum „Reiben“ gezwungen wurden.[63] Das Straßenwaschen ist damit als verschobener Racheakt zu verstehen, der das Objekt, das geschmäht werden sollte, nämlich das Dollfuß/Schuschnigg-Regime, durch Juden und Jüdinnen ersetzte. Es kam hier zur Umleitung der gegen das Vorgängerregime gerichteten Aggression auf die jüdische Bevölkerung. Über sie entlud sich die enorme Frustration der Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen und ihre Rache für die während der Illegalität real erfahrene oder gefühlte politisch-soziale Benachteiligung.[64]
Die Filmszene selbst dauert insgesamt nur acht Sekunden. Die Aufnahmen müssen verlangsamt oder Bild für Bild angesehen werden.[65] Nur so erschließt sich die gefilmte Situation vollständig. Walter Nitsche setzt die beiden auf Knien rutschenden Männer in Aufsicht und aus nächster Nähe ins Bild, während diese mittels Reibbürsten den Straßenboden säubern.[66] Sie sind gut gekleidet und zählen damit zu den „beliebten“ Opfern von Straßenwaschaktionen. Die zum Reiben gezwungenen Juden und Jüdinnen trugen häufig elegante Kleidung, die Ausdruck ihrer bürgerlichen Herkunft und ihres Wohlstandes war und im Rahmen der „Reibaktion“ beschädigt werden sollte.[67] Im Hintergrund sind in Umrissen die Beine der Zuschauer und Zuschauerinnen zu erkennen.
Der erste Mann blickt eindringlich in die Kamera, die auf ihn hinabsieht. Sein Blick scheint ängstlich und vorwurfsvoll zugleich, so als wolle er der Schaulust des Filmemachers zumindest mimisch etwas entgegensetzen. Berechnungen auf Basis des für 9,5mm-Kameras üblichen Objektivs mit einer Brennweite von 20mm legen nahe, dass die Aufnahmen der beiden Männer aus einer Entfernung von zwei Metern entstanden sind.[68] Der zweite Mann stellt keinen Blickkontakt zum Filmemacher her. In der nächsten Einstellung sind die über den Boden gleitenden Hände des ersten Mannes in Großaufnahme zu sehen. Walter Nitsche tritt besonders dicht an die Gedemütigten heran. Indem die Anführer der „Putzaktion“ sein Filmen dulden, erteilen sie ihm implizit ihre Zustimmung, die Übergriffe festzuhalten. Ob er als Zeichen politischer Zugehörigkeit eine Hakenkreuzarmbinde oder ein Abzeichen trägt, ist unklar. Auf jeden Fall wird er als Mitglied der verfolgenden Menge wahrgenommen und kann so aus nächster Nähe filmen.
Im Zentrum der folgenden Einstellungen steht eine junge Frau, umgeben von einer Menschenmenge. In ihrem Rücken haben zwei Männer einander die Hände gereicht und eine Art Absperrung errichtet, vermutlich um zu verhindern, dass die Zuschauer und Zuschauerinnen weiter nach vorne drängen. Es handelt sich dabei um eine für Straßenwaschaktionen übliche Vorgehensweise. Die Schaulustigen hielten einander an den Händen und bildeten so einen Ring um die jüdischen Opfer. Dadurch entstand nicht nur ein „informeller Gefängnis-Raum“, sondern auch eine Art Arena für die Demütigungen, wodurch den Zuschauenden beste Sicht gewährt wurde.[69]
Während die meisten von ihnen direkt in die Kamera blicken, viele mit einem Grinsen, versucht sich die junge Frau im Bildzentrum der Aufnahme zu entziehen. Sie dreht sich zur Seite und führt die linke Hand zum Kopf, um ihr Haar aus dem Gesicht zu streichen, wodurch sie dieses aber zugleich verdeckt. Daraufhin fordert sie der SA-Mann links im Bild dazu auf, mit erhobener Reibbürste für die Kamera, die ca. drei Meter entfernt steht, zu posieren. Er zwingt sie dazu, sich dem Blick des Filmemachers auszusetzen. Spätestens jetzt ist klar, dass es sich nicht um eine Zuschauerin, sondern um eine Verfolgte, vermutlich eine Jüdin, handelt, die das Werkzeug ihrer Demütigung selbst präsentieren soll.[70]
Die Funktion der Aufnahmen und des Kameraeinsatzes wird in einer vergleichenden Analyse der Filmszene und überlieferter Fotografien von antisemitischen Ausschreitungen deutlich, die während der Anschlusstage sowohl von professionellen Fotografen als auch von Privatpersonen gemacht, unter NS-Herrschaft jedoch nicht veröffentlicht worden sind.[71] Wie der Film zeigt auch der Großteil der Fotos die Demütigungsrituale aus geringer Entfernung. Die Bildproduzenten haben sich zumeist mitten im Geschehen befunden. Wie Nitsche sind sie für die Täter,[72] Opfer, Zuschauer und Zuschauerinnen in ihrer Rolle erkennbar.[73] Sie halten – für alle Anwesenden wahrnehmbar – die Demütigung fest, die damit potenziell zu jedem späteren Zeitpunkt reproduzierbar wird. Dadurch bekräftigen sie auch den öffentlichen Charakter der Übergriffe, indem das anwesende Publikum durch ein potenzielles Foto- oder Filmpublikum erweitert werden kann. Mit ihren Aufnahmen verfestigen sie den Opferstatus der Juden und Jüdinnen über den Moment hinaus. Da sie die Bilder nicht heimlich, sondern im Wissen aller Beteiligten, also auch der Opfer, anfertigen, tragen sie zur Verstärkung der Demütigung bei und werden somit zu Mitwirkenden des gemeinschaftlich verübten Gewaltaktes.[74] Dennoch kann von solchen Bildern allein nur begrenzt auf die politische Haltung der Fotografierenden und Filmenden geschlossen werden.
In der Filmszene wird zudem die regulierende Funktion deutlich, die Film- und Fotokameras zuweilen erfüllten. Die Bilder zeugen davon, dass Walter Nitsche dem Demütigungsritual nicht nur beigewohnt, sondern dieses auch beeinflusst hat. Die gefilmten Personen, zuvorderst der SA-Mann und die Jüdin, richten ihr Verhalten auf den Filmemacher hin aus. Der SA-Mann zwingt sie dazu, für die Kamera zu posieren, wodurch ihre Demütigung eine Verstärkung erfährt. Schließlich soll sie auch noch selbst zum Gelingen der Aufnahme und damit zur Dokumentation ihres Opferstatus beitragen. Eine letzte Möglichkeit, in dieser Situation Handlungsmacht zu bewahren, hätte für sie darin bestanden, das Gesicht von der Kamera abzuwenden. Doch genau das wird ihr von dem SA-Mann verwehrt.
Beide scheinen die bewahrende Funktion von Film und die potenzielle Reproduzierbarkeit der Aufnahme zu antizipieren. Nur so ist erklärbar, warum der SA-Mann die Jüdin überhaupt zur Pose nötigt und warum diese wiederum ihr Gesicht von der Kamera abkehren möchte. Schließlich blickt sie in die Kamera. In der rechten Hand hält sie die Reibbürste. Mit der linken Hand fixiert sie ihr Haar, sodass ihr dieses nicht ins Gesicht fällt. Ihre Mimik ist nur schwer zu deuten. Sie scheint zu lächeln. Ob es sich dabei um einen Ausdruck von Verlegenheit und Scham oder um die Erfüllung des für Film- und Fotoaufnahmen typischen Darstellungsauftrags handelt, ist ungewiss. Die Kamera dient hier jedenfalls nicht nur der Dokumentation der Ausschreitungen. Sie ist nicht bloß Aufzeichnungsapparat, sondern auch Instrument der Demütigung. Inwiefern Walter Nitsche die Funktion seines Kameraeinsatzes selbst reflektierte, bleibt unklar. Über die Art und Weise, wie er die Kamera hier gebraucht, wird er jedenfalls zum Komplizen der symbolischen Dimension des kollektiven Gewaltakts gegenüber den Wiener Juden und Jüdinnen.
Michael Wildt folgend, lassen sich die Straßenwaschaktionen als öffentlich wirksame Praktiken der Exklusion zur Herstellung von „Volksgemeinschaft“ interpretieren.[75] Im Zuge antisemitischer Übergriffe wurde, so Wildt, die Grenze zwischen „Volksgenossen“ und „Volksfeinden“ gezogen und „Volksgemeinschaft“ sichtbar gemacht.[76] Sowohl die Filmaufnahme als auch die überlieferten Fotos zeugen von der Vielzahl an Zuschauern und Zuschauerinnen, die sich über die öffentliche Demütigung amüsierten oder den Gewaltakten – bestenfalls gleichgültig – beiwohnten. Ein schaulustiges Publikum gilt als wesentlicher Bestandteil einer derartigen Inszenierung von sozialer Herrschaft, die ohne dessen Anwesenheit ihre Bedeutung einbüßen würde.[77]
Der Anthropologe Richard Chalfen hat wie bereits Pierre Bourdieu auf die gemeinschaftsstiftende Funktion von privaten Foto- und Filmaufnahmen verwiesen, die sich auch anhand der Filmszene nachvollziehen lässt.[78] Die zuschauenden Frauen und Männer, die hier zu sehen sind, jüngere und ältere, sie alle sind sich dessen bewusst, dass sie gefilmt werden, schließlich posieren sie gemeinsam mit dem SA-Mann und der gedemütigten Jüdin für die Kamera. Es handelt sich hier um die Performance von („Volks“-)Gemeinschaft. Dabei ist anzunehmen, dass alle Anwesenden das filmische Überdauern ihrer Gesten antizipieren, sie also wissen, dass ihre gemeinsame Pose auf Film festgehalten und so über die Aufnahmesituation hinaus für die Zukunft bewahrt wird. Es ist unklar, ob das Grinsen des Publikums von Schadenfreude und Verhöhnung zeugt oder einer Darstellungskonvention geschuldet ist. In jedem Fall kommt hier der Kamera auch eine sozialintegrative Funktion zu.
Conclusio
Wie die Filmaufnahmen und diverse Fotos zeigen, konnten Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Juden und Jüdinnen während und in Folge der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich relativ ungehindert dokumentiert werden.[79] Es wurde nicht heimlich gefilmt oder fotografiert. In den Aufnahmen sind neben schaulustigen oder vorübergehenden Personen oftmals auch (uniformierte) Nationalsozialisten in Aktion zu sehen, die von der Kamera Notiz genommen haben müssen, das Filmen und Fotografieren aber nicht sabotierten.
Ross und Helen Baker bemühten sich jedoch darum, ihre Kamera vor dem SA-Mann zu verbergen – vermutlich, um diesen nicht zu provozieren. Schließlich demonstrierte Helen Baker hier Widerstand. Mit dem Versuch, in das Geschäft einzutreten, widersetzte sie sich dem „Boykott“ und gab sich so, nicht nur für die laufende Kamera, sondern auch gegenüber dem Wachposten, als Kritikerin der Aktion zu erkennen. Es ist naheliegend, dass die Bildproduzenten und Bildproduzentinnen insbesondere dann ohne Bedenken und Angst vor Verwarnungen oder Übergriffen fotografieren und filmen konnten, wenn sie entweder selbst NSDAP-Mitglieder waren oder von den während der Aufnahmesituation anwesenden Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen als NS-Sympathisanten und NS-Sympathisantinnen wahrgenommen wurden.
Wie ich anhand meiner Analyse dargestellt habe, konnten Amateuraufnahmen, die Judenverfolgung zeigen, sehr verschiedene Funktionen erfüllen: Als visuelle Dokumente von der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung Wiens übernehmen die eindrücklichen Farbaufnahmen Lafayette Monsons und die Bilder der Bakers in ihrem szenischen bzw. filmischen Zusammenhang die Funktion eines kritischen Kommentars. Es handelt sich um Gegenbilder zu den zuvor gezeigten Aufnahmen von der NS-Propaganda oder – im Fall der Bakers – der begeisterten NS-Anhängerschaft. Die Szene, in der Helen Baker mit dem SA-Mann interagiert, ist zudem Beweis für ihr couragiertes bzw. widerständiges Verhalten.
Anhand Walter Nitsches Aufnahmen von der Straßenwaschaktion wird wiederum deutlich, dass sich der Zweck solcher Bilder, die direkte Übergriffe auf Juden und Jüdinnen zeigen, nicht nur in ihrer späteren Betrachtung erschöpft. Er entfaltet sich ebenso im Moment ihrer Herstellung und in der Funktion der Kamera als Situationsregulativ. Die Bildproduzenten und Bildproduzentinnen konnten die Kamera auch dafür nutzen, die Übergriffe mitzugestalten bzw. zu beeinflussen, wodurch sie die hier stattfindenden Prozesse der gesellschaftlichen Exklusion und Inklusion mitunter verstärkten.
So führte Nitsches Kameraeinsatz gerade nicht dazu, dass sich der SA-Mann und das Publikum von ihm abwandten. Im Gegenteil: Sie posierten gemeinsam mit der Jüdin für die Aufnahme und stellten so in Abgrenzung zu dem geächteten Opfer, das über die Reibbürste deutlich als solches erkennbar war, ihre Zusammengehörigkeit dar. Der Amateurfilm im Nationalsozialismus lässt sich daher nicht nur als ein Medium der visuellen Dokumentation verstehen, er ist vielmehr auch Medium der Demütigung, Mittel des Ausschlusses und der Integration, und damit ein Medium zur Herstellung von „Volksgemeinschaft“.
[1] Siehe dazu „Ostmark-Wochenschau 12/1938“, 18. März 1938, „Ostmark-Wochenschau 13/1938“, 25. März 1938, „Ostmark-Wochenschau 16B/1938“, 15. April 1938; „Jahresschau der Bundespolizeidirektion Wien, 1938“, in: 1938 – Kommentierte Filmdokumente zum Anschlussjahr, DVD, 2008, Filmarchiv Austria; „UFA Ton-Woche Nr. 393“, 1938; „Ein Volk – ein Reich – ein Führer“, 1938, in: Österreich Box 3, 1938-1945: Die Herrschaft des Nationalsozialismus, hg. von Michael Achenbach/Hannes Leidinger, DVD, 2010, Filmarchiv Austria. Vgl. auch Gerhard Jagschitz, Photographie und „Anschluss“ im März 1938, in: Oliver Rathkolb/Wolfgang Duchkowitsch/Fritz Hausjell (Hg.), Die veruntreute Wahrheit. Hitlers Propagandisten in Österreich ’38, Salzburg 1988, S. 52-87, hier S. 66 und 73f.
[2] Dieser Befund beruht auf einer Untersuchung von rund 30 Amateurfilmen über den „Anschluss“ 1938 aus der Sammlung des Österreichischen Filmmuseums, dem United States Holocaust Memorial Museum, dem Archiv der Agentur Karl Höffkes und dem Filmarchiv Austria.
[3] In diesem Text wird in der Regel die Doppelform, also die männliche und weibliche Bezeichnung, verwendet. Dies dient der Sichtbarmachung von Frauen in unterschiedlichen Rollen im Nationalsozialismus. Wenn lediglich ein Geschlecht benannt wird, ist nur dieses gemeint.
[4] Informationen zum Projekt „Ephemere Filme: Nationalsozialismus in Österreich“ siehe online unter: https://efilms.at/about_the_project [22.04.2021].
[5] Siehe https://efilms.at/explore [22.04.2021].
[6] Vgl. Alexandra Schneider, Die Stars sind wir. Heimkino als filmische Praxis, Marburg 2004, S. 36.
[7] Vgl. ebenda, S. 53-58; Martina Roepke, Privat-Vorstellung. Heimkino in Deutschland vor 1945, Hildesheim 2006, S. 53. Beim Amateurfilm handelt es sich größtenteils um ein rein visuelles Medium. Der Synchronton konnte sich im Amateurbereich erst mit der Etablierung von Video in den 1980er Jahren wirklich durchsetzen. Vgl. Schneider, Die Stars sind wir, S. 61.
[8] 1938 lag der Preis für die günstigste Filmkamera, eine 9,5mm-Kamera mit Federwerk von der Firma Pathé, bei 65 Reichsmark. Für die günstigste Variante des dazugehörigen Projektors, der jedoch mittels Handkurbel betrieben wurde, mussten weitere 60 RM bezahlt werden. Ein Projektor mit Motor-Antrieb kostete bereits 169 RM. Hinzu kamen die Materialkosten, die für einen etwa vierminütigen Film 5 RM betrugen. Siehe Preisliste des Film- und Fotohändlers Herlango, in: Photo und Kino Sport, 28.05.1938, S. 100. Das monatliche Durchschnittseinkommen lag bei 160 RM. Siehe Sozialgesetzbuch (SGB VI), online unter: https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbvi/anlage-1.html [22.04.2021].
[9] Vgl. Richard Chalfen, Snapshot Versions of Life, Bowling Green 1987, S. 139.
[10] Der Anthropologe Sol Worth betrachtete Amateurfilme als „statements about the world“. Sol Worth, Doing the Anthropology of Visual Communication, in: Working Papers in Culture and Communication 1/2 (1976), S. 2-20, hier S. 18, zitiert nach Chalfen, Snapshot, S. 6. Siehe dazu auch Michaela Scharf, „Eine Maexie Production“. Ellen Illichs Familienfilme zwischen Erinnerungspraxis, Situationskontrolle und Subjektkonstitution, in: Winfried Pauleit/Angela Rabing (Hg.), Familien-Bilder. Lebensgemeinschaften und Kino, Berlin 2020, S. 91-103, hier S. 94.
[11] Diese Erkenntnis basiert auf meiner Untersuchung von rund 200 österreichischen Amateurfilmen der 1920er bis 1940er Jahre. Die Filme stammen größtenteils aus der Sammlung des Österreichischen Filmmuseums und – zu einem kleineren Teil – aus dem United States Holocaust Memorial Museum und dem Archiv der Agentur Karl Höffkes.
[12] Vgl. Chalfen, Snapshot; Schneider, Die Stars sind wir; Heather Norris Nicholson, Amateur Film. Meaning and Practice, 1927-77, Manchester 2012, S. 98.
[13] Siehe Fußnote 11.
[14] Siehe Filmtaschenbuch für alle, Halle (Saale) 1940 (Filmbücher für alle, Nr. 14), S. 101f.
[15] Vgl. Linda Conze/Ulrich Prehn/Michael Wildt, Sitzen, baden, durch die Straßen laufen. Überlegungen zu fotografischen Repräsentationen von „Alltäglichem“ und „Unalltäglichem“ im Nationalsozialismus, in: Annelie Ramsbrock/Annette Vowinckel/Malte Zierenberg (Hg.), Fotografien im 20. Jahrhundert. Verbreitung und Vermittlung, Göttingen 2013, S. 270-298.
[16]„1937-38 Austria, Family and Hitler“, 1938; R: Ross und Helen Baker, Amateurfilm, 16mm, s/w, stumm, 18fps, 16:56 Minuten, Steven Spielberg Film and Video Archive, Film ID: 2828 (RG-60.4551, RG-60.4552, RG-60.4553, RG-60.4554, RG-60.4555), United States Holocaust Memorial Museum, gift of Stan Baker. Der Film kann auf der Website „Ephemere Filme: Nationalsozialismus in Österreich“ in voller Länge angesehen werden: http://efilms.at/film_player?movieID=41&movieSig=EF-NS_041_USHMM&movieSpeed=18 [22.04.2021].
[17] Ross Baker war Chemiker und unterrichtete ab 1930 am College of the City of New York. Im Herbst 1937 kam er in Begleitung seiner Familie nach Wien, um an der Universität Wien Kurse in Mikrochemie zu besuchen. Die Bakers bezogen ein Haus in der Gregor-Mendel-Straße im 19. Wiener Gemeindebezirk. Im Mai 1938 nahm Ross Baker als US-Delegierter am International Congress of Chemistry in Rom teil. Siehe dazu die Angaben zu Ross Baker auf der Website des USHMM: https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn38391 [22.04.2021]. Zu den konkreten Aufenthaltsdaten der Bakers in Wien siehe den Brief von Helen Baker vom 31. Oktober 1937 und ihren Tagebucheintrag vom 28. April 1938, Ross Baker collection (2006.265.1), United States Holocaust Memorial Museum Archives, Washington, DC.
[18] Die Bakers ergänzten ihre persönlichen Aufnahmen um offizielles Filmmaterial. Darunter eine Sequenz, die auch in einer Folge der „Ostmark-Wochenschau“ zu finden ist. Sie zeigt u.a. Joseph Goebbels und Adolf Hitler am Balkon des Wiener Rathauses während der Auftaktveranstaltung zum „Tag des Großdeutschen Reiches“ am 9. April 1938. Vgl. „Ostmark-Wochenschau 16B/1938“, 15. April 1938, in: 1938 – Kommentierte Filmdokumente zum Anschlussjahr, DVD, 2008, Filmarchiv Austria.
[19] Vgl. Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung, Kriegsvorbereitung, 1938/39, Wien 2018, S. 127; Kurt Bauer, Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1938-1945, Frankfurt a.M. 2017, S. 98-114. Siehe dazu auch die Dokumentensammlung, in: „Anschluss“ 1938. Eine Dokumentation (hg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes), Wien 1988, S. 420-429.
[20] Vgl. Dieter J. Hecht/Eleonore Lappin-Eppel/Michaela Raggam-Blesch, Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien, Wien 2017, S. 20.
[21] Vgl. Botz, Nationalsozialismus in Wien, S. 133.
[22] Vgl. ebenda, S. 93f.
[23] Ebenda, S. 130.
[24] Zu Charakteristik und Typologie des sogenannten Umsturz-Pogroms vgl. Gerhard Botz, „Judenhatz“ und „Reichskristallnacht“ im historischen Kontext: Pogrome in Österreich 1938 und in Osteuropa um 1900, in: Kurt Schmid/Robert Streibel (Hg.), Der Pogrom 1938. Judenverfolgung in Österreich und Deutschland, Wien 1990, S. 9-24.
[25] Vgl. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Jahrbuch 2012. Gedenkstätte für die Opfer der Gestapo Wien. Eine Ausstellung des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes. Bilder und Texte der Ausstellung von Elisabeth Boeckl-Klamper, Thomas Mang und Wolfgang Neugebauer, Wien 2012, S. 66.
[26] Siehe Tagebucheintrag von Helen Baker vom 17. März 1938, Ross Baker collection (2006.265.1), United States Holocaust Memorial Museum Archives, Washington, DC.
[27] Vgl. Christoph Kreutzmüller/Julia Werner, Fixiert. Fotografische Quellen zur Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa. Eine pädagogische Handreichung, Berlin 2016, S. 15.
[28] Die Fotografien befinden sich im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek und können unter folgendem Link angesehen werden: https://onb.digital/search/87180 [22.04.2021]. Vgl. auch Dieter Hecht, Demütigungsrituale – Alltagsszenen nach dem „Anschluss“ in Wien, in: Werner Welzig (Hg.) unter Mitarbeit von Hanno Biber und Claudia Resch, „Anschluss“ März/April 1938 in Österreich, Wien 2010, S. 39-71, hier S. 54.
[29] Siehe Tagebucheintrag von Helen Baker vom 25. April 1938, Ross Baker collection (2006.265.1), United States Holocaust Memorial Museum Archives, Washington, DC.
[30] Vgl. Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch, Topographie der Shoah, S. 33f.
[31] Vgl. Botz, Nationalsozialismus in Wien, S. 152f.; Hans Safrian/Hans Witek, Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938, Wien 2008, S. 68-70.
[32] Brief von Helen Baker vom 1. Mai 1938, S. 1-2. Ross Baker collection (2006.265.1), United States Holocaust Memorial Museum Archives, Washington, DC.
[33] Vgl. Hannah Ahlheim, „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935, Göttingen 2011, S. 366.
[34] Siehe „Genehmigungspflicht für Aufnahmen“, in: Fotofreund 13 (1933), S. 468, zitiert in: Rolf Sachsse, Die Erziehung zum Wegsehen. Fotografie im NS-Staat, Dresden 2003, S. 243. In dem Dokument heißt es: „Dagegen haben Angehörige der SS und SA nicht das Recht, das Fotografieren an sich überhaupt zu verbieten, wie es gelegentlich vorgekommen ist. Im Gegenteil wird die Amateurfotografie gerade vom Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda stark gefördert.“
[35] Vgl. Christoph Kreutzmüller/Hermann Simon/Elisabeth Weber, Ein Pogrom im Juni. Fotos antisemitischer Schmierereien in Berlin, 1938, Berlin 2013, S. 13f.
[36] „Monson Collection: Vienna, 1938“, 1938; R: Lafayette P. Monson, Amateurfilm, 35mm (Blow-up von 16mm), Farbe, stumm, 18fps, 0:47 Minuten, Sammlung Österreichisches Filmmuseum (0002-03-1060).
[37] Siehe dazu die Angaben auf der Website des USHMM: https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn1004621 [22.04.2021].
[38] Vgl. Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch, Topographie der Shoah, S. 90-97.
[39] Im März 1939 hielt Monson einen Vortrag über seine Reiseeindrücke im Athletic Club in Oakland, Kalifornien mit dem Titel „India, Siam, and the Holy Land“. Monsons Filmpraxis war also vermutlich von dem Gedanken geleitet, die Aufnahmen einem breiteren, halb-öffentlichen Publikum vorzuführen. Ob Monson das Material aus Wien ebenso im Klub gezeigt hat, ist unklar. Siehe dazu die Angaben auf der Website des USHMM: https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn1004621 [22.04.2021].
[40] Darüber berichtete der US-Botschafter in Berlin, Hugh R. Wilson, am 22. Juni 1938 an das amerikanische Außenministerium. Laut seinen Angaben seien mindestens vier Auslandskorrespondenten, drei aus Amerika und einer aus England, verhaftet worden, weil sie Fotos von den beschmierten Geschäften angefertigt hätten. Erst nachdem sie ihre Identität nachgewiesen und beteuert hätten, dass sie von keinem Gesetz wüssten, wonach das Fotografieren solcher Aktionen verboten wäre, seien sie entlassen worden. Siehe Bericht NR. 196 des US-Botschafters in Berlin, Hugh R. Wilson, an den Außenminister in Washington vom 22.06.1938, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945 (VeJ), Bd. 2, Dok. 47, S. 176-179, hier S. 177.
[41] Vgl. Goebbels Tagebücher, Bd. 5, 23.06.1938, S. 356, zitiert nach Kreutzmüller/Simon/Weber, Ein Pogrom im Juni, S. 26.
[42] Vgl. Kreutzmüller/Simon/Weber, Ein Pogrom im Juni, S. 28.
[43] Der folgende Textabschnitt wurde aufgrund neuer Rechercheergebnisse am 29. Juli 2021 adaptiert.
[44] „Amateuraufnahmen Wien, Frühjahr 1938“, 1938; R: Walter Nitsche, Amateurfilm, 9,5mm, s/w, stumm, 16fps, 10:18 Minuten, Sammlung Österreichisches Filmmuseum (0901-09-0174). Der gesamte Film ist online auf der Website „Ephemere Filme: Nationalsozialismus in Österreich“ zu sehen: http://efilms.at/film_player?movieID=11&movieSig=EF-NS_011_OeFM&movieSpeed=16 [22.04.2021].
[45] Ich möchte mich an dieser Stelle bei Wolfgang Nitsche, dem Sohn Walter Nitsches, für seine umfassende Unterstützung im Zuge meiner Recherchen bedanken.
[46] Siehe Dokumentenmappe, Privatbesitz von Wolfgang Nitsche.
[47] Vgl. Hans Petschar, Anschluss. „Ich hole Euch heim“. Der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich. Fotografie und Wochenschau im Dienst der NS-Propaganda. Eine Bildchronologie, Wien 2008, S. 15.
[48] „100 Meter Schulchronik“, 1937; R: Walter Nitsche, Amateurfilm, 9,5mm, s/w, stumm, 16fps, 7:37 Minuten, Sammlung Österreichisches Filmmuseum (0901-09-0203). Der gesamte Film ist online auf der Website „Ephemere Filme: Nationalsozialismus in Österreich“ zu sehen: http://efilms.at/film_player?movieID=62&movieSig=EF-NS_061_OeFM&movieSpeed=16 [22.04.2021].
[49] Die Filmbefundung hat ergeben, dass alle Szenen aus „Amateuraufnahmen Wien, Frühjahr 1938“ aus derselben Kamera stammen wie die Aufnahmen aus dem Film „100 Meter Schulchronik“. In der Sammlung des Österreichischen Filmmuseums befinden sich zudem die Restmaterialien zu beiden Filmen, also jene Aufnahmen, die Nitsche aussortierte und die er nicht in den jeweils fertigen Film aufnahm. Siehe „Ausschnitte“, 1937/1938; R: Walter Nitsche, Amateurfilm, 9,5mm, s/w, stumm, 16fps, 22:33 Minuten, Sammlung Österreichisches Filmmuseum (0901-09-0628).
[50] Dies bestätigte Wolfgang Nitsche in einem Gespräch am 12. August 2020.
[51] Zur Kontextualisierung dieser Szene wurden vier Fotografien herangezogen, die dasselbe Sujet zeigen. Sie tragen den Titel „Juden 1938 am Rennweg vor dem polnischen Konsulat“ und befinden sich im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Sign: OEGZ/H4851/2-5.
[52] Vgl. Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch, Topographie der Shoah, S. 195.
[53] Siehe Das kleine Volksblatt, 17.03.1938, S. 13. Zur Geschichte der „Arisierung“ des Kaufhauses: Astrid Peterle, Kauft (nicht) bei Juden! Zerstörung einer Wiener Geschäftskultur, 1938-1945, in: dies. (Hg.), Kauft bei Juden! Geschichte einer Wiener Geschäftskultur. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Jüdischen Museum Wien, 17. Mai 2017 bis 19. November 2017, Wien 2017, S. 164-179, hier S. 169.
[54] Bei diesem verharmlosenden Begriff handelt es sich um einen Austriazismus für „Putzkolonne“. Der britische Korrespondent George Eric Rowe Gedye schreibt in der englischen Originalfassung seines Buchs von „cleaning squad“. Siehe G. E. R. Gedye, Fallen Bastions. The Central European Tragedy, London 1939, S. 308. In der deutschen Übersetzung von 1947 ist an dieser Stelle „Reibpartie“ zu lesen. Siehe G. E. R. Gedye, Die Bastionen fielen. Wie der Faschismus Wien und Prag überrannte, Wien o. J. (1947), S. 295.
[55] Das 1988 errichtete „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“ des österreichischen Bildhauers Alfred Hrdlicka, das sich am Helmut-Zilk-Platz in der Wiener Innenstadt befindet, zeigt unter anderem eine Bronzeskulptur eines straßenwaschenden Juden. Diese bildete den Bezugspunkt einer von Ruth Beckermann konzipierten Installation aus dem Jahr 2015. Unter dem Titel „The missing image. Wien 1938“ ergänzte Beckermann die Szenerie um die Bilder des schaulustigen Publikums. Auf LED-Screens, die gegenüber der Skulptur errichtet wurden, waren bearbeitete Filmaufnahmen einer Straßenwaschaktion zu sehen. Es handelte sich dabei um genau jene Szene aus dem Film „Amateuraufnahmen Wien, Frühjahr 1938“, der im Projekt „Ephemere Filme: Nationalsozialismus in Österreich“ erschlossen und digitalisiert wurde. Siehe dazu die Projektwebsite von Ruth Beckermann: http://www.themissingimage.at/home.php?il=2&l=de [22.04.2021].
[56] Vgl. Gedye, Die Bastionen fielen, S. 294f.
[57] Die überlieferten Bilddokumente legen nahe, dass es sich bei den Anführern der Straßenwaschaktionen zumeist um Männer handelte. Frauen sind nur im Publikum, allerdings nicht in führenden Rollen zu sehen. Vgl. auch Botz, Nationalsozialismus in Wien, S. 142.
[58] Wie schriftliche Dokumente und Fotos belegen, war das Straßenwaschen nicht auf einzelne Bezirke beschränkt, sondern fand überall in Wien statt. Vgl. Gedye, Die Bastionen fielen, S. 294f. und Safrian/Witek, Und keiner war dabei, S. 67-69.
[59] Gedye, Die Bastionen fielen, S. 295.
[60] Vgl. Michaela Raggam-Blesch, Das „Anschluss“-Pogrom in den Narrativen der Opfer, in: Welzig (Hg.), „Anschluss“ März/April 1938 in Österreich, S. 111-124, hier S. 113.
[61] Vgl. Botz, Nationalsozialismus in Wien, S. 138.
[62] Vgl. ebenda, S. 138f.; Wolfgang Häusler, Das Jahr 1938 und die österreichischen Juden, in: „Anschluss“ 1938. Eine Dokumentation (hg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes), Wien 1988, S. 85-92, hier S. 86. Das heißt jedoch nicht, dass es im Austrofaschismus keine antisemitischen Tendenzen gegeben hätte. Zu den vielfältigen Formen von Antisemitismus in Österreich vor 1938 vgl. Gertrude Enderle-Burcel/Ilse Reiter-Zatloukal (Hg.), Antisemitismus in Österreich 1933-1938, Wien 2018.
[63] Allerdings existieren Berichte aus Salzburg und der Steiermark, wonach es im Zuge der Übergriffe auf ehemalige Funktionäre des Ständestaats oder dezidierte NS-Gegner zu Aktionen kam, bei denen diese Tafeln, Plakate und amtliche Anschläge des Vorgängerregimes entfernen mussten. Vgl. „Anschluss“ 1938. Eine Dokumentation, S. 431-432. Die Beseitigung von Spuren des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes weist Parallelen zu den „Reibpartien“ auf, entbehrt allerdings desselben ritualisierten Charakters, dessen zentrale Elemente die Bürste und das Niederknien waren.
[64] Vgl. Botz, Nationalsozialismus in Wien, S. 169.
[65] Die Website „Ephemere Filme: Nationalsozialismus in Österreich“ ermöglicht es, die Szene vom Straßenwaschen als Abfolge von Einzelbildern zu sichten: http://efilms.at/film_player?movieID=11&movieSig=EF-NS_011_OeFM&movieSpeed=16 [22.04.2021]. Die Szene beginnt bei Minute 10:09:07. Um zwischen den Einzelbildern per linker und rechter Pfeiltaste navigieren zu können, muss zunächst der Cursor in dem äußeren linken Feld unterhalb des Bildausschnittes, das die Anzahl der Frames (Einzelbilder) anzeigt, positioniert werden. Bei Minute 10:09:07 ist in dem Feld die Zahl 9752 zu sehen. Es handelt sich dabei also um das 9752ste Einzelbild des Films und den ersten Frame der folgenden Szene.
[66] Die Filmaufnahmen selbst liefern keine Evidenz, welche Art von Parolen oder Kritzeleien hier weggeschrubbt werden sollten.
[67] Zeitzeugen, die Opfer einer Straßenwaschaktion im 3. Bezirk in der Hagenmüllergasse wurden, berichteten, im Vorfeld dazu aufgefordert worden zu sein, ihren „besten Anzug“ anzuziehen. Siehe dazu die zitierten Quellen in: Safrian/Witek, Und keiner war dabei, S. 32f.
[68] Die Berechnungen wurden mittels der App „Cadrage Director’s Viewfinder“ durchgeführt.
[69] Botz, Nationalsozialismus in Wien, S. 143.
[70] Bilder jener Szene wurden auch in der bereits erwähnten Bildchronologie Hans Petschars publiziert: Petschar, Anschluss, S. 12-14. Allerdings lag zum Publikationszeitpunkt kein adäquates Digitalisat des 9,5mm-Materials vor, weshalb der obere Rand der hier veröffentlichten Filmstills beschnitten ist. Darauf ist allein der Stiel, jedoch nicht der Kopf der Bürste zu sehen. Deshalb bleibt der Status der Frau, die hier die Reibbürste in die Kamera hält, in Hans Petschars Interpretation der Filmszene unklar. Vgl. Petschar, Anschluss, S. 15.
[71] Fotos von antisemitischen Ausschreitungen im Frühjahr 1938 befinden sich heute im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, im Archiv der Bildagentur Imagno Brandstätter images und in der Bildersammlung Edith Saurer, Sammlung Frauennachlässe, Institut für Geschichte der Universität Wien. Veröffentlicht wurden diese u.a. in: Botz, Nationalsozialismus in Wien, S. 94, S. 135, S. 143-149 und S. 153 und in: Petschar, Anschluss, S. 20-21 und S. 140-141. Die Österreichische Nationalbibliothek verfügt über einen Online-Katalog. Entsprechende Fotos können über folgenden Link angesehen werden: https://onb.digital/search/87184 [22.04.2021]. Die visuelle Dokumentation von Straßenwaschaktionen stellt kein Spezifikum des „Anschluss“-Pogroms dar. Gerhard Paul argumentiert, dass zahlreiche Fotos, die Wehrmachtssoldaten in der besetzten Sowjetunion anfertigten, Juden und Jüdinnen beim Straßenwaschen zeigen. Eines dieser Bilder, das 1941 vor der Oper in Lemberg/Lviv entstand, wurde in Pauls Band publiziert. Siehe Gerhard Paul, Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des Dritten Reiches, Göttingen 2020, S. 154-155.
[72] Vgl. Fußnote 57.
[73] Gerhard Paul will die Zuschauer und Zuschauerinnen der Filmszene auf Fotos wiedererkannt haben, die eine Straßenwaschaktion an der Ecke Novaragasse/Weintraubengasse zeigen. Vgl. Paul, Bilder einer Diktatur, S. 159. Die Fotos entstammen einem, von dem Schriftsteller Martin Pollack gefundenen Leica-Film mit Aufnahmen vom „Anschluss“ 1938. Vgl. Botz, Nationalsozialismus in Wien, S. 141-147. Sie befinden sich heute im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek: ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung: Sign.: 880029-880042. Als Aufnahmeorte konnten die Ecke Novaragasse/Weintraubengasse und die Mühlfeldgasse, ebenso im 2. Wiener Gemeindebezirk, identifiziert werden. Vgl. Martin Pollack, Des is a Hetz und kost net viel, in: Der Standard, Album, 02.03.2013, S. A 1-2, online unter: https://www.derstandard.at/story/1362107189369/des-is-a-hetz-und-kost-net-viel [22.04.2021]; ders., Eine erste Reibpartie. Betrachtungen zu einer Fotostrecke, aufgenommen am 14. März 1938, in: Der Standard, 10.03.2018, online unter: https://www.derstandard.at/story/2000075776312/ein-brief-ueber-den-anschluss-1938-und-dann-kam-er [22.04.2021]. Eine Ähnlichkeit zwischen den Gesichtern der Zuschauer und Zuschauerinnen auf den Fotos und in der Filmszene ist für mich nicht auszumachen. Außerdem sind in der Filmaufnahme im Hintergrund Bäume zu sehen, während auf keinem der Fotos ein Bewuchs zu erkennen ist. Ich muss Gerhard Paul an dieser Stelle widersprechen, wenn er argumentiert, dass die auf den Fotos abgebildete Straßenwaschaktion an der Ecke Novaragasse/Weintraubengasse auch im Film zu sehen sei.
[74] Vgl. Botz, Nationalsozialismus in Wien, S. 143.
[75] Vgl. Michael Wildt, Hitler’s Volksgemeinschaft and the Dynamics of Racial Exclusion. Violence against Jews in Provincial Germany, 1919-1939, Oxford/New York 2014, S. 281. Das nationalsozialistische Regime propagierte die Idee einer „Volksgemeinschaft“ auf Basis „rassenbiologischer“ Prämissen. Die Exklusion sogenannter Gemeinschaftsfremder, allen voran Juden und Jüdinnen, bildete ihre definitorische Grundlage. Historiker und Historikerinnen stimmen weitgehend überein, dass die „Volksgemeinschaft“, wie von den Nationalsozialisten beschworen, als nationale Einheit ohne Klassengegensätze so nicht existierte. Vgl. Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Soziale Praxis und Gewalt, in: Hans-Ulrich Thamer/Simone Erpel (Hg.), Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung der Stiftung Deutsches Historisches Museum, Berlin, 15. Oktober 2010 bis 6. Februar 2011, Dresden 2010, S. 90-93, hier S. 90.
[76] Vgl. Wildt, Hitler’s Volksgemeinschaft, S. 265f.
[77] Vgl. Conze/Prehn/Wildt, Repräsentationen von „Alltäglichem“, S. 291f.
[78] Vgl. Chalfen, Snapshot, S. 139-142; Pierre Bourdieu, Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede, in: Pierre Bourdieu u.a. (Hg.), Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie, Hamburg 2014 (französische Originalausgabe 1965), S. 25-84, hier S. 31.
[79] Dies galt auch für Deutschland, wie anhand zahlreicher Fotos von antisemitischen Übergriffen deutlich wird. Siehe dazu Kreutzmüller/Werner, Fixiert, S. 14-36 und Klaus Hesse/Philipp Springer, Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz (für die Stiftung Topographie des Terrors, Berlin, hg. von Reinhard Rürup), Essen 2002. Philipp Springer argumentiert, dass die hier publizierten Fotos häufig versteckt aufgenommen wurden. Vgl. Philipp Springer, Auf Straßen und Plätzen. Zur Fotogeschichte des nationalsozialistischen Deutschland, in: Hesse/Springer, Vor aller Augen, S. 11-33, hier S. 17. Ich komme allerdings zum gegenteiligen Schluss. Wie die Fotos vom „Anschluss“-Pogrom zeigt auch der Großteil der hier abgedruckten Aufnahmen, dass sich die Fotografen oftmals mitten im Geschehen befanden und nahe an Täter, Opfer, Zuschauer und Zuschauerinnen herantraten, die wiederum wissen mussten, dass sie fotografiert werden. Oft blicken sie direkt in die Kamera, was Springer an einer anderen Stelle des Textes auch festhält. Vgl. ebenda, S. 25.
Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers „Antisemitische Bilder – Herstellung, Gebrauch, Effekte“, hg. von Isabel Enzenbach
Themendossier: Antisemitische Bilder – Herstellung, Gebrauch, Effekte
Zitation
Michaela Scharf, Dokumentation und Demütigung. Judenverfolgung in Amateurfilmen aus dem nationalsozialistischen Wien 1938, in: Visual History, 26.04.2021, https://visual-history.de/2021/04/26/dokumentation-und-demuetigung-judenverfolgung-in-amateurfilmen-wien-1938/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2180
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