Urban Eyes

Deutschsprachige Fotograf:innen im New Yorker Exil in den 1930er und 1940er Jahren

New York: Faszinosum – Freiheit – Vielfältigkeit – Überwältigung – Chaos – Orientierungslosigkeit. So in etwa erging es in den 1930er und 1940er Jahren auch jenen deutschsprachigen Fotograf:innen, die sich nach der Passage in die Emigration auf den Straßen in der US-amerikanischen Metropole wiederfanden. Die Großstadt war einigen von ihnen durch Medien der Weimarer Republik bekannt. Ihre Ankunft fand jedoch nicht im Kontext einer Reise statt, in der Sightseeing an erster Stelle stand.

Collage von ineinander verschränkten Fotografien von Hochhäusern, einer Hochbahn, einer Straße

Fred Stein/Helene Roth, Coenties Slip, New York, 1946/2022. Collage © Fred Stein Archive/Helene Roth

Mit Machtantritt der Nationalsozialisten etablierte sich New York als Ankunftsstadt für deutschsprachige Kunstschaffende und Fotograf:innen, denen die Flucht aus Europa gelungen war. Aufgrund politischer, religiöser, sexueller oder künstlerischer Verfolgung hatten sie Deutschland verlassen müssen. Über mehrere Staatsgrenzen hinweg, über Zwischenstationen und Internierungslager gelangten sie mit unterschiedlichen Kenntnissen, Kameratypen, Ausbildungen und Emigrationsverläufen per Schiff zwischen 1933 und 1941 in die US-amerikanische Metropole. Zum einen waren sie bereits in Europa professionell als Fotograf:innen tätig gewesen. Zum anderen mussten sie während der Flucht oder nach ihrer Ankunft in New York ihre ursprünglichen Berufe aufgeben und erwarben sich autodidaktisch fotografische Kompetenzen. Sie kamen zu einer Zeit an, in der sich das fotografische Medium inmitten eines modernen Umbruchs zwischen Kunst, Technisierung und Institutionalisierung befand. Fotograf:innen, Galerien und Museen versuchten, die Fotografie als Kunstform zu etablieren. Printmedien bemühten sich um ihre gesellschaftliche Verankerung, und Fotofachmagazine ermöglichten autodidaktisches Erlernen.

Im Laufe mehrjähriger Recherchen in europäischen und US-amerikanischen Archiven und Privatnachlässen habe ich umfangreiches Forschungsmaterial zusammengetragen. Da es sich in meinem Projekt nicht um ein Einzelwerk, sondern um eine Vielzahl von Aufnahmen unterschiedlicher Fotograf:innen handelt, ergaben sich dabei diverse Herausforderungen. Aufgrund der Emigrationen sind Biografien und Werke nicht stringent, sondern lose und fragmentarisch überliefert. Viele Namen sind noch heute präsent, während andere bruchstückhaft erscheinen oder ganz in Vergessenheit gerieten.

Dies gilt auch für die Nachlässe der Künstler:innen, die sich heute über ganz Europa und die Vereinigten Staaten verstreut befinden. Oft sind sie untergliedert in die Zeit vor und nach dem Exil, bestehen aus unzusammenhängenden Archivalien oder waren bisher nicht auffindbar. Außerdem werden nicht alle Nachlässe von Institutionen betreut, sondern sind oft in Privatbesitz. Sie lassen sich nur mühsam eruieren, da sie in globalen Archivdatenbanken in der Regel nicht aufgelistet werden. Auch Namensänderungen im Exil erschweren das Auffinden von Nachlässen. Schließlich besteht das gesichtete Konvolut vorwiegend aus analogem Material und ist nur teilweise digitalisiert. Dies sind nur einige der Gründe, weshalb zahlreiche emigrierte Fotograf:innen bisher nur wenig sichtbar waren und im Kanon der Exil- und Fotografieforschung weitgehend unbeachtet blieben.

Regal mit Archivmaterial: Aktenkartons, Mappen, Papier, Broschüren

Fred Stein Archive 2019, Foto: Helene Roth ©

Ziel des Dissertationsprojekts ist es, das Untersuchungsmaterial unter Einbeziehung von Forschungsliteratur und -methoden in Verbindung zum urbanen Raum New Yorks, in dem emigrierte Fotograf:innen lebten und künstlerisch tätig waren, innovativ zu untersuchen. Wichtig war mir dabei, von den Forschungsobjekten auszugehen, und zwar nicht nur von Fotoabzügen, sondern auch die Rückseiten, Kontaktabzüge, unterschiedliches Quellenmaterial und den urbanen Raum New Yorks in meine Analysen miteinzubeziehen.

Urban Eyes möchte bisher unbeachtete Werke emigrierter Fotograf:innen aufarbeiten wie auch bereits bekannte Positionen um neue Lesarten ergänzen. Um die komplexen Zusammenhänge von Fotografie und Exil im Kontext der Metropole New York umfassend zu analysieren, verfolgt die Arbeit eine interdisziplinäre Ausrichtung auf Kunst- und Fotogeschichte, Geschichts- und Sozialwissenschaften sowie Exil-, Migrations- und Stadtforschung. Aus einer transnationalen Perspektive wird Bezug auf die soziokulturellen, historischen, urbanen, politischen sowie künstlerischen Entwicklungen während der 1930er und 1940er Jahre genommen.

Der zeitliche Rahmen ab 1933 bis in die 1940er Jahre umspannt die Periode des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit. Doch auch Rückblenden in die 1920er und Ausblicke in die 1950er Jahre sind notwendig. Denn zwischen Europa und New York bestand bereits während der Weimarer Republik ein reger transatlantischer Austausch. Die Nachkriegszeit ab 1945 muss im Zusammenhang mit dem darauffolgenden Jahrzehnt betrachtet werden, da es emigrierten Fotograf:innen nicht immer gelang, sich nach der Ankunft in New York schnell zu etablieren. Fehlende Netzwerke und Kontakte sowie die politischen und ökonomischen Bedingungen des Zweiten Weltkriegs bestimmten beziehungsweise verzögerten oft geplante Projekte.

Den konzeptuellen Rahmen der Arbeit bilden vier Hauptaspekte: Kreativität – Kontaktzonen – Netzwerke – Fotograf:innen als Akteur:innen. Statt einer Schicksals- und Verlustgeschichte adaptiert Urban Eyes das Konzept des Medienphilosophen, Kommunikationswissenschaftlers und Fototheoretikers Vilém Flusser, der 1984 in seinem Aufsatz „Exil und Kreativität“ für eine positive Bewertung des Exils plädierte.[1] Obgleich berufliche Niederlagen und Rückschläge nicht außer Acht gelassen werden dürfen, richtet sich der Fokus auf die kreativen Potenziale des Exils. Die Fotografie eröffnete neue Sichtweisen und ermöglichte es, erprobte Techniken auf das neue Umfeld anzupassen. Dabei sollte nicht nur berücksichtigt werden, dass die Akteur:innen schon vor ihrer Einreise nach New York über Wissen, Kenntnisse und Kontakte verfügten, sondern auch, welche fotografischen Entwicklungen sie bei der Ankunft in der Metropole vorfanden.

Um die Interaktionen exilierter Fotograf:innen und den transnationalen Austausch zu betonen, eignet sich der Transfer des in den 1990er Jahren in den Postcolonial Studies entwickelten Konzepts der „Contact Zones“ der Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt.[2] Sie verwendete das Konzept, um Prozesse der Transkulturalität zu beschreiben. In Bezug auf die Fotografie- und Exilforschung eröffnet es neuartige Perspektiven, denn die sozialen und urbanen Räume emigrierter Fotograf:innen lassen sich als Kontaktzonen verstehen, in denen verschiedene Kulturen, Traditionen, Sprachen sowie unterschiedliche künstlerische und fotografische Ästhetiken entstanden. Kontaktzonen sind im Exil interkulturelle Begegnungsorte, die institutionelle Räume wie Galerien, Museen, Universitäten oder Fotoagenturen, aber auch private Zusammenkünfte umfassen.

Die Anwendung der Netzwerkanalyse dient als Methode, um den transnationalen Austausch zwischen Fotograf:innen, Kunstschaffenden und Intellektuellen zu erforschen. Emigrierte Fotograf:innen erneuerten in New York bestehende Kontakte, ließen private Verbindungen aufleben und neue entstehen. Kooperationen, Auftraggeber, Neugründungen, Berufskontakte sowie private Freundschaften sind hierbei nur einige Aspekte, die darüber erörtert werden können. Als Quellen dienen neben schriftlichen Dokumenten auch Fotografien, die soziale Beziehungen, aber auch transnationale Zirkulation sichtbar machen.

Im Rahmen des ERC-Forschungsprojekts METROMOD wurden von mir Adressen und Informationen zu emigrierten Fotograf:innen, Objekten, Institutionen und Events in dem webbasierten Datenmanagement- und Netzwerkanalyse-Tool nodegoat verzeichnet.[3] Die über das METROMOD Archive frei zugänglichen 66 Einträge zu New York verorten Personen, Institutionen, Objekte und Events auf dem Stadtplan.[4] Das Mapping erlaubt es, Kontaktzonen und Netzwerke emigrierter Fotograf:innen in New York zu analysieren, wie z.B. die Konzentration von Fotoagenturen in Midtown Manhattan, Porträtstudios um den Central Park South, Galerien um die 57th Street oder Wohnadressen wie in der West 21st Street.

Schließlich führte ich in New York Feldforschungen durch, rekonstruierte historische Aufnahmen im urbanen Raum und fotografierte die Orte einstiger Wohn- und Arbeitsadressen emigrierter Fotograf:innen. Mit der Identifikation der historischen Aufnahmen im gegenwärtigen Stadtbild erfolgte eine urbane Kontextualisierung, wie für Fred Steins Serie aus seinem Apartmentfenster und am Coenties Slip sowie für die Aufnahmen Ellen Auerbachs auf der Brooklyn Bridge, unter der Hochbahn oder in der West 21st Street. Unter Bezugnahme auf die im METROMOD Archive eingetragenen Wohnadressen der Fotograf:innen konnte ich in einem weiteren Schritt herausfinden, ob die ersten Aufnahmen im privaten Umfeld entstanden waren.

Screenshot: Kacheln mit bibliografischen Einträgen mit Foto und Text

Übersicht der Einträge in New York im METROMOD Archive, verfasst von Helene Roth. Screenshot © METROMOD Archive, 2022, https://archive.metromod.net/viewer.p/69/2948/types/all/geo/ [15.06.2023]

Wissenschaftler:innen der Netzwerkforschung, der Visual History, der Exil- und Migrationsforschung sowie der Literatur- und Geisteswissenschaften richten ihre Perspektive auf soziale Akteur:innen und deren Beziehungen zueinander. Für eine Akteur:innen-Perspektive plädiert die Wissenschaftsphilosophin und Frauenforscherin Donna J. Haraway in ihrem 1988 erschienenen Artikel „Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective“.[5] Ihr Konzept des „situierten Wissens“ („Situated Knowledges“) ist auf emigrierte Fotograf:innen übertragbar, die ihr Wissen und ihre Expertise im New Yorker Exil nutzten, weitergaben und zugleich neues Wissen generierten.

Auch die gegenwärtige Migrationsforschung geht Forderungen nach, die spezifischen urbanen Fähigkeiten Emigrierter stärker hervorzuheben. In Analogie zum Postkolonialismus plädiert der Soziologe Erol Yildiz für das Konzept der „Postmigration“, um Migrationsprozesse aus der Perspektive von Akteur:innen zu betrachten und ihre Alltagskulturen zu berücksichtigen.[6] Um etwa Fotoserien über das Internierungslager Ellis Island, das deutschsprachige Viertel in Yorkville, Kontaktzonen von emigrierten und US-amerikanischen Kunstschaffenden sowie queere Netzwerke zu analysieren, eignet sich der Transfer von Yildiz‘ postmigrantischem Konzept. Der Fokus liegt auf den heterogenen soziokulturellen und künstlerischen Strategien Exilierter in den Städten und deren Adaption beziehungsweise Fortführung kultureller Infrastrukturen.

Auf der Basis dieses konzeptuellen methodischen Fundaments gliedert sich Urban Eyes in sechs Themenbereiche, die temporalen, geografischen, medialen, institutionellen, ökonomischen, künstlerischen sowie soziokulturellen Aspekten folgen. Im Fokus stehen hierbei folgende Fragestellungen: Führten die urbanen Strukturen der Metropole zu bestimmten fotografischen Ästhetiken und Blickwinkeln? Wie reflektierten Fotograf:innen mit der Kamera ihre jeweiligen Emigrationserfahrungen? In welchen Medien und Institutionen agierten sie im New Yorker Exil? Gelang es ihnen, sich eigene Karrieren aufzubauen? Waren diese von bestehenden Netzwerken abhängig? Und etablierten sich Orte in der Stadt als besondere Kontaktzonen? Können allgemeine Aussagen über die Funktionsweisen der Fotografie im Exil getroffen werden?

Ausgehend von fotografischen Beispielen untersuche ich unter dem Titel „Von Europa nach New York: Emigrationsrouten zwischen Abreise, Passage und Ankunft, wie emigrierte Fotograf:innen die Wegstrecken des Exils und die ersten Eindrücke in der Metropole aufnahmen. Zu klären gilt, an welchen (Transit)-Orten diese Aufnahmen entstanden und ob bestimmte Bildmotive diese begleiteten. Auch erscheint interessant, ob die ersten Fotografien in New York im direkten Wohnumfeld gefertigt wurden.

Ein wichtiger Aspekt des Projekts sind „Kamera-Akteur:innen in der Stadt: Urbane Praktiken im New Yorker Exil“, wobei ich hier untersuche, welche Positionen emigrierte Fotograf:innen als Agierende in der Stadt einnahmen. Hierbei wird von der These ausgegangen, dass die Exilsituation, unterschiedliche künstlerische Praktiken der Emigrierten und der Vorgang des Fotografierens in der Stadt in einem triangulären Ansatz miteinander in Beziehung stehen. Im Gehen, Fahren oder beim Blick aus dem privaten Apartmentfenster verorteten sie sich selbst mit unterschiedlichen Praktiken in die neuen städtischen Kontexte.

Buchdoppelseite, die zwei Hochhäuser aus verschiedenen Perspektiven zeigt.

Mario von Bucovich, Rockefeller Center, 1937. Doppelseite aus: ders., Manhattan Magic. A Collection of eighty-five Photographs, New York 1937, S. 56-57

Auch fertigten exilierte Fotograf:innen im Gehen durch die Stadt Aufnahmen, die sie anschließend mit einem textlichen Teil ergänzten und so im Medium des Fotobuchs ein spezifisches Narrativ über und von New York kreierten. Der Themenbereich „Erblätterte Fotografien: Das Medium des Fotobuchs und Fotoalbums im New Yorker Exil“ analysiert die ökonomischen Bedingungen der Fotobuchpublikation im Exil. Untersuchungsgegenstand sind erstmals Fotobücher, in denen emigrierte Fotograf:innen die Metropole entweder ganzheitlich oder anhand eines bestimmten Straßenzugs oder Milieus zum Thema wählten. Als Erweiterung zum Fotobuch ist die Form des Scrapbooks zu sehen. Hier experimentierten Fotografen wie Rudy Burckhardt in intermedialen Kooperationen mit Visualisierungen des New Yorker Stadtbilds. Auch diente dieses Medium dazu, die fotografischen Erfolge im Exil mittels Zeitungsartikeln, Rezensionen, veröffentlichten Aufnahmen, Ausstellungsbeteiligungen oder Reiserouten zu präsentieren.

Neben Fotobüchern werden im Kapitel „Business mit Bildern: Ökonomien des Fotografischen im Exil“ weitere Einkommensmöglichkeiten für emigrierte Fotograf:innen analysiert. Es gilt zu klären, ob Fotoagenturen, Ereignisse wie die Weltausstellung 1939, Museen oder eigene Studios Einkommensmöglichkeiten in New York boten. Die Methode des Mappings zeigt, dass sich Fotoagenturen vorwiegend in Midtown Manhattan konzentrierten, während selbstständige Fotografinnen mit Studios die Nähe zum Tanz- und Theaterbezirk, zu Galerien und Museen oder zum Central Park mit Zoo favorisierten.

Auch in Galerien oder Universitäten waren emigrierte Fotograf:innen tätig. Zudem verfassten sie Fachartikel für Fotomagazine und Ratgeber. Im Themenbereich „Foto-Expert:innen im Exil: Transkulturelle Fototheorien und -praktiken zwischen Austausch, Lehre und Vermittlung“ gehe ich der Frage nach, inwiefern die New School for Social Research, Galerien wie die Norlyst und Weyhe Gallery oder Medien die Fotograf:innen dabei unterstützten, ihre Theorie- und Praxiserfahrungen in einem transmedialen und -kulturellen Austausch öffentlich zu präsentieren und ihr situiertes Wissen im Exil weiterzuvermitteln.

Ausgehend von vier Mikroperspektiven analysiere ich im letzten Themenbereich Aufnahmen emigrierter Fotograf:innen, die alltägliche urbane Lebenswirklichkeiten zum Bildgegenstand wählten. An Orten wie Ellis Island, Yorkville, der West 21st Street und im Porträtstudio erwies sich die Fotografie als ideales Medium, um in den 1930er bis 1950er Jahren Themen wie Exil, Leben in deutschsprachigen Vierteln, interkulturelle und -mediale Kontaktzonen sowie queere Gemeinschaftsprojekte innovativ zu verhandeln. Durch neue Perspektiven mit der Kamera versuchten emigrierte Fotograf:innen, bestehende soziale Bedingungen, kulturelle Prägungen und heteronormative Grundsätze kreativ zu hinterfragen.

Vielfalt und Interdisziplinarität der sechs Themenbereiche offenbaren die heterogenen Handlungsweisen und Praktiken emigrierter Fotograf:innen in New York in den 1930er und 1940er Jahren. Die Fotografie nahm in New York ganz unterschiedliche Funktionsweisen ein. Als universales portables Medium dienten die letzten in Europa entstandenen Aufnahmen als Erinnerungsbewahrung, wohingegen die changierenden Bildmotive auf den Passagen die unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Übergänge spiegeln.

In New York nahm die Fotografie die Funktion eines Orientierungsmediums ein, mit dem die ersten Ansichten der Metropole visualisiert wurden. Des Weiteren generierten emigrierte Fotograf:innen mit unterschiedlichen Strategien wie dem Gehen, horizontalen und vertikalen Fahren wie auch beim Blick aus dem Fenster unterschiedliche Ansichten. Auch in Medien wie Fotobüchern griffen sie diese Praktiken auf und entwickelten ein spezifisches Text-Bild-Narrativ. Zahlreiche Fotobücher entstanden über Netzwerke und durch Kontakte zu Exilverlagen. Als ökonomische und transnationale Zirkulationsobjekte verdeutlichen sie die Selbstrepräsentation und Vermarktung in der Emigration, jedoch auch die Abhängigkeit von Verflechtungen und Medienunternehmen.

Das Business mit Bildern bot Exilierten in New York diverse Möglichkeiten zur Sicherung des Lebensunterhalts, wie als Gründer:innen von Fotoagenturen oder -dienstleistern, bei Großveranstaltungen wie der New Yorker Weltausstellung 1939, bei Museen wie dem Museum of Modern Art, durch Lehrtätigkeit an der New School for Social Research, durch Verfassen von Fachartikeln, über Ausstellungen in Galerien oder als selbstständige Unternehmer:innen. Die Metropole förderte einerseits diversifizierte Erwerbstätigkeiten im Exil, andererseits sind mehrfache Beschäftigungsverhältnisse emigrierter Fotograf:innen auch ein Beleg, dass ein einzelner Job meist nicht ausreichte. Um den Lebensunterhalt zu sichern und sich von der Konkurrenz abzuheben, mussten sie flexibel auf Angebot und Nachfrage reagieren und mit Bildmotiven oder Geschäftsideen ein Alleinstellungsmerkmal entwickeln.

Ausstellungen in Galerien, Lehrtätigkeiten an Universitäten, Publikationen von Fotofachartikeln und Ratgebern machen deutlich, dass emigrierte Fotograf:innen in New York auf vielfältige Weise als Expert:innen agierten, fotografische Anwendungsbereiche und Theorien öffentlich verbreiteten. Die Vermittlung fachlicher Expertise förderte ihre Selbstrepräsentation und eigene Reputation. Sie setzten ihr situiertes Wissen ein, um die Fotografie nicht nur als universales portables, sondern auch als autodidaktisches Medium zu etablieren und über Druckwerke zu verbreiten.

Aufnahmen emigrierter Fotograf:innen von Orten wie Ellis Island, Yorkville, der West 21st Street und im Porträtstudio zeigen auf, dass damit Themen wie die eigene Exilerfahrung, das interkulturelle alltägliche Leben, intermediale Kontaktzonen sowie queere Gemeinschaftsprojekte verhandelt wurden. Sie bildeten Kontaktzonen ab, die in den 1940er Jahren im Privaten oder auf den Straßen entstanden – und sind Zeugnisse eines intensiven intermedialen Austauschs zwischen emigrierten und US-amerikanischen Kunstschaffenden.

Die von queeren Fotograf:innen im Studio gefertigten Porträts spiegeln außerdem das Changieren zwischen privater und öffentlicher Inszenierung sowie die parallel gelebten Identitäten im Exil. Sie belegen, wie exilierte queere Fotograf:innen mit Fotokompositionen und Stillleben neue Körper- und Rollenbilder entwickelten. Obwohl New York in den 1940er Jahren als eine durch Diversität und Toleranz geprägte Stadt galt, führen diese Aufnahmen doch vor Augen, dass sich sexuelle Identitäten und surreale Welten ausschließlich im geschützten Kontext entfalten konnten.

Ziel meiner Studie ist es, die kreativen Leistungen, Kontaktzonen und Netzwerke sowie die vielfältigen heterogenen Perspektiven emigrierter Fotograf:innen im urbanen New Yorker Raum näher in den Blick zu nehmen. Mit dieser multiperspektivischen Ausrichtung leistet Urban Eyes einen Beitrag zur Fotografie-, Exil- und Stadtforschung. Die Arbeit möchte (Nachwuchs-)Forscher:innen ermutigen, weitere bisher unbeachtete Werke exilierter Fotograf:innen in zukünftigen Forschungen aus einem neuen Blickwickel sichtbar zu machen.

 

Das an der LMU München durchgeführte Dissertationsprojekt entstand im Rahmen des vom European Research Council geförderten Projekts „Relocating Modernism. Global Metropolises, Modern Art and Exile“ (METROMOD, Leitung Prof. Dr. Burcu Dogramaci, 2017-2023 https://metromod.net) und mit Förderung des Evangelischen Studienwerks.

https://metromod.net/

Die in der Arbeit behandelten exilierten Fotograf:innen, Institutionen, Events und Objekte sind mit Text- und Bildbeiträgen im digitalen METROMOD Archive auf einem New Yorker Stadtplan verortet.

https://archive.metromod.net/viewer.p/69/2948/types/all/geo/

 

 

[1] Vgl. Vilém Flusser, Exil und Kreativität, in: Spuren. Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft 1984/85, Nr. 7, S. 5-9.

[2] Vgl. Mary Louise Pratt, Arts of the Contact Zone, in: Profession 91 (1991), S. 33-40.

[3] METROMOD ist ein vom European Research Council gefördertes Projekt: „Relocating Modernism. Global Metropolises, Modern Art and Exile“, Leitung Prof. Dr. Burcu Dogramaci, https://metromod.net [15.06.2023]. Das Webdesign des METROMOD Archive stammt von Jamal Buscher vom Büro Johannes Erler. Zu nodegoat vgl. https://nodegoat.net/ [15.06.2023].

[4] Vgl. METROMOD Archive, New York, https://archive.metromod.net/viewer.p/69/2948/types/all/geo/ [15.06.2023].

[5] Vgl. Donna Haraway, Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive, in: dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hg. von Carmen Hammer und Immanuel Stieß, Frankfurt a.M. 1995, S. 73-97.

[6] Vgl. u.a. Erol Yildiz, Postmigrantische Perspektiven. Aufbruch in eine neue Geschichtlichkeit, in: ders./Marc Hill (Hg.), Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft (Kultur & Konflikt, Bd. 6), Bielefeld 2014, S. 19-36, online unter https://www.transcript-verlag.de/media/pdf/b4/78/b8/oa9783839425046.pdf [15.06.2023]  

 

Zitation


Helene Roth, Urban Eyes. Deutschsprachige Fotograf:innen im New Yorker Exil in den 1930er und 1940er Jahren, in: Visual History, 26.06.2023, https://visual-history.de/project/roth-urban-eyes/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2726
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