Geschichtsbilder in der Gegenwartskunst

Künstlerische Strategien zur Befragung von Geschichtsbildern seit den 1990er Jahren

In dem Forschungsprojekt „Künstlerische Strategien zur Befragung von Geschichtsbildern seit den 1990er Jahren“ geht es um den Erkenntnisbereich der Geschichte in der Kunst nach dem Ende des Kalten Kriegs. Es knüpft damit an die Tradition des Historienbildes an, das im 20. Jahrhundert seinen Niedergang erfuhr. Doch nach seinem Ende beschäftigen sich Künstler*innen in ihren Arbeiten weiterhin mit geschichtlichen Ereignissen aus Vergangenheit und Gegenwart – das Historienbild ist von noch genauer zu definierenden Geschichtsbildern abgelöst worden.

Im Forschungsprojekt geht es einerseits darum zu zeigen, wie sich diese vormals stark ideologisch geprägte Gattung vor dem Hintergrund der Zeitenwende seit den 1990er Jahren und im Zuge zeitgeschichtlicher, bild- und geschichtswissenschaftlicher Veränderungen und unter Erweiterung verschiedener künstlerischer Medien transformiert. Welche intermedialen Beziehungen Künstler*innen dabei in ihren Arbeiten nutzen, ist andererseits mit der Frage nach den historischen Ereignissen verknüpft, die ihnen konstruktiv zugrunde liegen, und zieht weitere Fragen nach sich, wie jene nach der Konzeption des Geschichtsbildes als Denkfigur für Vorstellungen und Deutungen der Vergangenheit, für die Erinnerungskulturen einer Gesellschaft und deren mediale Repräsentationen.

Historische Ereignisse wie beispielsweise der Berliner Mauerfall oder Geschehnisse im Kontext der Black Lives Matter-Bewegung (s. Abb.) werden derart häufig fotografiert und gefilmt, dass von einer „Tele-Revolution“ die Rede sein kann – eine Begriffsbildung, die eine mediale Ko-Produziertheit der Ereignisse impliziert. Diese Beobachtung zeigt, dass die mediale Präsenz von Bildern bedeutsamer sein kann als das Ereignis und eine reflexive Distanz zum Ereignis abhandenkommen kann. Als sogenanntes Bild-Ereignis vermag das Kunstwerk genau wie das mediale Bild in die Gegenwart einzugreifen; es wird ihm sogar zugetraut, auf die Geschichte des Ereignisses reziprok wirken zu können.

Black Lives Matter-Protest in Bristol. Das Denkmal des Sklavenhändlers Edward Colston wird in den Fluss Avon geworfen, Bristol, Großbritannien, 7. Juni 2020, Foto: Giulia Spadafora / NurPhoto via Getty Images @ mit freundlicher Genehmigung

Zur Erforschung des breiten Spektrums von Geschichtsbildern in der Gegenwartskunst gliedert sich das Projekt in vier Themenfelder: Archivalische Praktiken, Chronopolitische Ansätze, Narrative Strukturen, Transgenerationale Erinnerung.

 

Archivalische Praktiken

Im Rahmen des Themenfelds „Archivalische Praktiken“ werden künstlerische Arbeitsweisen erforscht, die dem Archiv als einem Ort verloren gegangener oder verdrängter historischer Informationen zu neuer Sichtbarkeit und physischer Präsenz verhelfen. Sie setzen sich mit Strukturierungsprozessen von Archiven auseinander und legen einen Schwerpunkt auf verdrängte und ungeteilte Erfahrungen, sogenannte Gegenerinnerungen (counter-memories).

Seit den 2010er Jahren kursiert hierfür in der Kunst- und Kulturtheorie zudem der Terminus des „diffizilen Wissens“ (difficult knowledge), der auf unzureichende, abwesende und fragwürdige Repräsentationen von vergangenen Ereignissen in Archiven verweist. Mittels dieser archivalischen Praktiken in der Kunst können vergessene oder weniger beachtete Ereignisse nachträglich anerkannt werden.

Forschungsfragen sind: Welche Archive werden von Künstler*innen in ihren Arbeiten thematisiert? Nach welchen Kriterien konstruieren Künstler*innen selbst archivalische Strukturen? Wie inkludieren sie diffiziles Wissen und strukturelle Abwesenheiten in ihren Arbeiten?

 

Chronopolitische Ansätze

Diese thematisieren einen veränderten Umgang mit Strukturierungen von Zeit und finden sich sowohl in kunsthistorischen Diskursen als auch in gegenwärtigen künstlerischen Formen historischer Geschlossenheit und Evidenz, und sie exemplifizieren zeitliche Verläufe mittels nicht-linearer Strategien der Wiederholung, Verschiebung, Dekonstruktion und Übersetzung von Zeit. Insbesondere künstlerische Rekonstruktionen geschichtlicher Ereignisse, die sogenannten Reenactments, führen zu einer spannungsvollen Überlagerung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, durch die sich bisherige geschichtsbildliche Perspektiven potenziell neu formieren können.

Grundlegend für den chronopolitischen Impuls in der Kunst ist die Frage danach, wessen Geschichte vergessen und wessen Historie erinnert wird. Das Forschungsprojekt greift zeitbezogene Strategien in der Kunst auf, indem es nach dem „Möglichkeitssinn“ der Geschichte fragt, also danach, welche Bedeutung der Kunst bei der Balance im Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit hin zu einer „alternativen Gegenwart“ zukommt.

Vor diesem Hintergrund wird gefragt, wie aktuelle und historische Ereignisse durch ihre Verzahnung neue Betrachtungsformen von Geschichte zeitigen: Welche „alternative Gegenwart“ kommt anhand eines zeitbasierten künstlerischen Experiments zum Vorschein? Inwieweit vermögen chronopolitische Ansätze in der Kunst lineare Zeitkonzeptionen und hegemoniale Geschichtsbilder kritisch zu befragen?

 

Narrative Strukturen

Zwar ist seit den 1990er Jahren vermehrt die Rede von Erzählstrukturen und narrativen Dimensionen in der Kunst, jedoch werden diese meist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur erkannt, ohne sie differenzierter und tiefgehender zu erforschen. Es existieren kaum erzähltheoretisch beeinflusste, kunsthistorische Analysen zeitgenössischer erzählender Kunstwerke, hingegen aber eine Reihe von Einzelanalysen über die Kunst bis zum 19. Jahrhundert. Für eine Untersuchung künstlerisch-historiografischer Erzählstrategien ist es daher unabdingbar, den Erzählbegriff und die damit zusammenhängende Terminologie zu klären und für dieses Forschungsprojekt festzulegen.

Als einer der Wegbereiter für die Betrachtung narrativer Strukturen in der Kunst gilt der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp und sein rezeptionsästhetischer Ansatz. Die Erzählmöglichkeiten bewegter und unbewegter Bilder werden auch von der Literaturwissenschaftlerin Marie-Laure Ryan ausgelotet, die Phänomene miteinbezieht, die üblicherweise (noch) nicht als narrativ gelten.

Die erwähnten Ansätze aus der neueren Kunstgeschichte, Literatur- und Erzähltheorie werden um zielführende Fragen pointiert: Was kann in der Kunst narrativ genannt werden? Was konstituiert die sogenannten Narreme? Wie lässt sich mittels einer narratologisch ausgerichteten Untersuchung ein Anschluss der neueren Kunstgeschichte an die Narratologie herstellen und eine konzise Definition des narratologischen Vokabulars leisten?

 

Transgenerationale Erinnerung

Seit das Konzept der „Postmemory“ (postmémoire) der Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch für die Übertragung von traumatischen Erinnerungen an Nachfolgegenerationen Verbreitung fand, sind generationale Selbstverständnisse nicht zuletzt auch von inter- und transgenerationalen Übertragungen mitgeprägt. Im Kontext des Themenfelds „Transgenerationale Erinnerungen“ soll das Konzept der „Postmemory“ aus dem Holocaust- und familiär verfassten Kontext gelöst und mit der größten Herausforderung gegenwärtiger Gedächtnisforschung verknüpft werden: der verstärkt kosmopolitischen, aber auch selektiven Erinnerung an den Kalten Krieg, die sich zunehmend intermedial und in digitalen Genres manifestiert.

Fragen, die im Zusammenhang künstlerisch-historiografischer Praktiken relevant werden, sind: Wie lässt sich der Zusammenhang zwischen hegemonialen Geschichtsbildern und künstlerischen Arbeiten beschreiben, die „alternative Gegenwarten“ aufzeigen? Was passiert, wenn Geschichten performativ und im Sinne einer „digitalen Erinnerung“ inszeniert statt rekonstruiert werden? Auf welche Weise bilden sich transgenerationale Dialoge in der konzeptuellen Struktur historiografischer Arbeiten ab?

Zusammengefasst verfolgt das Forschungsprojekt drei Ziele: Zum Ersten sollen ausgewählte künstlerische Bilder – worunter verschiedene visuelle Erzeugnisse verstanden werden wie Filme, aber auch transmediale installative Settings –, Strategien und Methoden im Umgang mit Geschichte in den 1990er bis 2010er Jahren in ihrer Differenzierung nach festgelegten Kategorien analysiert werden. Das zweite Ziel besteht in einer Erweiterung des geschichtsreflexiven Diskurses in der Kunstgeschichte unter Berücksichtigung transmoderner Bildkulturen. Drittens ist schließlich eine Re-Vision der Thematik um Kunst und Geschichte beabsichtigt, indem die Perspektive von Historiker*innen auf die künstlerischen Befragungen von Geschichte und deren Diskurs im Rahmen themengebundener und moderierter Workshops einbezogen wird.

 

 

Zitation


Melanie Franke, Geschichtsbilder in der Gegenwartskunst. Künstlerische Strategien zur Befragung von Geschichtsbildern seit den 1990er Jahren, in: Visual History, 07.10.2020, https://visual-history.de/project/geschichtsbilder-in-der-gegenwartskunst/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2737
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